Europa DIALOG mit ORF Ungarn-Korrespondent Mag. Ernst Gelegs

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Politik

Veranstaltungsdaten

Datum
29. 11. 2016
Veranstalter
Europa:DIALOG
Ort
Haus der Europäischen Union, Wipplingerstraße 35, 1010 Wien
Veranstaltungsart
Dialog
Teilnehmer
Mag. Ernst Gelegs, ORF Ungarn-Korrespondent
Benedikt Weingartner, Moderator

Am 29.11.2016 wurde anlässlich des Europa DIALOGs im Haus der Europäischen Union der ORF-Korrespondent für Ungarn, Mag. Ernst Gelegs, zur aktuellen Situation in Budapest befragt.

Moderation: Benedikt Weingartner

Ernst Gelegs kurzes persönliches Statement über Europa:

Europa ist für mich: Ein leider noch nicht überall lebenswerter Kontinent mit einer leider orientierungslosen und in vielen Bereichen leider uneinigen politischen Union, die weltweit Anerkennung finden will, aber leider immer weniger Anerkennung findet!

Dialog

Wie begründen Sie Ihr Statement hinsichtlich der EU?

In Osteuropa sei die Lebensqualität sehr schlecht: In einem Viertel in Bukarest z.B. oder in der Plattenbausiedlung in Luník IX in Košice mit 6.000 Menschen gebe es verschmutzte Kanäle, desolate Fenster und Balkone, kein Strom und Gas; und für Reparaturen fehle es auch an Professionisten. Weiters dürfe man dort nicht mit Infrastruktur oder guten Schulen rechnen.

Wenn Sie dort auf die Welt kommen, haben Sie schon verloren. Es gibt Gegenden, da glauben Sie nicht, dass wir das Jahr 2016 schreiben. Dort ist es einfach nicht lebenswert.

Und dann die Uneinigkeit innerhalb Europas:

Ungarn als Teil der EU boykottiert Beschlüsse, auch Mehrheitsbeschlüsse; viele osteuropäische Staaten können zum einen mit dem Wort „Solidarität“ nicht viel anfangen und kochen zum anderen auch „ihre eigene Suppe“. Man wolle keinen „Bundesstaat Europa“, also ein politisches Zusammenwachsen, sondern sehe die EU vielmehr als reine Wirtschaftsgemeinschaft, die zwar Fördermilliarden in das Land investieren solle, aber die Regierung in Budapest in Ruhe zu lassen habe.

Weiters werde jede Kritik seitens der EU als Affront, als ungewollte Einmischung abgeurteilt, obwohl Ungarn die meisten Vertragsverletzungsverfahren am Hals habe. Ungarn mache gerne komplett EU-widrige Gesetze und verfolge dabei nur die eigenen Interessen. Und mittels Politik und Propaganda, auch innerhalb der Bevölkerung, wehren sich die Ungarn solange, bis die EU entweder nachgibt und bloß Änderungen vornimmt; oder wenn diese Rechnung nicht aufgeht, müsse die Orbán-Regierung einfach nur das Gesetz zurückziehen.

Wie ich hören muss, gibt es ja auch innerhalb der EU-Kommission einige Ungarn, die dort tätig sind, einige Beamte, Referenten, die natürlich auch im Sinne der Regierung agieren. Also da gibt es einige Fälle, die einfach in der Schublade verschwinden und nicht bearbeitet werden, oder lange nicht bearbeitet werden …

Die Hauptproblematik an dieser Politik sei, dass die Ungarn, die „als glühende Europäer“ anfangs wirklich EU-freundlich eingestellt gewesen seien, falsche Erwartungen hatten, die enttäuscht wurden, und weiters, dass die permanente EU-Kritik zu einer EU-feindlichen Einstellung des ungarischen Volkes führte.

Die osteuropäischen Länder als die jüngsten Mitgliedsstaaten erhofften sich wahrscheinlich viel; herrscht nun dort ein Zustand des Frustes?

Großteils habe man erwartungsvoll das Ziel verfolgt, möglichst rasch an die Lebensstandards Westeuropas anzuknüpfen.

Die Enttäuschung des Volkes sei jedoch die große Chance für Demagogen und Rechtspopulisten: Diese böten sich als Lösung aller Probleme an und erschaffen Feindbilder und Sündenböcke – v.a. die Flüchtlingsthematik betreffend. Mit Slogans wie „die sind schuld“, „die nehmen dir den Lebensstandard weg“, „wähle mich, ich verhindere das“, trachteten sie vielmehr danach, sich selbst vorteilhaft zu vermarkten.

Gibt es in Ungarn eigentlich noch Flüchtlinge?

Wenige; die Grenzen sind dicht, zumindest zu Serbien und zu Kroatien, da gibt es kaum ein Durchkommen. Wenn ich mich recht erinnere, so waren es 2016 circa 18.000 Menschen, die versuchten, die Zäune illegal zu überwinden. Im selben Jahr  gab es in Ungarn insgesamt 28.000 Asylanträge – von diesen sind aber nur 250 positiv beschieden worden.

Gemäß dem Dublin-Abkommen sei Griechenland für die Flüchtlinge zuständig und nicht Ungarn, also fühlte sich Ungarn nicht zuständig für die Abwicklung der Asylanträge und wollte aus Österreich keine Asylanträge mehr zurücknehmen.

Legal sähe das Flüchtlingsregime derzeit so aus: Wer illegal einreist, würde sofort rausgeworfen. Entlang des Zauns und zur serbisch-ungarischen Grenze seien zwei Checkpoints vorhanden, an denen sich die Flüchtlinge ansammeln; dort lasse Ungarn täglich jeweils nur 15 Personen ins Land einreisen – insbesondere Frauen und Kinder, und nur diese hätten das Recht darauf, überhaupt einen Asylantrag zu stellen und würden im Anschluss in ein Flüchtlingslager überstellt.

Stellen sie keinen Asylantrag, würden sie schlichtweg wieder rausgeworfen, und laut EU-Recht sei das auch legal.

Der Großteil dieser insgesamt 30 Flüchtlinge pro Tag, die ins Land einreisen dürfen, würden irgendwo im Land verschwinden, denn in Wahrheit wolle niemand Asyl in Ungarn: Die wahren Zielfluchtländer seien Österreich, Deutschland und Schweden.

Gelegs kritisierte, dass die Ungarn an den Außengrenzen nicht ordentlich selektieren und sich fragen würden, ob die Personen wirklich Anspruch auf Asyl haben oder nicht, vielmehr lehne man a priori ab. Den Korrespondenten würde es brennend interessieren, wie es diesen 250 Menschen, die in Ungarn schließlich Asyl fanden, gelungen sei, überhaupt einen Anspruch darauf zu bekommen.

Wie verhält es sich mit den Grenzen zu Slowenien und Kroatien?

Grenzzäune gebe es so gut wie keine, doch durch verstärkte Überwachung würden die Kroaten und Slowenen alle Transfers verhindern. Zu Österreich und zur Ukraine gebe es gar keine Befestigungsanlagen, an der rumänischen Grenze seien diese nicht durchgehend vorhanden.

Die Flüchtlingsströme kämen nach wie vor nicht über Rumänien; derzeit sei die Balkanroute als Fluchtweg immer noch Standard. Die Alternativroute von der Türkei über Bulgarien und Rumänien nach Ungarn werde von den Schleppern derzeit nicht genutzt; spreche sich das erst herum, würde es definitiv problematisch.

Wie stehen die Menschen in Ungarn denn tatsächlich zu den Flüchtlingen und zu Viktor Orbán?

Es gibt keine Willkommenskultur in Ungarn. Mit Zustimmungsraten zwischen 85 und 90 % steht die überwältigende Mehrheit der ungarischen Bevölkerung eindeutig hinter dem Regierungschef Viktor Orbán, was die Flüchtlingsproblematik betrifft.

Man wolle es mit einer Integration auch nicht einmal probieren – v.a. mit Menschen aus Syrien, Afghanistan und Pakistan -, denn diese Menschen würden als in Europa kaum integrierbar angesehen und man befürchte die Entstehung von Parallelgesellschaften. Orbán vergleiche gerne mit Beispielen aus Armenvierteln in Belgien und Frankreich. Armenviertel gebe es in Ungarn so schon genug, v.a. im Osten und Norden. Und als „Verteidiger des christlichen Abendlandes“ sehe er das Land ebenso durch den „weniger friedfertigen“ Islam bedroht.

Das Christentum sei ja sogar in die Verfassung geschrieben worden, und Orbáns Ziel sei es, Ungarn als christliches Land zu bewahren. Der Zuzug Tausender Flüchtlinge jedoch habe dieses Bild beinahe ins Wanken gebracht, und da könne ein Regierungschef, der so denkt, eigentlich gar nicht anders, als Zäune zu errichten, um diese Menschen fernzuhalten bzw. sie nach Österreich weiterzutransportieren.

Als man in der EU das Flüchtlingsproblem mit der Einführung einer Quote – die je nach Größe und Wirtschaftskraft des Landes berechnet würde – lösen wollte, zeigte sich Orbán dieser Idee zutiefst abgeneigt: Er holte sich die Unterstützung durch die Visegrád-Staaten (Polen, Slowakei, Tschechien) und habe gemeinsam mit ihnen massiv gegen die Quotenregelung protestiert, um „Parallelgesellschaften über die Hintertür“ zu verhindern.

Eine Quote von 1.300 Flüchtlingen akzeptiere er insofern nicht, als dass er glaube, dass es nur bei der Einführung 1.300 sein würden; spreche sich das erst herum, würden immer mehr Menschen anreisen, und im nächsten Jahr erhöhe sich die Quote auf 2.300, im übernächsten auf 4.300 – in grenzenlosem Ausmaß. Deshalb gab es seinerseits den „Total Stop“, und das entsprach auch der Mehrheitsmeinung der Ungarn.

Im Mai 2014 habe Orban 43 % der Stimmen bei den Parlamentswahlen bekommen und damit durch das sehr spezielle ungarische Wahlrecht eine Zwei-Drittel-Mehrheit erreicht. Die OSZE sei übrigens der Meinung, dass Ungarn zwar freie Wahlen, aber keine fairen Wahlen durchführe.

Im Herbst 2014 habe es für Orbán schlecht ausgesehen: Seine Popularität sei auf 20-25% gesunken. Zu dieser Zeit habe der Staat viel Geld benötigt, und die Idee einer neuen Steuer wurde geboren (entgegen dem Versprechen im Wahlkampf, keine neuen Steuern einzuführen): die Internetsteuer. Die Folgen seien Massen-Protestbewegungen gewesen – ein Schock für Orbán, den „Retter des Landes“, den „großen Magyaren“. Orbán habe sogar – entgegen seiner Gangart – den Plan der Internetbesteuerung wieder zurückgezogen und behauptet, dass sie derzeit nicht umsetzbar sei.

Ein weiterer Grund für seine sinkende Popularität: Die Obama-Administration habe der ungarischen Regierung Korruption vorgeworfen und sechs hohe Regierungsbeamte auf die Watchlist gesetzt, darunter die Chefin der Steuerbehörde. Nach einer Schockstarre von zwei Monaten habe Orbán sie überreden können, „freiwillig“ zurückzutreten.

Im Jänner 2015 habe Orbáns Sturzflug begonnen: Man erkannte, dass durch die „glorreiche Fidesz-Regierung“ nichts weiter gegangen sei, denn Bildungs- und Gesundheitssystem blieben desolat.

In diesem Sturzflug Orbáns kamen die Flüchtlinge – und das war die Rettung des ungarischen Regierungschefs.

Dann habe Orbáns Referendum stattgefunden, und Suggestiv-Fragen wie z.B.: „Sind Sie nicht auch der Meinung, dass mit den Flüchtlingen Terrorismus ins Land kommt? – Ja/Nein“ haben für Kopfschütteln auch innerhalb der EU gesorgt. Wie dieses Referendum letztendlich ausgegangen ist, sei von der Regierung übrigens nie kommuniziert worden, und es wurde auch nie eine Statistik veröffentlicht.

Der Ton Orbáns habe sich folglich drastisch verschärft, und als dann Zehntausende Menschen über die Grenzen gekommen sind, hätte es ihm endgültig gereicht: Zäune und Mauern wurden errichtet, um die Flüchtlinge fernzuhalten und Ungarn abzuschotten.

Also er hat da ja nicht Unrecht; mittlerweile ist das auch schon Mehrheitsmeinung innerhalb der EU, dass man nicht unkontrolliert Zehntausende Menschen ins Land lassen und sagen kann: ‚Die werden schon brav sein und sich schon irgendwie integrieren.‘ Das ‚Irgendwie‘ ist hier das Problem. Bei aller Liebe und allem Verständnis für die Menschen, die Kriegszonen verlassen oder verlassen müssen, kann es doch nicht sein, dass Menschen, die auf der Flucht sind und bereits in mehreren sicheren Ländern angekommen waren, dann sagen: ‚Na, do net, lieber duat Asyl – bitte in Schweden, do net.‘ Das ist dann schon auch ein Problem.

Mit dieser Taktik habe er politisches Gespür bewiesen, und seine Einstellung decke sich auch mit der Mehrheitsmeinung innerhalb der EU; es habe damals auch niemanden gegeben, der das offen aussprach. Orbán sei auch der erste Regierungschef gewesen, der nicht nur Trump gratulierte, sondern auch der erste, der es offen verhinderte, dass Zehntausende über die ungarischen Grenzen liefen. Er betone auch immer wieder, dass die Drahtzieher der Anschläge von Paris unter all jenen dabei gewesen seien, die im September/Oktober 2015 über Ungarn nach Frankreich gereist seien.

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Wir Österreicher denken gerne sehr schnell an den Ungarnaufstand 1956, denn da haben die Ungarn es ja selbst erlebt, wie es ist, Flüchtling zu sein. Sie müssten daher doch Verständnis mit den Flüchtlingen haben  …

Die Ungarn wollen sich nicht auf diese Diskussionsebene des Vergleichens begeben, denn sie meinten, sie seien damals nicht massenhaft unregistriert über die österreichische Grenze gekommen, sondern sie kamen in ein Flüchtlingslager, das geschlossen gewesen sei und nicht verlassen werden durfte. Dort seien sie von Österreich versorgt und auf die Länder verteilt worden, die ungarische Staatsbürger aufnehmen wollten. Auch hätten sie kein Kultur- und Religionsproblem gesehen und seien ohnehin wieder in ihre Heimat zurückgegangen, sobald die Situation dort wieder besser war.

Wie ist Orbáns Position zu Europa? Aus der EU austreten möchte er ja nicht …

Wenngleich die linksliberale Opposition Orbán immer wieder vorwerfe, er würde Ungarn aus der EU führen wollen, so wäre er töricht, dies zu tun:

Ungarn lebt schließlich von den Milliarden Fördergeldern.

Im Europäischen Parlament sitzen 18 ungarische Abgeordnete – welche Positionen haben diese zu Europa?

Es kommt darauf an, welcher Partei sie angehören. Die Fidesz-Leute sind glühende, loyale Orbán-Freunde, und die verlieren kein böses Wort über ihre eigene Regierung.

Die Jobbik-Partei sei auch eher auf Regierungslinie, und die Linken seien auf EU-Ebene sehr wohl regierungskritisch und organisieren immer wieder Sitzungen, in denen die Regierung Ungarns beleuchtet würde.

Es herrscht eben ein Widerspruch: Die EU wird als das Böse gesehen, aber es wird nicht kommuniziert, dass ungarische Abgeordnete in den Gremien sitzen und mitbeschließen.

Wen mag denn Orbán eigentlich in der EU, außerhalb von Ungarn?

Merkel und Karas mag er nicht. Den Herrn Kern mag er. Kern war im Juli 2016 in Budapest, und man hat die Sympathie zwischen den beiden sofort bemerkt. (…) Beide haben keine Berührungsängste mit den Rechtspopulisten. (…) Ich denke, dass die linke Fraktion innerhalb der SPÖ bald in massiven Schwierigkeiten stecken und diesen Machtkampf unter Kern verlieren wird.

Die Medien sind ja eigentlich in der Hand des ungarischen Regierungschefs. Was hat sich seit Orbán verändert?

Punkt 1: Die Ungarn hätten sich eine Handhabe überlegt, um gegen unliebsame Journalisten vorzugehen; da seien die Gesetze sehr schwammig formuliert worden und als echte „Gummiparagrafen“ in alle Richtungen ausdehnbar, und Richter hätten so die Möglichkeit, problematische Journalisten oder Karikaturisten zu verurteilen.

Punkt 2: Der Angriff auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. In Ungarn finanziere sich der öffentliche-rechtliche Rundfunk durch das Staatsbudget – über die Höhe würde alle Jahre neu entschieden mit der Tendenz: „Wer zahlt, schafft an.“

So sieht MTV auch aus: Es ist mittlerweile zum Sprachrohr der Regierung verkommen, die Quote sagt alles. Die Hauptnachrichtensendung von MTV – sie läuft wie bei uns nach wie vor um 19:30 Uhr – hat einen Marktanteil von vier Prozent.

Auch personell sei Ähnliches passiert: Von 2010 bis 2012 seien insgesamt 2.500 Mitarbeiter entlassen und gekündigt worden. Man könne sich vorstellen, wer die Jobs verloren und wer sie bekommen habe…

Im Jahr 2012 z.B. sei auch eine Demonstration von Tausenden von Journalisten im Fernsehen nicht ausgestrahlt worden; die Kamera sei so positioniert gewesen, dass sie nur den Reporter vor der Staatsoper im Bild hatte, der berichtete, wie die Regierungsspitzen in der Oper ihre eigene Verfassung feierten. Man habe „ein paar Demonstranten“ erwähnt, aber das Gesamtbild sei für das TV-Publikum nicht erkennbar gewesen …

Sie haben das ja gezeigt, wie es wirklich war – was war die Folge davon?

Der ORF habe es gezeigt und zeige es nach wie vor, und das sei der ungarischen Regierung nicht gleichgültig gewesen. Der ORF bzw. das Korrespondentenbüro in Budapest sei sehr rasch als „Feind“ erkannt worden, und da sei dann folglich die Korrespondentenberichterstattung schlichtweg als „falsch“ bezeichnet worden.

In der Folge sei Gelegs dann nicht mehr zu Pressekonferenzen geladen worden, auch weitere Interviews wurden ihm untersagt.

Ich habe dann einen Brief an den Pressechef von Orbán geschrieben und gesagt, dass Gesprächsverweigerung keine Berichterstattung verhindert und dass wir nach wie vor berichten würden, nur könnten sie dann eben keine Stellung mehr dazu nehmen.

Orbán habe bald die Notwendigkeit erkannt, sich mit dem ORF zu arrangieren, denn die Westungarn, die mit der ZIB aufgewachsen seien, sprechen gut Deutsch und könnten durch das Fernsehen ein anderes Bild von Ungarn vermittelt bekommen als gewünscht.

Wir haben jetzt aber ein Agreement gefunden. Ich bekomme Interviews, sogar von Orbán, aber unter Bedingungen: 15 Minuten Interview in der ZIB 1, 20 Minuten im Radio und ungeschnitten auf ORF-On. Ich musste dem Pressechef klarmachen, dass die ZIB nur 17 Minuten dauert und wir davon nicht 15 Minuten Orban-Interview spielen können, sondern nur 1:30 Minuten.

Erst nach der Idee seitens des ORF, Orbán in die Sendung „Im Zentrum“ mit 7 bis 10 Minuten einzubauen – es ging um die Flüchtlingsthematik -, habe Orbán einem Interview zugewilligt. Die ungeschnittene Version sei dann 7 Tage lang auf ORF-On anklickbar gewesen, als Beweis, dass da nichts manipuliert oder weggeschnitten worden sei.

Was will Orbán mit seiner Politik eigentlich erreichen?

Macht erhalten. Er ist von seinen Vorstellungen, wie Ungarn zu sein hat, überzeugt. Seinen Weg und sein Weltbild sieht er als das einzig Richtige für das Volk. Alle, die dagegen sprechen, würden seiner Meinung nach Verrat an ihrer Heimat ausüben und sind für ihn keine ‚echten Ungarn‘. Er sieht sich selbst als ‚Heimat‘.

Wie ist der Charakter eines klassischen „Ungarn“?

Der Ungar ist ein stolzer, aber auch ein sehr leidender Mensch. Das Ungarnherz hat immer viel zu leiden, steht im Eck, ganz bescheiden; Ungarn fühlen sich immer benachteiligt und ungerecht behandelt, deshalb hat es der ungarischen Seele auch so gut getan, als sie bei der Fußball-EM 2:0 gegen Österreich gewonnen haben.

Wie sieht die Perspektive für die jungen Menschen in Ungarn aus?

Die Situation ist jener in Griechenland ähnlich: Es ist sehr schwer, einen Job zu finden, der auch ordentlich bezahlt wird; es gibt immer mehr „Working Poor“, und selbst als Akademiker verdient man bloß um die 500 EUR pro Monat – wie kann man damit in Budapest auskommen? Kaum.

Spielt in Ungarn die Kultur eine große Rolle?

Das kulturelle Niveau sei sehr hoch:

Die wenigen jungen Menschen, die die Chance erhalten, in einem der wenigen musikalischen Ensembles zu spielen, geben alles. Das spürt und merkt man, und es gibt nichts Vergnüglicheres, als sich ein Konzert anzuhören, in dem viele junge Menschen spielen, die auch im Land an der Musikhochschule studiert haben. Doch die wollen ihre Begabung nutzen, um auch irgendwann einmal das Land zu verlassen und in den Metropolen Europas Fuß zu fassen.

Welche Rolle spielen Minderheiten in Ungarn?

Diese Regierung ist nicht antisemitisch. Man tut alles, um die jüdische Gemeinschaft zu schützen, auch seitens der Bevölkerung.

Orbán schätze nämlich die jüdische Art von Ausbildung – alle seine Kinder würden in jüdische Schulen gehen, und seine älteste Tochter heißt Rachel.

Schutzlos hingegen seien die Roma, die auch seitens der Bevölkerung mit wenig Unterstützung rechnen könnten. Die Segregation an den ungarischen Schulen sei zwar verboten, fände aber trotzdem statt …

Publikumsfrage: Macht es sich die EU-Kommission zu leicht mit Ungarn?

Ich glaube, dass die EU-Kommission dazu aufgerufen werden sollte, viel härter, viel intensiver, viel entschlossener gegen all diese Demokratie-bedenklichen Tendenzen vorzugehen; das passiert aber nicht aus ideologischer Rücksichtnahme, sondern deshalb, um Ruhe zu haben. Andererseits kann man Orbán auch nicht von außen steuern – mittlerweile steuert nämlich er die EU.

Publikumsfrage: Was muss in Europa passieren, damit sich die Menschen wieder von den rechten/rechtsradikalen Parteien abwenden?

Rechtsradikale Parteien müssen einmal regieren – sie sind ohnehin nicht zu stoppen. Man wird sie an die Macht lassen müssen, und sie werden demokratisch auch die Macht erreichen müssen. Und wenn sie regieren, dann werden die Menschen sehr bald sehen, dass diese einfachen Lösungen, die propagiert wurden, dann letztlich doch nicht so funktionieren.

Zum Abschluss: Wohin müsste sich die EU entwickeln, um die allgemeine Situation zu verbessern?

Uneinigkeiten und Orientierungslosigkeiten innerhalb der EU zu bewältigen wäre noch die leichtere Aufgabe. Es müssten eben alle an einem Strang ziehen. Es wäre auch nicht schlecht, das Einstimmigkeitsprinzip aufzugeben und Entscheidungen mit einfacher Mehrheit zu treffen, denn es wird immer irgendwo ein Land geben, dass sich in seinen Interessen verletzt fühlt – und das blockiert natürlich. So kommen wir nicht weiter.

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