Konflikte sind Zeichen, dass etwas lebt – Prof. Dr. Rotraud A. Perner

Europa DIALOG Rotraud Perner
Gesellschaft

Veranstaltungsdaten

Datum
24. 5. 2016
Veranstalter
Europa Club Wien
Ort
Haus der Europäischen Union
Veranstaltungsart
Diskussion

Im Haus der Europäischen Union, am 24. Mai 2016, zu Gast: die bekannte Psychoanalytikerin, Sexualtherapeutin, Juristin und seit Kurzem evangelische Pfarrerin Prof. Dr. Rotraud A. Perner. Und Benedikt Weingartner interviewt.

Die Psychoanalytikerin beschreibt Europa mit dem folgenden Inhalt:

Europa ist für mich Halbtschechin ein Stückchen Rückkehr verlorener Wurzeln: Denn leider hat mir mein Vater, der 27 Sprachen sprach und u.a. Hans Gratzer und Michael Haneke privat Französisch beibrachte, seine Muttersprache und Heimatkultur kaum vermittelt. Europa bringt mich meiner Abstammung näher. Europa ist eine Lernaufgabe für Achtsamkeit und Wertschätzung.

Der Dialog:

Was ist los mit Europa – mit Österreich, mit der Seele Österreichs?

Konflikte sind normal. Innerseelische wie auch äußerliche. Das ist das Zeichen, dass etwas lebt. Wenn etwas tot ist, dann gibt es keine Wellen mehr“, beginnt die Psychoanalytikerin. Nun stelle sich aber die Frage: Gebe es Wogen bis zum Himmel, oder könne man den Wellengang auch etwas abmindern? Perner kritisiert die derzeitige Lage, dass es wenig Modelle gebe zur kreativen Problemlösung. Problematisch würde es immer dort, wo kaum Modelle existierten.

Es gebe aber immer mehr als zwei Möglichkeiten. Um diese zu finden, erfordere es Kommunikation, betont sie. Wenn man mehrere Sprachen auf ein gemeinsames Niveau bringen möchte, so bräuchte dies Zeit. Sie sehe das Ganze nicht als Krise, sondern eher als Dynamik, die mit Wohlwollen, Geduld und Hoffnung durchaus in ein fruchtbares Weiterentwickeln führen könne.

Braucht es diesen Prozess, um sich zu reinigen / zu finden?

Ja, das kennen wir von uns selbst. Europa ist ein Körper, so wie unser Körper. Mit unterschiedlichen Bedürfnissen, Gelüsten, aber auch Ängsten und Befürchtungen. Das ist alles eine Frage der Selbstwahrnehmung. Es gilt herauszufinden: Wie gehe ich mit meiner Angst um, was mache ich dagegen? Je offener und respektvoller wir miteinander reden, desto eher werden wir eine gemeinsame Lösung finden,

Und dass es Menschen gebe, die sich dabei nicht so leicht täten, gelassen und sachlich an die Dinge heranzugehen, liege v.a. daran, dass es Politiker gebe, die darauf trainiert seien, hohe Emotionen auszulösen und eine Überdynamik zu produzieren, so Perner.

Wenn vernünftige Leute dann den Prozess vor Ekel verlassen, sei das ein großer Fehler. Denn das sei das Ziel jener gewesen, die diese Machtspielchen aus sportlichem Interesse unternommen hätten, um Sieger zu sein. Und das sei die Problematik bei Machtspielen. Dabei werfe sich die Frage auf: Ist man lösungs- oder siegesorientiert?

Vor 30 Jahren hatte Erwin Ringel die österreichische Seele diagnostiziert; wie sähe die Diagnose heute aus – auch die europäische?

Nicht nur Erwin Ringel sondern auch Helmut Qualtinger, Erich Fried und Alfred Ridlicka seien damals von einem sehr guten PR-Berater gecoacht worden:

Das ist nicht mein Weg. Ich würde auch nicht die Kulturkritik fortführen, die Sigmund Freud formulierte, obwohl ich eine Freudianerin bin, wenn er sagte: ‚Die Gesellschaft gehört therapiert, weil sie immer verrückter ist.‘ Ich sehe es als Schutzbehauptung, dass wir etwas als verrückt sehen, nur weil es anders ist. Man könnte sich auch fragen, ob da nicht ein ernster Kern dahinter ist.

Perner weigert sich, eine Diagnose zu stellen, denn sie sieht den aktuellen Prozess als wichtig: Es würden die unterschiedlichen Positionen deutlicher. Und dort könne man ansetzen und überlegt werden: Wo ist das einigende Ganze darüber? Es sei nicht leicht, aber mittels Sprache könne man die Lösungsmöglichkeiten nebeneinander stellen und die humanste davon aussuchen.

Damit ein Mensch überhaupt zur Therapie geht, braucht er ja zuerst einmal ein Bewusstsein, dass er krank ist oder dass er Hilfe braucht – und dass er diese Entwicklung braucht …

Das stimmt zum Teil. Wir haben aber heute systemische Therapien auch. Wir haben die vergangenheitsorientierten und die aufdeckenden Therapien, aber wir haben auch die systemischen Therapien. Das wäre lösungsorientiert. Nicht die Person, der Mensch, ist krank oder verbesserungsbedürftig, sondern die Beziehung. Der Patient ist die Beziehung. Also geht man in eine systemische Familientherapie; dann geht es nicht darum, irgendjemanden als Schuldigen auszumachen, sondern man schaut: Welche Beziehung ist funktionell und bewirkt, dass alle zufrieden sind. Und welche Beziehung ist dysfunktional und macht irgendjemanden krank.

Und das sei dann der identifizierbare Patient.

Das Problem befinde sich nicht nur im nationalen Bereich, sondern auch im internationalen und liege daran, dass wir so gescheit worden seien im vergangenen Jahrhundert – und sich dadurch unsere Wahrnehmungsfähigkeit gestärkt habe. Dadurch werde alles wird natürlich viel schwieriger und komplexer, so die Juristin.

Lernen wollen – verändern wollen – lebenslanges Lernen … Ist das Bedürfnis oder das Bewusstsein, lernen zu wollen, überhaupt vorhanden?

Man könne nicht nicht lernen, so Perner. Jede neue Wahrnehmung schaffe eine neue Warhnehmungsnervenzelle, ein Wahrnehmungsneuron. Das sei Lernen.

Lernen könne deshalb „manipuliert“ werden – und Sprache sei ein hochmanipulatives Werkzeug. Formuliere man Inhalte bildhaft, können damit Menschen geheilt aber auch krank gemacht werden. Meistens gebe es Modelle, wie man andere krank machen könne, stresst, ausgrenzt etc. Heilende Worte zu finden oder zu „erfinden“, sei wesentlich schwerer. Lebenslanges Lernen heiße vor allem, kritisch darauf zu achten, welche Mythen/Glaubenssätze man neu übernehme. Dazu gehöre das Recht auf Misstrauen.

Viele würden sich aber nicht getrauen, zu misstrauen, weil sie, wie ein kleines Kind, dazu neigen, sich zu unterwerfen. In Zeiten von Facebook & Co sei jedoch eine kritische haltung besonders wichtig. Die Mythenbildung könne schnell entstehen, und flugs entstünden Vorurteile. Vorurteile an sich seien nicht schlecht, denn sie helfen, sich zu orientieren. Die Überprüfung derer aber sieht Perner als notwendig. Man könne natürlich insgesamt dramatisieren, doch das sei keine gute Lösung.

Zum Prozess des Lernens gehöre natürlich auch die Bewertung:

Macht es mich glücklicher, gesünder, gescheiter, liebenswerter, verträglicher oder eher das Gegenteil? Und das ist an und für sich anstrengend genug.

Von wem kann/soll man heute denn noch lernen?

Von wem man lernen will, muss schon jede Person selbst für sich entscheiden.

Wenn es um Lerninhalte geht, dann sei Vorsicht geboten, denn es habe schließlich immer schon „falsche Lehrmeister“ gegeben. Eine Richtlinie, das zu erkennen, sei der Körper: Wenn sich der eigene Körper auf „Kampffrequenz“ errege, dann solle man sehr vorsichtig sein. Dann bestehe nämlich die Gefahr, bewusst emotionalisiert zu werden. Genauso sehe sie das übrigens bei den gegenteiligen Gefühlen, bei jenen des „sanften Entschlummerns“, des „eingelullt-Werdens„.

Ist der Individualismus in einem größeren Verband – also als Europa – schwierig?

Das sei laut Perner „nicht so schwierig„. Es gehe eher um den Mut, kritische Gedanken mit anderen zu teilen. Und sich diesbezüglich nicht zurückzuhalten, weil man an die bloßen Folgen denke. Die Psychoanalytikerin verwendet dafür den Begriff „Exorzismustechnik“: Man müsse den Namen sagen, sonst könne man „den Teufel nicht wegschicken„. Der Teufel sei in diesem Fall das sich Zurückhalten bei Bedenken und Kritik. Erst wenn man sich dazu äußere, könne man den Keim der Gewalt sogar in etwas Fruchtbares verwandeln. Dafür seien Modelle wichtig, wie man respektvoll miteinander Problemlagen bespreche, um konstruktive Lösungen zu finden.

Wir sind alle auf Gehorsam erzogen“, behauptet die evangelische Pfarrerin, was sich in der Krise aber als gut erweise. In der „normalen Politik“ gebe es eben Zeit – man könne Zeit und Daten auch kreativ verarbeiten.

Wie kann das Modell konkret aussehen, wenn man Teil einer Gemeinschaft über 500 Millionen Menschen ist?

Die Schwierigkeit dabei sieht Perner zum einen im Zeitfaktor: Die Kommunikation könne heute rasend mittels der „elektronischen Medien“ beschleunigt werden. Die Absprachen geschehen so viel schneller, in Sekunden. Es sei demnach keine Zeit mehr vorhanden für Live-Gespräche. Früher habe man wochenlang Zeit für eine Entscheidungsfindung, z.B. bei der Papstwahl im Mittelalter. Heute sei dies anders.

Andererseits sehe sie die Machtbestrebungen als weitaus größeres Problem: Es herrsche „Dichotomie„: das Streben danach, unbedingt Sieger zu sein. Das erkenne man besonders an der „Kampfsprache“, jemanden z.B. am Ende als SiegerIn zu bezeichnen. Deshalb solle man besonders bei der Wortwahl aufpassen, rät die Expertin.

Ich selber habe auch früher gesagt, ‚ich kämpfe für den Frieden‘, dann habe ich erkannt, ‚Kämpfen für den Frieden‘ ist eigentlich eine ziemlich paradoxe Formulierung. Heute bemühe ich mich. Obwohl Bemühen sicher ‚belastender‘ ist, weil es verlangsamt und erfordert, dass man Spannungen aushält; beim Kämpfen brauche ich Spannungen überhaupt nicht auszuhalten – die agiere ich aus; und dann haben wir halt die Amokläufe, weil es jemand nicht aushält, diese innere Spannung in Schwebe zu halten.

Machtbestrebungen, die nicht offen ausgesprochen würden, sieht Perner als großes Hindernis, man könne jedoch auf sie verzichten. An der Fakultät habe sie es schon erlebt, dass sich StudentInnen im Ton vergriffen hätten. Der Grund dafür sei, dass man sie eben als konfliktfähig betrachte und auch mit diesem Ton entsprechend umgehen könne. Man höre diesen Umgangston auch in der Supervision von Lehrkräften im schulischen Bereich: Die seien ebenso irritiert, wenn sie angesprochen würden „wie in einem Comic“.

Kommt das aus einem übertriebenen Selbstbewusstsein, künstlich geschürt?

Ich würde sagen: weder noch. Das sind die Modelle. Das ist das, was Jugendliche tagtäglich im Fersehen sehen, das ist für sie ganz normal. Auf der anderen Seite ist die Höflichkeit aus dem vorigen Jahrhundert – und da denke ich jetzt an die ersten 20 Jahre, als man noch ‚Sie, Herr Vater‘, ‚Sie, Frau Mutter‘ sagte – die haben wir überwunden. (…) Irgendwann werden wir schon in die Mitte kommen. Ich bitte dann mit Humor darum, mit mir so zu reden, dass ich es ‚aushalte‘.

Sie bedauert, dass dieser „echte Humor„, der eigentlich liebevoll sei, vielfach verloren gehe und wiederum in einen „aggressiven Humor“ umschlage – in Demütigung. Aber das könne man, so die Psychoanalytikerin, korrigieren – und sie selbst bemühe sich zumindest darum.

Österreich – die „Plüsch“-Variante in Sachen „Schmäh“ und Kommunikation … ?

Wir nehmen unsere Pillen ja auch meistens mit einem Zuckerüberguss, und nicht mit der Substanz pur“, so Perner.

Unlängst habe sie einen Artikel „leserfreundlich“ gestaltet; es sei aber die Rückmeldung gekommen, dass der Artikel zwar „gescheit“ aber zynisch geschrieben worden sei. Man habe ihren österreichischen Humor also nicht „kapiert„. Dann, so glaubt Perner, sei der Artikel eben nur oberflächlich gelesen worden, und das passiere eben in unserer Zeit.

Ich habe dann zurückgeschrieben: ‚Offensichtlich ist mein österreichischer Humor nicht erkannt worden.‘ Und die Rückmeldung kam dann: ‚Ajo, so kann man es auch sehen.‘

„Provo“-Pädagogik – braucht man das bei der heutigen Jugend?

Bei der von mir erfundenen Provo(kativ)pädagogik geht es darum, Aggressionen nicht mit Aggression zu beantworten, sondern entweder mit Humor oder mit großer Ernsthaftigkeit. Ich kann, wenn ich mich beleidigt fühle, auch versuchen, die faire Botschaft, die da drinnen steckt, mit meinen Worten so zu wiederholen, damit die andere Person dann sagt: ‚Ja, so habe ich das gemeint‘, und ich halte mich nicht mit der ‚Frechheit‘ auf.

Ein Beispiel: Wenn jemand z.B. sagt, im provokativen Tone: „Na, so geht des net, wie Sie sich des vorstellen!„, dann könne man im respektvollen Tone reagieren, wie z.B.: „Aha, Sie sind unzufrieden mit meinem Verhalten – wie hätten Sie es denn gern?“ Wenn die Antwort komme: „Na, i hätte des gern a so.“ Darauf könne man wieder reagieren: „Ja, da komme ich Ihnen gerne entgegen. Aber da könnte es Schwierigkeiten geben aus den und den Gründen. Haben Sie eine Idee, wie man das bereinigen kann?

Es sei nämlich oft der Ton, der Verletzungen entstehen ließe, und die Wurzel der Gewalt sei immer der Vergleich. Man sei sich diesem oft nicht bewusst. Es gebe aber Möglichkeiten, sprachlich auf gemeinsame Werte hinzuarbeiten.

Zurück zur Gewalt: Zunahme Gewalt in Europa – Anonymität. Wie geht es Ihnen da damit?

Perner sehe diesen als bloßen Forschungsgegenstand. Das Problem als „Forschungsgegenstand“ zu definieren wiederum, ließe sie dabei „gelassen“ bleiben. Die Intensität der Gewalt nehme tatsächlich zu, doch Gewalt habe es zwar immer schon gegeben. Heute kämen noch die medialen Vorbilder dazu sowie das Phänomen des „Bystander-Effekts“ – des Zuschauer-Effekts also: Die Leute würden zusehen, sich fürchten, aber nicht handeln. Man belustige sich – und das sei auch eine Form von Abwehr. Da eine gewisse Ernsthaftigkeit entstehen zu lassen, könne man aber schon mit Kindern trainieren und sie immer wieder darauf hinweisen, ob sie dies oder das als richtig empfinden und sie fragen, wie man es anders machen könnte. Die seien sogar ganz begierig darauf.

In ihren Abendvorträgen versuche sie immer alles zu erklären. Das sei wichtig, um sich z.B. mit seinen Gegnern einigen zu können. Den Blickwinkel mit dem Gegenüber zu teilen und zu spüren, wo genau die andere Person ihre Grenzen habe – das gehe bei manchen recht schnell, bei anderen wiederum würde „ein Menschenleben nicht ausreichen„.

Europa DIALOG Rotraud Perner

Das Verändern der Gesellschaft – in welchen Konzepten kann das für eine Gesellschaft tiefgreifend funktionieren?

Ich gebe Lehrkräften möglichst viel Anleitung und Theorie und versuche, sozialpsychologisches Wissen so zu vermitteln, dass diese im Beruf anwendet werden können. Das ist eine für mich effiziente Möglichkeit; die kann ich in meinem Alter noch bringen. Wäre ich 30, würde ich wahrscheinlich durch alle europäischen Hochschulen pilgern. Es gibt aber überall Ansätze und auch Personen, die sich bemühen. Und es gibt weiters die internationalen Konferenzen. Dabei dürfen wir aber nicht vergessen: Wir alle entwickeln uns. Wir müssen deshalb lernen, unseren ’seelischen Schließmuskel‘ zu trainieren.

Sie sehe das Problem in den Filmen, die vorgeführt würden. Man brauche eine Medienpädagogik mit neuem Inhalt. Es gehe eben stark ums Inhaltliche. Bei Filmen mit hohen Gewaltanteilen könne man z.B. nach dem Film einen Winzigspot mit einem medialen Leitbild/Vorbild zeigen, der sich nach dem Filmgeschehen über die Anwendung von Gewalt kritisch äußere. So werde dem Zuschauer bewusst, dass Gewalt verboten sei. Unter 14 sei es psychologisch erwiesen, dass Kinder nicht automatisch dazu fähig seien. Und in Pisa-Tests sollte die soziale Kompetenz berücksichtigt und überall, in allen Fächern, eingebaut werden.

Ist Kampfsport anzuraten?

Laut Perner: ja. Eine Frau dürfe auch wissen, was sie zu ihrer Sicherheit tun könne. Im Turnunterricht sollte man Grundformen der Selbstverteidigung lernen. Und das sehe sie heute sowohl bei den Buben als auch bei den Mädchen als notwendig.

Ist Kampfsport auch ein „Tool“, sich abzureagieren?

Das Geheimnis sei, so die Pfarrerin, das bewusste „Hineingehen“ in die Materie: Wenn man z.B. bewusst laufe, um sich abzureagieren; alles, was man bewusst tue, sei eine Form der „Reinigung„. Das Wichtige sei dabei überhaupt die Erkenntnis, dass etwas in einem „gärt„. Man solle sich nicht so leicht von der hohen Energie anderer anstecken lassen – vergleichbar mit dem Schunkeln bei der Musik, dem Lachen, und dem Traurigsein.

Wir haben ein Großhirn„, so die Analytikerin. Dieses könne angewendet werden, um auch weit in die Zukunft zu denken. Und das müsse man eben lernen. Üblicherweise sei das mit 14/15 Jahren möglich mit einem minimalen Maß an Anleitung. Es sei aber nie zu spät, dazuzulernen. Am besten lernen wir in einer „Beziehung„. Mit Hass und Strafe aber verschließe sich der Mensch.

Wie sollen wir mit Menschen umgehen, wo alle Modelle versagen – beim Extrem – z.B. Jihadismus?

Ich muss zuerst einmal versuchen, die andere Seite zu verstehen. Das wäre die Aufgabe von Experten, die sich mit der Geschichte, Mentalität, Religion, mit den Manipulationen auseinandersetzt, damit wir aus den Augen dieser Bevölkerungsgruppe oder Personengruppe die Ziele verstehen; die Problematik ist dort, wo sich jemand auf Gott beruft. Gott mordet nicht. In keiner Religion. Es sind immer die Menschen, die Gott dazu missbrauchen als übergeordnete Instanz. In jeder Religion ist Gott ein Gefühl, das wir personalisieren. Im Endeffekt ist Gott aber dieses tiefe Spüren und das Wissen: Das ist gut. Das ist lebensfördernd. Und das schlechte Gefühl dabei ist schlecht. (…) Je mehr wir vom Leben durchgebeutelt sind, desto mehr kommen wir drauf. (…) Wir brauchen Personen, die hier vermitteln können. Ich muss aus der Polarität herauskommen. Da brauche ich einen Brückenbauer. Jemanden, der, sehr in sich ruhend, die Fähigkeit hat, diese dritte Lösung zu finden. Denn dort, wo das jemand nicht will, habe ich keine Chance.

Die Möglichkeit: „Einsperren“ – bei Straftaten

Einsperren“ sei eine Möglichkeit, so die Juristin. Eine andere Möglichkeit sei es, gefährliche Personen zu kennzeichnen, das dem Prangermodell, der Stigmatisierung, der Ächtung eines Verhaltens gleichkomme. Man solle nicht die Person ächten, sondern sein Verhalten.

Wir befänden uns jedoch noch am Anfang, weil unsere europäischen Werte verletzt worden seien – und damit seien wir derzeit beschäftigt. Es sei noch viel Forschung nötig und die zur Kenntnisnahme, dass vieles, was für uns Normalität sei, aus der Sicht von anderen als total dekadent und krank gesehen werde. An unseren eigenen Pendel zu denken, habe man die letzten Jahrzehnte unglücklicherweise versäumt.

Österreich, näher betrachtet: Stichwahl Bundespräsident – ist dieses „Bild“ dramatisch?

Unterscheiden solle man zwischen dem, was nachweislich im Denken der Politiker verhaltensbestimmt sei, und dem, was die Anhängerschar lebe und demonstriere, verstehe und nicht verstehe, und dem Fakt, welche Kooperationsmöglichkeiten in den vergangenen Jahren nicht ausgenutzt worden seien. Darin zeige sich die Komplexität. Dazu kämen die internationalen Absprachen. Das alles benötige mehrere interdisziplinäre Blickwinkel, so die ehemalige Politikerin. Als Analytikerin empfinde sie die verschiedenen Bausteine interessant und deren Darlegung. Als Psychotherapeutin interpretiere sie den Hass in den sozialen Medien, das Gejohle bei den diversen Wahlkampfveranstaltung persönlich so:

Menschen, die sich in Sorge befinden, dass sich ihr Status – finanziell aber auch wertschätzenderweise – so vermindert, dass sie abstürzen könnten, neigen dazu, zu kompensieren: mit Lärm, mit Zusammenschluss (…). Man muss aufpassen, dass die Spaltung nicht passiert. Ein konkretes Verhalten ist, die Emotionen ‚rauszurülpsen‘ und dabei nicht zu formulieren, was man will und was man nicht will. Das muss man in der Schule lernen.

Mit Multiple-Choice-Tests könne man nicht Denken lernen, so die Analytikerin. Auch der Staatsfunk solle sich überlegen, wie man Denken vermitteln könnte. Die Quote allein solle dabei nicht wesentlich sein.

Wertekonzept – dazu braucht es einen Bildungsauftrag. Derzeit ist alles kommerzialisiert …

Das sei laut Perner besonders schwierig, und dafür bräuchte es eigentlich das Staatsfernsehen, um diesem „Kommerz“ zu entweichen. Sie kenne besonders die Vorurteile, die geschürt würden und bemerke an der Meinung der Jugend, dass die Geschwindigkeit das Problem sei, um Verständnis beibringen zu können. Deshalb sei ein Aufeinanderzugehen im Tempo wichtig.

Es gehe darum, an der Substanz zu arbeiten und sich auf eine Grundspielregel zu einigen.

Medial wird alles schlecht gemacht. Was wäre die „Pernerische“ Lösung: alles gutzureden?

Wenn man alles gutrede, so handle es sich dabei auch nur um klassisches NLP, sei aber nicht die Lösung. Man solle in der Wahrheit bleiben und die eigenen Manipulationsgewohnheiten erkennen und darauf verzichten.

Utopischerweise sehe sie es als gute Lösung an, wenn alle politischen Parteien dem „Boulevard“ keine Förderungen mehr gäben – die hätten so und so ihre Inserenten. Das Manipulieren mit Slogans stelle eine einfachere Lösung dar. Deshalb sei Perner für die bereits erklärte Provo-Form: Das Enthebeln dieser Manipulationen mit Humor im Sinne von „Des Kaisers neue Kleider“ – da spricht das Kind die Wahrheit, nämlich: „Aber der is ja nackert.

Als positiv denkender Mensch sehe ich die Lösungen nicht – unbefriedigend …

Das Rezept in jeder Mediation bedeutet: Ich habe Position A und Position B – ich muss das ‚übergeordnete Dritte‘ suchen. Das, wo beide sagen: ‚Das ist uns so wichtig; deswegen sind wir bereit, einander entgegenzukommen.‘ Raus aus der Kampf-/Schusslinie – ich muss ein Feld schaffen, in dem wir alle unsere Positionen einnehmen können, aber das Leitbild muss das ‚übergeordnete Dritte‘ sein.

Das „Dritte“ sei der Wert, der für beide Teile stimme, der z.B. bei Eltern das Kindeswohl sei; oder wenn eine Person nicht loslassen wolle, dann sei das Dritte in diesem Punkt die Selbstbestimmung, die Freiheit, die Lösung. Das sei Aufgabe der mediierenden Personen, die in der Sprache vermildern und verdeutlichen könnten, damit die Message für die andere Person akzeptabel würde, was dazu führe, dass sich das Klima verbessere und man offener würde. Aber dazu fähig zu sein, sei eine besondere Kompetenz, die erlernbar sei.

Der Begriff „Spaltung“ ist für Perner diabolisch (altgriechisch): auseinanderreißen, verwirren. Der Diabolos sei der Verwirrende, der wolle, dass sich die zwei Teilen feindlich gegenüberstehen. Jeder binäre Code, jede Dichotomie in Gut und Böse, Gesund und Krank, Schön und Schirch sei der Beginn, das Andere zu befeinden. Lösung: sich Schritt für Schritt dem Feind zu nähern und sich seinen eigenen Ängsten zu stellen.

Als Beispiel nannte sie ein persönliches Erlebnis im Stadtpark, als sie als promovierende Juristin im Stadtpark von drei „düsteren Gesellen“ bedroht worden sei. Da habe sie „aus dem Herzen“ reagiert und sie habe zu ihnen gesagt: „Ihr macht mir Angst, ihr solltet mich eher beschützen.“ Daraufhin sei sie von diesen Männern sogar nach Hause begleitet worden. Dieses spontane Reaktion „ihr macht mir Angst“ sei kein generelles Rezept, aber  entspreche der Mediation. Was die Attackierenden und die Attackierten miteinander verbinde, sei nämlich das Klima der Angst. Laut Exorzismustechnik sei es gut, das anzusprechen. Das unausgesprochene Belastende müsse also erkannt und angesprochen werden.

Friedensbemühungen werden doch immer als Schwäche ausgelegt?

Das sei das militärische Modell und der Spruch: „Wer einen Hammer hat, sieht alles als Nagel“ militärischer Natur und man sei auf Kampf eingestellt. Dabei würde die andere Person unterworfen oder vernichtet werden. Und Friedensbewegungen als Schwäche gesehen. Wirklich stark sei aber die Person, die die Schwäche integriert habe und wirklich in ihrer Mitte sei. Das sei z.B. deutlich bei den Meistern östlicher Kampftechniken erkennbar, die darauf trainiert seien, auf den unbedingt notwendigen Moment zu warten, in dem sie dann die eine Handlung setzen, bei der die andere Person ins Leere laufe.

Es gibt Personen, die diese Stärke haben, nämlich Stärke als Balance zwischen Stärke und Schwäche – das ‚übergeordnete Dritte‘. Das merkt man beim Dalai Lama, und auch beim Kardinal König. Man kann auch ‘Gelassenheit’ dazu sagen. (…) Es geht wirklich darum, aus dieser Zweiteilung heraus zu kommen. Das ist eine Lebensaufgabe. (…) Es sind die kostbaren Momente: wenn wir miteinander philosophieren, Weisheiten lieben und an unserer eigenen Weisheitsentwicklung arbeiten.

2010, evangelische Theologie als bekannte Sexualtherapeutin – letzten April sind Sie als Pfarrerin im Ehrenamt eingesetzt worden, wurde da ein „Tabu“ gebrochen?

Das sei das Lutherische in Perner: „Wir kennen keine Tabus„, meint sie humorvoll. Die Pfarrerin sei dem Kritischen ebenso kritisch gegenüber eingestellt. Der „lebendige Gott“ würde gespürt, nicht gedacht. Unsere Menschlichkeit sei es, diese in anderen zu spüren. Tragisch sei es, dass einige das Menschliche „sehr tief einbetoniert“ hätten. Aber mit viel Geduld könne man aber aus Beton wieder Pflanzen heraussprießen lassen. Das scheitere aber leider am Geld, nicht aber am „Personal„.

Das Spirituelle, die Seele, der Sinn des Lebens – wo wurzelt die Seele?

Für mich heißt Seele: Das ist mein Resonanzkörper, mit dem ich von außen und innen reagiere – wie ein Klavierkorpus, ein Flöteninnenraum. Ich kann nur sagen: Ich bemühe mich so weit es mir möglich ist, niemanden seelisch zu verletzen. Ich weiß, dass, wenn ich im Hochstress bin, meine Fähigkeit dazu abnimmt. Deshalb bemühe ich mich, Methoden für Hochstressituationen zu entwickeln . (…) Ich sehe, wie stark sich die Arbeitswelt verändert hat in den letzten 20 Jahren und es Menschen massiv unmöglich gemacht wird, sich menschlich zu verhalten. Und dagegen möchte ich etwas tun, solange ich dieses Leben habe.

Als Pfarrerin: Wollen Sie uns „etwas Gutes“ wünschen, um etwas bitten?

Für mich ist Seelsorge eher damit verbunden, Menschen zu helfen, ihr eigenes Potenzial dafür, auch schwierigste Situationen überleben zu können, zu finden. Das ist für mich auch Gott, der das wachsen lässt. Ich kann es natürlich auch naturwissenschaftlich beschreiben. Es gibt viele Sprachen. (…) Und ich denke, das, was wir Gott nennen, besteht auch darin, unser Potenzial der Hoffnung und des Vertrauens zu spüren. Ich kenne das bei mir selbst, wenn ich mich nämlich in schwierigen Situationen befunden habe, (…) dann nehme ich wahr: So geht es mir jetzt, aber ich weiß nicht, wie es mir in zwei Stunden geht. Und dieses Wissen: ‚Ich weiß nicht, was passiert, aber wenn ich im Zustand des Vertrauens bin, fällt mir viel mehr ein, als wenn ich im Zustand der Angst bin‘ – das nenne ich Gott.

Zum Abschluss: Welche Botschaft geben Sie uns mit?

Nicht die Nerven zu verlieren, wenn sich plötzlich mehrere nur eine einzige Lösungsmöglichkeit einigen. Weniger in Quantität zu denken, mehr in Qualität. In der Diversität liege auch die Erneuerung und der Fortschritt.

Perner zeigt sich hoffnungsfroh, doch sie weist darauf hin, dass alles Zeit brauche. Besser sei es, zu „entschleunigen“ und nicht sofort „Skandal“ zu schreien, ist nicht gleich eine Lösung parat. Denn das sei laut der Psychoanalytikerin nicht das „menschliche Maß“.

Credits

Image Title Autor License
Europa DIALOG Rotraud Perner Europa DIALOG Rotraud Perner 1 ©
Europa DIALOG Rotraud Perner Europa DIALOG Rotraud Perner 1 ©
Europa DIALOG Rotraud Perner Europa DIALOG Rotraud Perner 1 ©
Europa DIALOG Rotraud Perner Europa DIALOG Rotraud Perner 1 ©