Der Barbar in uns

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Meinung

Immer wieder liest man Nachrichten von unfassbaren Gewalttaten, von gefühlskalten und gewissenlosen Mördern oder gar Triebtätern mit so grauenhaften Vorlieben, dass noch Generationen später von ihren Untaten geredet wird. Zahllose Bücher und Filme laden in das finstere Reich ihrer Psyche ein, und doch bleibt sie den meisten von uns – glücklicherweise – ein Mysterium. Tatsächlich geht (sofern keine organische Störung im Gehirn vorliegt) all ihren schrecklichen Verbrechen ein langer Weg der Entmenschlichung voran …

Vom Opfer zum Täter

Auch und gerade sexueller Missbrauch bis hin zum Mord geschieht nicht aus dem Nichts heraus, sondern wird oft von Menschen begangen, die selbst Opfer gewesen sind. Ihre eigenen Kindheitserlebnisse haben sie buchstäblich zerstört, bis sie, vollkommen von sich selbst getrennt, die Perspektive des Täters einnahmen. Wie können wir diese korrumpierten Seelen handhaben? Können wir als Gesellschaft jegliche Verantwortung dafür von uns weisen, sie als Kinder ihrem Schicksal überlassen zu haben, anstatt sie zu beschützen?

Kann andererseits das Recht dieser Menschen auf Resozialisierung, Heilung, Entfaltung und Teilnahme am Gesellschaftsleben jemals wichtiger sein als die künftige Sicherheit ihrer potenziellen Opfer? Kann es überhaupt echte Heilung für sie geben, und wenn ja, wie viel an Ressourcen sollen dafür zur Verfügung gestellt werden? Und, praktischer gefragt, wie soll man verlässlich erkennen können, ob therapeutische Maßnahmen gegriffen haben, oder ob der Patient seine Begutachter nur geschickt manipuliert hat?

Zumindest zum derzeitigen Stand des neurologischen und psychiatrischen Könnens gibt es Fälle, wo Therapie schlichtweg nicht möglich ist. Was also tun mit jenen Menschen, deren Geisteszustand andere nicht ohne Grund mit Ekel, Angst und Entsetzen erfüllt?

Das Fehlen von Empathie

Nicht nur ehemalige Opfer von Verbrechen vergehen sich an ihren Mitmenschen – auch Psychopathen, die aus schierer Neugier, Machtgefühlen oder Kalkül stehlen, betrügen, vergewaltigen oder töten, bevölkern die Gefängnisse.

Das größte Hindernis im Versuch, einen Psychopathen, Soziopathen oder Narzissten zu heilen, ist indessen seine (oder ihre) Weigerung, überhaupt einen Fehler an sich zu sehen.

Der Barbar in uns

An dieser Stelle der Gedankenkette ist der unselige Rachegedanke mit aller Deutlichkeit spürbar – jedes Haar sträubt sich bei der Idee, einem sadistischen Raubtier gegenüber Milde walten zu lassen. Doch wenn es um das Rechtssystem geht, tun wir wahrhaftig gut daran, solches Lynchmob-Denken beiseite zu stellen.

So logisch es sich auch anhören mag, dass besonders harte Strafen besonders abschrecken müssten, so zeigt sich in der Geschichte der Menschheit, dass dies nicht der Fall ist. Wo Folter, Verstümmelung und Tötung Teil des Rechtssystems sind, hält nicht Friede, sondern Beliebigkeit Einzug. Wenn Delikt und Strafe obendrein in einem Missverhältnis stehen, nimmt die Sorgfalt und Umsicht im Verhängen dieser Urteile keineswegs zu, sie werden einfach nur zum Alltag.

Der grundsätzliche Ansatz muss daher immer sein, Menschen, soweit irgend möglich, zu helfen, ohne aber Unschuldige zu gefährden. Nicht um ihretwillen – und hier liegt ein großes Missverständnis zwischen Hardlinern und Humanisten: Kaum jemand ist so naiv, selbst im brutalsten Verbrecher noch eine lediglich missverstandene kuschelweiche Seite zu sehen.

Nein, Menschlichkeit an ihnen walten zu lassen, dient nicht in erster Linie der Bequemlichkeit der Täter, sondern dazu, uns selbst nicht zu vergiften. Handeln wir aufgrund eines emotionalen Impulses grausam, dann folgen wir schließlich genau dem gleichen Credo wie die Verbrecher, die wir bestrafen wollen.

Wollen wir zivilisiert und menschlich bleiben, dann müssen wir aus der Sicherheit heraus, dass diese Menschen in einer Anstalt welcher Art auch immer keine Gefahr mehr für andere darstellen, handeln und sie so gut behandeln, wie es möglich ist, ohne sich selbst dabei zu gefährden.

Todesstrafe

Gewaltfantasien darüber, was „man“ mit bestimmten Verbrechern tun sollte, kommen vielen von uns leicht über die Lippen. Wie schon erwähnt, ist es von elementarer Wichtigkeit, dass man hier zwei Dinge grundsätzlich unterscheidet: Was wir brutalen, grausamen und sadistischen Menschen persönlich wünschen und reflexartig antun wollen, und was für die Gesellschaft gut und heilsam ist.

Es mag Menschen geben, die tausend Tode verdienen oder auch nicht (denn wer sind wir, um eine philosophisch so unklare Frage für andere zu entscheiden?) – aber, und das ist der Punkt: Wir dürfen uns in keinem Falle herausnehmen, diese Strafe auszuführen, sonst öffnen wir einem schrecklichen Geist Tür und Tor. Wollen wir wirklich, dass ein so von Fehlentscheidungen, Korruption und Inkompetenz gerütteltes Rechtsgebilde, wie es Regierungen traditionell sind, das Recht haben soll, uns zu entleiben?

Wenn die Tötung eines Menschen ein schweres Verbrechen ist, nach welcher Logik kann es dann plötzlich rechtens sein, nur weil es von einem Gremium beschlossen und in unser aller Namen durchgeführt wird? Selbst wenn das Unrecht, auf nicht ganz nachvollziehbare Weise, zur moralisch vertretbaren Handlung werden könnte – wie sieht die Sache aus, wenn ein Unschuldiger verurteilt würde? Spätestens da würde das philosophische Konstrukt zusammenbrechen.

Auch die Versuchung ist ein Faktor, den man nicht übersehen darf: Was ist mit der Möglichkeit, Beweise zu fälschen, um unliebsame Gegner oder Mitwisser loszuwerden – und zwar umso müheloser, je besser man selbst in Exekutiv- und Justizkreisen vernetzt ist? Im Übrigen zeigt sich am Beispiel der USA, dass auffallend oft mittellose Menschen hingerichtet werden, während wohlhabende und vernetzte Bürger sich fast immer erfolgreich herauswinden.

Letzten Endes sind alle Argumente für die Notwendigkeit der Todesstrafe nichts anderes als keiner Überprüfung standhaltende Intellektualisierungen des immer gleichen Prinzips: starke negative Gefühle, denen wir kopflos folgen wollen.

Die Familien der Opfer, so wird argumentiert, brauchen einen Abschluss, die Erleichterung, dass das Verbrechen gesühnt sei. Zum einen haben wir kein Recht, für diese zu sprechen und ihr Leid zu instrumentalisieren. Zum anderen erweist sich der Glaube, dass das Miterleben einer Exekution den Hinterbliebenen Erleichterung bringe, oft als brutaler Irrtum, der noch mehr Schmerz bringt.

Selbst das wirklich zynische Argument, dass es die Allgemeinheit zu viel Geld koste, die Verbrecher ein Leben lang zu verköstigen, entspricht den Tatsachen nicht, weil im Vergleich dazu eine Exekution erstaunlich hohe Kosten verursacht. Dies jedoch nur am Rande, denn selbst wenn der Erhalt eines Gefangenen mehr als dessen Ermordung kostet, ist dies der Preis, den man dafür zahlt, als Gesellschaft nicht der Barbarei zu verfallen – und dafür, selbst davor sicher zu sein, jemals durch die Justiz zu Tode zu kommen, nur weil man sich den falschen Menschen zum Feind gemacht hat oder zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen ist.

So oder so: Wir müssen lernen, auf das Beste in uns zu hören – und die Stimme, die nach Rache schreit, ist nicht Teil davon.

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Römer_vs._Barbaren Römer_vs._Barbaren Thomas Quine CC BY 2.0