Die Köpfe der Hydra – Druck

Druck
Gesellschaft

Das letzte Mal haben wir uns mit Getrenntheit beschäftigt – mit einem der Grundthemen unserer gemeinsamen Misere; oder, etwas bildhafter ausgedrückt, mit einem der Köpfe der Hydra, die uns heimsucht. Auch diesmal wollen wir einen Aspekt, einen solchen Kopf, näher betrachten:

DRUCK

Wenn auf Menschen so starker finanzieller Druck liegt, dass sich ihr Denken kaum noch um etwas anderes dreht, als ihren Arbeitsplatz unter keinen Umständen durch Fehler oder Unangepasstheit zu gefährden, so werden sie nicht nur de facto wehrlos (weil ihnen keine Zeit und Energie übrig bleibt, um sich für Verbesserungen einzusetzen):

Sie sind auch so überfordert und erschöpft, dass sie sich keine Gedanken über etwas anderes machen wollen, als wie sie es bis zum nächsten Wochenende schaffen sollen. Doch Druck kommt in vielen Gestalten und basiert nicht nur auf drohender Armut, an der immer mehr Menschen entlang schrammen.

Auch wer sich in dieser Hinsicht noch keine Sorgen machen muss, kann unter einem Berg von Anforderungen erdrückt werden. Das vielleicht seltsamste Phänomen hierbei ist, wie widerspruchslos wir das alles hinnehmen und sogar noch an der Schraube mitdrehen. Jede Erfindung, die uns die Arbeit erleichtern sollte (vom Baukran bis zur Waschmaschine) führt nur dazu, dass die Standards ansteigen, statt dass wir Zeit gewinnen.

Jeden Tag frisches Gewand, kein Staubkörnchen in der Wohnung und ein Dasein als makelloses, geöltes Zahnrädchen im Beruf; Luxusgüter, die oft einzig dem Zweck der Neiderzeugung bei Nachbarn und Bekannten dienen – so sehen unser Leben und unsere Prioritäten aus.

So sehr man auch über ein ungerechtes System schimpfen mag: In unseren eigenen Köpfen liegt der Keim für sein Fortbestehen, weil wir bis in die privatesten Bereiche unseres Lebens akzeptieren, dass ständiger Konkurrenzkampf das Wesen der Menschheit ist, dass es immer so war und dass es immer so sein wird.

Und so laufen wir nach Leibeskräften auf der Stelle, nur um nicht zurück zu fallen – wie beim Caucus-Wettlauf in ‚Alice im Wunderland‘.

Hier sind einige Beispiele für den alltäglichen Druck, der uns teilweise gar nicht mehr auffällt, weil er so allgegenwärtig und selbstverständlich ist:

Deckung der Grundbedürfnisse

Die Lebenshaltungskosten sind für viele Menschen kaum noch leistbar: Mieten machen einen Großteil der monatlichen Kosten aus, Nahrungsmittel werden aufgrund von Absprachen und Nahrungsmittelkartellen ebenfalls immer teurer. Österreich ist laut letzter Erhebung, nach Dänemark und Schweden, im Lebensmittelbereich das dritt-teuerste Land in der EU.

Es bleibt in Folge am Ende des Monats für einen wachsenden Anteil der Bevölkerung nichts mehr übrig, sie können somit weder ansparen, noch in Verbesserungen investieren.

Wer zahlungsunfähig wird, erlebt absurderweise ein Bombardement von Strafgebühren und Verzugszinsen, was ihn immer tiefer abrutschen lässt. Als ob noch höhere Forderungen eine bereits unmögliche Zahlung wahrscheinlicher machen könnten …

Jobverlust als Schreckgespenst

Wir werden in ständigem Druck und Angst vor Arbeitslosigkeit gefangen gehalten. Arbeitslose werden stigmatisiert und am Existenzminimum gehalten, obwohl inzwischen das Verhältnis von Arbeitslosen zu freien Stelle auf 10:1 kommt. Zu glauben, dass jeder arbeitswillige Mensch einen Job findet, (was ja impliziert, dass all jene, denen das nicht gelingt, des Arbeitens unwillig sind), ist illusorisch und geradezu zynisch.

Auf dem vollkommen überlaufenen Arbeitsmarkt wird einfach jeder, der nicht in einer aktuell begehrten Sparte hochqualifiziert und auf der Spitze seiner Leistungsfähigkeit ist, immer wieder übergangen.

Halsbrecherisches Tempo

Will man als kritischer Bürger mit den Entwicklungen mithalten, müsste man sich rund um die Uhr informieren. Die Informationsflut wächst und wächst, die Ereignisse überschlagen sich, und die Zeit scheint immer schneller vorbeizurasen; was teilweise daran liegt, dass die Welt viel vernetzter ist und wir mehr davon erfahren, was anderswo geschieht.

Gleichzeitig steigt aber genau durch diese Vernetzung auch die Anzahl an tatsächlich für uns relevante Nachrichten, denn wenn in China der sprichwörtliche Reissack umfällt, ist das inzwischen nicht mehr notwendigerweise ohne jede Konsequenz für uns.

Da Information so wichtig geworden ist, und das Internet sie zumindest einem Teil der Menschheit auch jederzeit zugänglich macht, brechen immer wieder regelrechte Informations- und Desinformationsschlachten aus, wenn die eine oder andere korrupte Regierung, Organisation oder Corporation ihre finsteren Machenschaften gefährdet sieht. Wer soll da noch den Überblick bewahren?

Also geben wir entweder auf und wenden uns ab, oder wir ertrinken in dieser Flut von Informationen, sodass wir sie am Ende des Tages praktisch zur Gänze wieder vergessen haben.

Unnötige aber angeblich wichtige Erledigungen

Hier eine Unterschrift, dort ein Amts- oder Arztweg, der zu zehn weiteren führt (Ist es wirklich unmöglich, das besser zu organisieren?), Steuererklärung, Automechaniker, Thermenwartung, Schlange stehen, Wartezimmer, Nummer ziehen. Ständig Einkaufen, weil wir oft nicht mehr den Platz haben, uns für länger als eine Woche zu bevorraten. Müll trennen, aufräumen, Papiere ordnen.

Wir haben zu viele Dinge, zu viele Pflichten, zu wenig Lebenszeit um sie mit sinnlosem Gehetze zu verplempern. Und wie immer trifft es die Mittellosen am Härtesten:

Je weniger finanzielle Mittel zur Verfügung stehen, umso mehr Zeit geht solcherart verloren – weil die Möglichkeit wegfällt, lästige Pflichten an Anwälte oder Assistenten zu delegieren, defekte Geräte einfach zu ersetzen, Wege mit dem eigenen Auto oder Taxi zurückzulegen usw.

Anpassung

Obwohl wir in einer Zeit leben, die von Individualität geradezu besessen ist, sind die Grenzen für gesellschaftliche Akzeptanz dennoch eng gesetzt. Alles wird nach seiner größtmöglichen Wirtschaftlichkeit beurteilt. In allererster Linie hat man zu funktionieren und keine unbequemen Fragen zu stellen, sonst mutiert man schnell zum Außenseiter.

Wer über Trends nicht Bescheid weiß, den neuesten Celebrity-Tratsch nicht gehört hat, und die richtigen Marken nicht trägt, wird – zumindest von einer großen Anzahl von Menschen, die ihre Prioritäten im Leben tatsächlich auf solche Nebensächlichkeiten gelegt haben – scheel angesehen. Natürlich hat offiziell jeder die Freiheit, zu sein, wie er/sie sein will … Wer sich aber nichts aus solchen Oberflächlichkeiten macht, wird als Sonderling betrachtet. Dass sich in einem solchen Klima psychische Störungen häufen, und gleichzeitig erst recht zu Ausgrenzung führen, verwundert nicht.

Makellosigkeit

Zahnmedizin und Chirurgie ermöglichen immer perfekteres Aussehen für jeden, der es sich leisten kann (oder willens ist, sich dafür zu verschulden). Die Kehrseite dieser an sich hilfreichen und tröstlichen Möglichkeit für jeden, der an einem entstellenden Merkmal leidet, ist, dass die Messlatte immer höher gelegt wird.

Sieht man sich ältere Filme oder Serien an, fällt auf, dass die optischen Ansprüche an Schauspieler seither massiv angewachsen sind. Da sie damals wie heute unsere Schönheitsideale verkörpern und transportieren, sind unsere Ansprüche an uns selbst und im gleichen Ausmaß an potentielle Partner geradezu absurd hochgeschraubt.

Man muss praktisch vollkommen makellos sein, um nicht als hässlich oder zumindest unattraktiv zu gelten. Im Falle der vielen übergewichtigen Menschen, von denen übrigens ein guter Teil dem Vorurteil des maßlosen Essers nicht entspricht und auch kein hoher Zuckerkonsum ihr Körperfett erklären kann, kommen zu der Misere noch die Schuldzuweisungen der Umgebung.

Status

Das bizarre Wettrennen um Statussymbole treibt seltsame Blüten. Je nach Kreis, in dem man sich bewegt, mögen das sehr unterschiedliche Dinge sein. Aber gemeinsam ist ihnen eines: Sie liegen stets gerade außerhalb dessen, was man sich eigentlich noch leisten kann – und sind vollkommen nutzlos.

Zeigt eine Rolex die Zeit wirklich besser an, als eine Uhr, die ein Hundertstel ihres Preises kostet? Ist eine Tasche von Louis Vuitton oder D&G wirklich so umwerfend gut designt und praktisch, dass man dafür ein Monatsgehalt oder sogar wesentlich mehr ausgeben muss?

Menschen verschwenden ihre Ressourcen, um im Rennen um Status ein Plätzchen an der Sonne zu erhaschen, ihre drei Minuten Ruhm zu genießen, bevor die neueste Errungenschaft schon wieder veraltet ist und ein schales Gefühl zurückbleibt. Sie tragen damit zu Umweltverschmutzung und Ausbeutung bei, da gerade die größten und teuersten Marken oft unter den schlimmsten Bedingungen produzieren lassen.

Vor allem aber lenken sie sich selbst und einander von den Dingen ab, die man wirklich aneinander bewundern sollte, und zu denen man andere – wenn man schon Druck ausüben will – wesentlich sinnvoller animieren könnte.

Statt den sozialsten, den empathischsten, den fairsten oder den schlicht menschlichsten Mitbürger zum Ideal zu erheben, bewundern wir jenen, der am auffälligsten glitzert.

Supereltern

Wir setzen einander gegenseitig unter enormen Druck, die besten Eltern zu sein – was leider nicht etwa daran gemessen wird, ob unsere Kinder sich sozial verhalten und zu differenziertem Denken fähig sind. Schon gar nicht wollen wir Kritikfähigkeit und Skepsis bei ihnen sehen. Nein, es wird verglichen, wessen Kinder die besten Noten, die meisten Freizeitaktivitäten, den größten sportlichen Erfolg und die teuersten (schon wieder!) Markenklamotten vorweisen können.

Nicht wenige Power-Eltern gönnen sich zwischen ihrem perfekten Haus, ihrem perfekten Aussehen, ihrem perfekt durchgemanagten Nachwuchs und vielleicht noch ihrer perfekten Karriere keine Sekunde Ruhe.

Optimierung

Es geht immer noch ein bisschen besser. Wir dürfen uns nicht zufriedengeben, uns nicht auf unseren Lorbeeren ausruhen und nicht entspannen. Wenn überhaupt, dann muss Entspannung mit optimaler Wertschöpfung verbunden sein. Und so unterziehen sich nicht wenige von uns straff durchorganisierten Wellness-, Sightseeing-, oder Shoppingurlauben, wo sie von Termin zu Termin hetzen, anstatt sich wirklich zu erholen.

Die innere Unruhe wird nach außen getragen, die Angst etwas zu versäumen und seine kostbare Zeit nicht optimal zu nutzen, verhindert echte Erholung.

Nichts ist jemals gut genug, vom Job über das Auto bis hin zum Lebens(abschnitts)partner.

Und nicht zuletzt:

Druck, glücklich zu sein

Jammern ist out. Wenn es jemandem nicht gut geht, hat er nur die falsche Einstellung, arbeitet nicht hart genug an sich, suhlt sich in seinem Elend. Dass es Situationen geben könnte, an denen Menschen zerbrechen – nicht durch einzelne traumatische Erlebnisse, sondern durch jahrelanges Leiden – wird hier glatt übersehen, und echte Hilferufe in einen Topf mit egobesessener Aufmerksamkeits-Hascherei geworfen.

Wir helfen einander nicht aus der Klemme, sondern betrachten die auf der Strecke Gebliebenen mit Abscheu.

Was dahinter steckt, wenn man jegliches Mitgefühl in sich so unterdrückt, ist freilich immer dasselbe … ein gesellschaftliches Tabu, etwas, das nicht ganz in Worte fassbar ist. Im Mittelalter durfte man kein Mitleid mit den gequälten Ketzern haben, im Dritten Reich nicht mit den abtransportierten politischen Gegnern, Juden und anderen unerwünschten Mitmenschen.

Hätte man sich an ihre Stelle versetzt, was ja die Voraussetzung für Mitleid ist, so wäre man gezwungen gewesen zu begreifen, was man da zulässt. Wer sich dazu hinreißen lässt, steht aber schon mit einem Fuß auf der Seite der Rebellen. Der müsste aufstehen und protestieren.

Lieber still sein und nicht auffallen, am besten gar nicht darüber nachdenken. Zu jeder Zeit gab es etwas, das man nicht näher betrachten oder gar hinterfragen durfte, weil sonst der Vorhang der Rechtmäßigkeit gefallen wäre – manchmal so dramatisch wie die genannten Beispiele, manchmal weniger unmittelbar lebensgefährlich.

Aber solange wir als Menschen und als Gesellschaft Probleme verdrängen, statt uns mutig zu stellen, wird es immer unsichtbar gemachte Verlierer mitten unter uns geben, die sich dem Strom nicht anpassen können oder wollen – aktuell sind das eben die nicht limitlos Leistungsfähigen.

Wir müssen kollektiv zur Ruhe kommen … unsere Werte überdenken und bewusst aus dem sinnlosen Wettrennen aussteigen. Unser Leben ist durch den ewigen Wettlauf rastlos, in Aufruhr und von Hektik bestimmt – wir sind wie eine Schar aufgeregter Hühner, die kopflos in alle Richtungen läuft.

Bei Hühnern hat das freilich den Sinn, Angreifer zu verwirren, während wir nur uns selbst jeder Rationalität und Möglichkeit zur Zusammenarbeit berauben.

Der Ausweg ist auch hier gleichzeitig simpel und doch auch wieder komplex. Nichts ist schwerer, als zu erfassen und akzeptieren, was man möglicherweise selbst zum Wahnsinn beiträgt. Doch Vorsicht – sich damit wirklich auseinanderzusetzen ist eine Lebensentscheidung, die zu unbequemen Erkenntnissen führt …

Betrachtet man manche Verhaltensweisen unserer Gesellschaft mit einem unvoreingenommenen Auge, dann erkennt man nämlich unweigerlich, wie selbstzerstörerisch sie sind … und stellt sich mit einem Fuß auf die Seite der Unangepassten.

Das nächste Mal werfen wir einen Blick auf eines der weiteren hässlichen Häupter unseres Monsters: verschobene Werte.

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Druck Druck RAF-YYC from Calgary, Canada CC BY-SA 2.0