Was passiert eigentlich in Nicaragua?

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Politik

Veranstaltungsdaten

Datum
6. 12. 2018
Veranstalter
International Institute for Peace, Vienna (www.iipvienna.com)
Ort
IIP Wien
Veranstaltungsart
Podiumsdiskussion
Teilnehmer
Laurin Blecha, Historiker, Universität Wien
Angel Medrano, Aktivist und Oppositionspolitiker aus Nicaragua
Teresa Gruber, Verein SOS-Nicaragua Austria
Leo Gabriel, Österreichischer Journalist und ehem. Korrespondent in Nicaragua
Marlene Prinz, IIP, Moderation

Im April 2018 gingen verstörende Bilder durch die Medien der Welt: In Nicaragua wurden regierungskritische Proteste gewaltsam niedergeschlagen, es gab Hunderte Todesopfer. Was passiert eigentlich in dem kleinen mittelamerikanischen Land, wie konnte es zu diesem Gewaltausbruch kommen? Eine Podiumsdiskussion in Wien suchte nach Antworten.

In der jüngeren Geschichte Nicaraguas ist vor allem eine Person bedeutend: Daniel Ortega, Anführer und Galionsfigur der Revolution von 1979, die die jahrzehntelange Diktatur der Somoza-Familie beendete. Ortega war von 1984 bis 1990 Staatspräsident, 2006 wurde er erneut ins höchste Amt Nicaraguas gewählt und konnte sich seitdem bei allen Wahlen durchsetzen. Kritiker werfen ihm vor, in seiner zweiten Amtsperiode eine Diktatur etabliert zu haben.

Im April 2018 eskalierte die Lage in Nicaragua: Nachdem die Regierung eine umfassende Reformierung des Sozialversicherungssystems beschlossen hatte, brachen landesweit Proteste aus, die monatelang anhielten und von Polizeikräften immer wieder gewaltsam niedergeschlagen wurden. Angaben über die Opferzahlen schwanken: Die Regierung spricht von 220 Getöteten, Oppositionelle und Menschenrechtsorganisationen gehen von 400-500 Todesopfern aus. Außerdem seien mehrere hundert Oppositionelle inhaftiert worden.

Die österreichische Historiker Laurin Blecha eröffnete die Diskussion mit einem Exkurs in die jüngere Geschichte Nicaraguas. „Die Basis für das, was wir heute erleben, wurde in den Neunzigern gelegt„, so Blecha in Bezug auf die Wahlen von 1990, bei denen Ortega überraschend abgewählt wurde. Ortega sei weder ein Sozialist noch ein Pragmatiker, so Blecha, doch „derzeit klammert er sich definitiv an die Macht„. Zugute komme ihm dabei die Legitimation, die ihm die Revolution von 1979 bis heute verleihe.

Ortega benutzt die Revolution von 1979 als Schutzschild,

meinte auch der nicaraguanische Politiker Angel Medrano, Mitbegründer der Oppositionspartei Ciudadanos po la Libertad (CxL). Er ist der Ansicht, dass die Regierung Ortegas derzeit in jedem Fall als Diktatur bezeichnet werden müsse. Dies sei aber nicht erst mit der Niederschlagung der Proteste seit April 2018 klar geworden. Die Sozialversicherungsreform sei lediglich der Auslöser der Proteste gewesen; zu Anfang hätten die Demonstranten vor allem die Rücknahme dieser Reform gefordert, doch ihre Forderungen hätten sich rasch ausgeweitet auf allgemeinere Dinge wie Freiheit, Demokratie und freie Wahlen.

Manche Leute bezeichnen die aktuellen Vorgänge als neue Revolution.

Zur Niederschlagung der Proteste seien zunächst nur Wasserwerfer und Tränengas eingesetzt worden, kurz darauf kam der erste Schusswaffeneinsatz. Dabei seien Menschen gezielt erschossen worden, so der Oppositionelle: „Das müssen trainierte Scharfschützen gewesen sein.“ Auffällig sei, so Medrano, dass  Schusswaffen zum Einsatz gekommen seien, die eigentlich nur von der Armee benutzt würden und nicht von der Polizei. Seine Erklärung:

Bei der Niederschlagung der Proteste habe die Polizei eng mit paramilitärischen Kräften zusammengearbeitet, die Ortega in den letzten Jahren  aufgebaut habe. Seit April habe Ortega alle oppositionellen politischen Führer, die noch in Nicaragua waren, verhaften lassen und den Druck auf die freie Presse erhöht. „Ortega is willing to destroy Nicaragua„, so der Vorwurf des jungen Politikers.

Der österreichische Journalist Leo Gabriel, der jahrzehntelang als Auslandskorrespondent in Nicaragua lebte, wies darauf hin, dass Ortega innerhalb der Bevölkerung noch immer bedeutenden Rückhalt genieße:

Ich will nicht sagen, dass es die Mehrheit der Bevölkerung ist, die Ortega noch immer unterstützt, aber es ist sicherlich immer noch ein großer Anteil.

Das Land sei in zwei Hälften gespalten, „der Schnitt geht durch fast jede Familie. Ideologie spielt eine große Rolle bei der ganzen Sache.“ Gabriel versuchte, die Motivation Ortegas zu erklären: Dieser habe Angst davor, ein ähnliches Schicksal zu erleiden wie Nicolae Ceaușescu oder Muammar al-Gaddafi, die beide kurz nach ihrem Sturz ermordet wurden. Er habe Ortega selbst einmal getroffen, erzählte Gabriel, und dabei den Eindruck gehabt, dass dieser völlig isoliert sei. Der Journalist zeichnete das Bild eines paranoiden Diktators, der noch immer in der postrevolutionären Zeit der Achtzigerjahre lebe.

Teresa Gruber vom Verein SOS-Nicaragua Austria betonte in ihrem Diskussionsbeitrag, dass es zahlreiche Belege für Menschenrechtsverletzungen durch die Ortega-Regierung gebe, unter anderem von Amnesty International.

Wir sprechen hier über eine systematische Unterdrückung von Protesten.

Dies habe jedoch nicht erst im April 2018 begonnen, vielmehr habe bereits lange zuvor eine „Erosion der Menschenrechte“ in Nicaragua stattgefunden. Mit den Informationen der Menschenrechtsorganisationen über diese Vorgänge könne Druck auf internationale Regierungen ausgeübt werden, die ihrerseits Maßnahmen ergreifen sollten:

Wir müssen die internationale Gemeinschaft zwingen, über unverbindliche Resolutionen hinauszugehen, um Ortega zum Verlassen seiner Komfortzone zu zwingen.

Angel Medrano sprach ein weiteres Problem an: Er ist sicher, dass Nicaragua in Folge der jüngsten Konflikte auf eine schwere Wirtschaftskrise zusteuere. Dies werde eine Migrationskrise auslösen, die vor allem die Nachbarstaaten wie etwa Costa Rica betreffen werde. Die Situation könne jederzeit eskalieren, so seine pessimistische Einschätzung: „Wir sind am Rand eines Bürgerkriegs in Nicaragua.“ Es könne aber keine Lösung der ökonomischen Probleme ohne eine politische Lösung geben. Er sprach sich für internationale Wirtschaftssanktionen aus:

Wir müssen eher die Wirtschaft opfern als unsere Leute.

Laurin Blecha wies darauf hin, dass der Konflikt teilweise sehr emotional aufgeladen sei.

Ich stimme der Forderung zu, dass Ortega weg muss. Doch was passiert danach?

Das sandinistische System wäre auch nach einem Rücktritt Ortegas noch vorhanden. „Ich bezweifle, dass nach Ortega die Demokratie kommt„, dazu habe es in diesem Land bereits zu viel Gewalt und Repression gegeben.

Es ist eine schwere Aufgabe, eine Demokratie aufzubauen, wenn es so viel Hass gegen den Staat gibt.

Ist Daniel Ortega ein Diktator? Die Beiträge der vier Diskussionsteilnehmer ließen keinen Zweifel daran, dass diese Aussage gerechtfertigt ist. Ihre Ansichten lieferten interessante Einschätzungen, wie es dazu kommen konnte und wie die Krise gelöst werden könnte.

Credits

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00_Titelbild_Nicaragua 00_Titelbild_Nicaragua Martin Krake CC BY-SA 4.0

Diskussion (Ein Kommentar)

  1. Ortega Diktator ? Diese Beschuldigung ist neuzeitlich sehr bekannt. Al Assad,Gasafi sind diktatoren.Nach amerikanischer Auffassung sollten sie mit I.S ersetzt werden. Für Nicaragua ist sicher auch I.S ähnliche Demokraten in Aussicht gestellt.Parteien Demokratie für ein Ruckständiges Land ist Gift