Die humanitäre Intervention und ihre Politik

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Meinung

Die humanitäre Intervention laut Völkerrecht beruft sich auf die Androhung oder Anwendung von Gewalt durch den Staat, durch eine Gruppe von Staaten oder durch eine internationale Organisation. Sie dient in erster Linie dazu, die Bürger eines bestimmten Staates vor weit verbreiteten Entbehrungen der international anerkannten Menschenrechte, einschließlich Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, zu schützen.

Der Begriff „humanitäre Intervention“ wurde 1880 von William Edward Hall, einem britischen Juristen, geprägt. Andere Bezeichnungen wie „Intervention im allgemeinen Interesse der Menschheit“ oder „Intervention für die Menschheit“, die dem französischen Begriff „intervention d’humanite“ oder „Intervention auf dem Boden der Menschheit“, „Intervention im Namen der Interessen der Menschheit“ ähnlich sind, haben die gleiche Bedeutung. Heraklide und Dialla erfassten vier Komponenten, nämlich Menschlichkeit, Unparteilichkeit, Unabhängigkeit und Neutralität für menschliches Handeln, die allgemein als humanitäre Prinzipien bezeichnet werden.

Die Generalversammlung der Vereinten Nationen (UNO) übernahm diese Grundsätze auch als die wichtigste Leitlinie für internationale humanitäre Maßnahmen im Rahmen der UNO. Der Leitsatz „Prinzipien, die das humanitäre Handeln leiten“ wird sowohl für die grundlegenden als auch für die humanitären Prinzipien als Bezeichnung verwendet. Die humanitäre Intervention in Form von militärischer Intervention zielt darauf ab, den Schutz für unschuldige Menschen in anderen Ländern vor massiven Menschenrechtsverletzungen (vor allem das Recht auf Leben betreffend) zu gewährleisten. Und 1990 trat die humanitäre Intervention in das öffentliche Bewusstsein. Sie stand übrigens nicht deshalb im Mittelpunkt, weil sie breitflächige Akzeptanz erlangte, sondern vielmehr wegen ihres umstrittenen Charakters, der heftige Debatten weltweit auslöste.

Die Frage der Intervention zum Schutze der Menschheit ist ein leidiges Dilemma.

In den meisten Fällen, in denen eine humanitäre Intervention seitens der eingreifenden Staaten erfolgte, führte sie im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (UNSC) zur Ohnmacht: Man muss sich zwischen der Unantastbarkeit des Lebens (Menschenrettung) und der Huldigung der Souveränität und Unabhängigkeit entscheiden; den eingreifenden Staaten wird dabei der Vorwurf gemacht, groben Machtmissbrauch im Namen der Humanität zu betreiben. Die meisten liberal Denkenden ziehen nur in Ausnahmefällen eine Intervention vor, und das auch ohne die Genehmigung der UNO, da die Intervention eine breite internationale Legitimität erlangte und die Notlage der Menschen in betroffenden Ländern so entsetzlich ist, dass auch die globale Menschheit auf dem Spiel steht. Und der Großteil der Realisten wiederum entfernt sich von jedweder Ethik in außenpolitischen Belangen in der Ansicht, dass die Bedrohung lebenswichtiger Interessen einer Intervention würdig ist – und nennen die Intervention nur aus humanitären Gründen Illusion oder Schwindel.

Es ist wichtig, sich bewusst zu machen, dass viele Staaten die humanitäre Intervention bislang für wirtschaftliche und politische Vorteile instrumentalisierten. Die humanitäre Intervention wurde daher als „Reaktionspflicht“ betrachtet, ein Bestandteil der umfassenderen „Verantwortung für den Schutz“ des Grundsatzes.

Die Frage, wann und wie militärisch eingegriffen werden müsste, um Massengrausamkeiten Einhalt zu gebieten, ist eine der wichtigsten. Die Neukonzeption der Souveränität als Verantwortung hat eine dreifache Bedeutung: Erstens legt sie nahe, dass die staatlichen Behörden für den Schutz des Lebens der Bürger und für ihr Wohlergehen verantwortlich sind; zweitens, dass die nationalen politischen Behörden über die UNO direkt für ihre Bürger und die internationale Gemeinschaft zuständig sind; und drittens, dass die Vertreter des Staates für ihr Handeln verantwortlich sind. Daher liegt die Hauptverantwortung für den Schutz der Bevölkerung vor Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischen Säuberungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach der Verantwortung für den Schutz des Grundsatzes ausschließlich bei den einzelnen Staaten. Scheitert dies, geht die Verantwortung auf die internationale Gemeinschaft über.

Souveränität steht für die Menschheit und dient humanitären Zielen; werden die Aggressoren aufgedeckt, sollten sie nicht die Möglichkeit haben, sich hinter dem Souveränitätsprinzip zu verstecken. Tyrannei und Anarchie führen zu einem fatalen moralischen Kollaps der Souveränität. Wie in allen moralischen Fragen haben wir einander widersprechende Gründe verschiedener Art, um Verhalten zu steuern. Manchmal ist die humanitäre Intervention in einem Staat grundlegend fehl am Platz trotz eines Vergehens der Regierung dieses Staates mit schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen. Daher können wir nicht immer jedes Unrecht beheben, auch wenn es uns richtig erscheint. In einigen Fällen wird die Intervention für den Intervenierenden sehr kostspielig. Und in vielen Fällen bedeutet die Behebung eines Fehlers, Personen auf unethische Weise zu schädigen – auf eine Art und Weise und in einem Ausmaß, die moralisch mindestens genauso unannehmbar wäre wie der Fehler, den wir beheben wollen.

Man darf davon ausgehen, dass die humanitäre Intervention für gewöhnlich als ein Phänomen verstanden wird, das es erst nach dem Kalten Krieg gab. Sie war als militärische Intervention konzipiert, die mehr humanitär denn strategisch durchgeführt wurde, und florierte in den 90er-Jahren als Folge der liberalen Idee einer „neuen Weltordnung“.

Dennoch wurden nach den US-Militäraktionen in Afghanistan 2001 und im Irak 2003 ernsthafte Bedenken und Zweifel am Nutzen und an den Motiven humanitärer Interventionen geäußert.

Die humanitäre Intervention ist wahrlich eines der am heftigsten umstrittenen Themen in der Weltpolitik. Die Befürworter der humanitären Intervention berufen sich auf neue und moralisch aufgeklärte kosmopolitische Sensibilitäten und betonen, dass in einer Welt, die durch zunehmende Vernetzung bzw. Interdependenz gekennzeichnet ist, die humanitäre Intervention ihre Rechtfertigung erlangt, da sie Erleichterungen für die regierungsgebundene globale Ordnung bringt, die auf gemeinsamen Werten, d.h. Frieden, Demokratie und Menschenrechten, beruht.

Gegner sehen die humanitäre Intervention als zutiefst fehlgeleitet und moralisch inakzeptabel an; nicht nur, weil sie oftmals auf der Grundlage besonderer geopolitischer Gründe, d.h. Selektivität und Doppelmoral, durchgeführt wird, sondern auch, weil sie auf westlichen Vorstellungen – nämlich Demokratie und Menschenrechten – sowie auf einem vereinfachten „Gut gegen Böse“-Verständnis von Konflikten und globalen Entwicklungen basiert.

Das Konzept der Schutzverantwortung hat der humanitären Intervention eine moralische Dimension verliehen, doch die internationale Gemeinschaft steht immer noch vor vielen rechtlichen und politischen Herausforderungen, wenn es um die Bewältigung der humanitären Krise geht. Denn sie gerät in viele Konflikte: z.B. Konflikte im Konzept, Konflikte bei der rechtlichen Regulierung und Konflikte in der Legitimität der humanitären Intervention.

Die humanitäre Intervention hatte seit dem Ende des Kalten Krieges verheerende Folgen für die betroffenen Länder, zumal die Idee der humanitären Intervention mit der bestehenden internationalen Ordnung unvereinbar ist. Die internationale Gemeinschaft, deren Moralverständnis einem unrealistischen Mythos entspricht, scheint jedoch überzeugt zu sein, dass die Idee trotz Widersprüchlichkeiten für das bestehende internationale System sowohl erwünscht als auch funktionsfähig ist.

Abgesehen von einem grundlegenden Umbau der internationalen Ordnung kann auch das Problem der Entfremdung nicht vollständig gelöst werden. Normierung, Institutionalisierung und Legalisierung des Konzepts hingegen könnten dazu verhelfen, auch eine Lösung für das Problem der Entfremdung zu finden.

Übersetzung Englisch-Deutsch: Anna Dichen

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