Paradox: privat sauber, aber öffentlich unsauber

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Meinung

Es besteht kein Zweifel: Indien sticht international betrachtet als äußerst unsauberes Land hervor. Die meisten Menschen, die Indien besuchen, zeigen sich überrascht, wie vordergründig hier Müll, Abfallprodukte und Umweltverschmutzung zu sehen sind. So entsteht das Bild eines einzigartig unhygienischen Landes und vielleicht auch das des schmutzigen Inders. Nur sehr wenige Inder können die Tatsache bestreiten, dass der viele Dreck in ihrem Land auf einzigartige Weise omnipräsent ist.

Fakt ist, dass der Grad der Verschmutzung in Indien extrem hoch ist. Und daran sind natürlich auch die Inder beteiligt. Die Luft- und Wasserqualität ist vielerorts horrend: Straßen, Flüsse, Seen, Strände und fast jede Ecke in Indien scheinen mit Müll und Plastik übersät zu sein. Nur wenige ausgewählte Orte in den Städten können als wirklich sauber und frei von Müll und Abfall bezeichnet werden. Jeder in Indien ist sich dieser Situation bewusst. Somit mag es bei den meisten Menschen manchmal den Anschein erwecken, als seien die Inder bereits resistent gegen den Schmutz in ihrem jeweiligen Umfeld.

Ich habe bereits mit vielen Touristen aus dem Ausland gesprochen. Diese zeigten sich schockiert und sprachen die Berge von Müll, die Tierabfälle, die offenen Abwasserkanäle und den Plastikmüll entlang der Straßen der meisten indischen Städte an. Dieses unsaubere Hygieneverhalten vieler Inder entsetzte sie, machte sie aber auch neugierig.

Ja, manchmal war es mir peinlich, als viele meiner Freunde aus dem Ausland bei mir ihre Empörung über den Sauberkeitszustand in Indien zum Ausdruck brachten. Und um ganz ehrlich zu sein: Manchmal wünschte ich, ich hätte ein paar Konter. Aber es gelang mir nicht zu kontern. Denn es ist nun einmal so, dass ein Großteil der Bevölkerung in Indien immer noch im Freien defäktiert. Das Urinieren im Freien ist immer noch weit verbreitet. Der Gestank des Urins, der von den Mauern, gegen die sich die Menschen „entledigen“, kommt, ist keine Übertreibung. Fast jeder Inder, der einen Sinn für Hygiene hat, zeigt sich über die Maßen frustriert ob dieser unsauberen Zustände. Denn als Inder ist man ab und zu gezwungen dazu, sich damit auseinandersetzen. Wer lebt denn schon gerne im Dreck? Wir Inder sind selbst die meiste Zeit extrem angeekelt davon, wie viel Dreck und Umweltverschmutzung in unserem Land vorzufinden ist.

Ich selbst fühle mich von diesen unsauberen Verhältnissen überall in Indien angewidert. Deshalb macht es logischerweise keinen Sinn, sich beleidigt zu fühlen, wenn ein Mensch aus einem entwickelten Land, in dem Sauberkeit und Hygiene funktionieren, sein Entsetzen und seine Abscheu zum Ausdruck bringt. Es ist doch klar, dass sie die Situation in Indien kritisieren. Aber um ehrlich zu sein, ich bin beleidigt.

Ich habe über meine paradoxen Gefühle nachgedacht, die durch diese Rufschädigung Indiens als schmutziges und einzigartig unsauberes Land bei mir hervorgerufen werden. Sicherlich hängen diese Gefühle nicht mit irgendeinem extremen Patriotismus zusammen. Ich bin meinem Land und seinen Menschen zutiefst verbunden, habe aber sehr wohl auch sehr viel an den sozialen Zuständen hier zu kritisieren.

Vielleicht bin ich ja beleidigt, weil ich als Insider sozusagen weiß, wie hoch die Sauberkeit in indischen Haushalten gehalten wird. Ich wuchs in dem Glauben auf, dass man als Inder den sehr strengen Regeln des „Shauch“ folgt, also Hygiene und Sauberkeit. Körperpflege ist in indischen Haushalten ein derart wichtiges Thema, dass man der Meinung sein könnte, ihre Hygienemaßnahmen seien jenen der westlichen Ländern haushoch überlegen. Und hier treffen nun das Paradoxon und der Schock zusammen: Ein Land, das von Ausländern als völlig unrein angesehen wird, besteht tatsächlich aus Menschen, die nahezu besessen sind von Sauberkeit und Hygiene in ihrem persönlichen Lebensbereich.

Geht es um Vielfalt, so werden in Indien viele verschiedene Religionen praktiziert. Doch die Mehrheit der Bevölkerung sind Hindus. Ich möchte hier gleich erwähnen, dass der Hinduismus zwar als Religion angesehen wird, aber eher als „Lebensweise“ und nicht als Religion verstanden werden sollte. Diese „Lebensweise“ spiegelt sich im Leben auch jener Menschen wider, die sich in Indien anderen Religionen bekennen. Somit lässt sich die Behauptung aufstellen, dass die Gewohnheiten und Denkweisen aller Inder unabhängig von ihren religiösen Überzeugungen sehr kohärent sind.

Sauberkeit wird im Alltag der Hindus in hohem Maße praktiziert, besonders wenn es um die Durchführung religiöser Bräuche geht. Auch Inder, die anderen religiösen Glaubensrichtungen wie Buddhismus, Jainismus, Islam und Christentum folgen, messen der Reinigung mit Wasser große Bedeutung bei, die daher in indischen Haushalten sehr verbreitet ist. Es ist interessant festzustellen, dass Hygiene und Sauberkeit viel mit Religion zu tun haben, in Indien aber kaum ein säkulares Thema sind.

In den meisten Haushalten betreten Frauen die Küche niemals, ohne vorher ein Bad genommen zu haben. Viele, die nun denken, dass die Inder keinen Sinn für Hygiene hätten, sind nun wohl etwas überrascht, dass die Körperpflege bei so vielen Menschen in Indien derart hochgeschrieben ist – nämlich jedes Mal ein Bad zu nehmen, sobald man seinen Darm entleert hatte. Diese Maßnahme wird besonders von den Hindus praktiziert. Wichtig ist es aber, auch zu verstehen, dass die Wurzeln dieser Praktiken im religiösen Chauvinismus liegen und schließlich eine Herablassung für jene bedeuten, die sich solche Hygienerituale nicht leisten können.

In diesem Artikel möchte ich jedoch vielmehr betonen, dass ein Land, das international eigentlich als einzigartig unrein angesehen wird, eine Geschichte und eine uralte Tradition von strengen Hygiene- und Sauberkeitsregeln aufweist. Die alte hinduistische Gesellschaft hat nicht nur eine strenge hygienische Disziplin geschaffen, sondern auch diejenigen dissoziiert und entrechtet, die sich nicht an diese sozialen Bräuche in Bezug auf Körperpflege und Sauberkeit hielten. Und bis heute ist es in der indischen Gesellschaft üblich, von den Ältesten getadelt zu werden, hält man sich nicht an ordentliche Sauberkeitsrituale.

Die faszinierende Frage steht jedoch weiterhin im Raum, wie ein Land, das derart strengen Praktiken hinsichtlich ihrer persönlichen und sozialen Hygiene folgt, heute gleichermaßen mit Dreck und üblen Gerüchen in Verbindung gebracht wird? Und genau diesen Punkt möchte ich in meinem nächsten Artikel behandeln.

Übersetzung Englisch-Deutsch: Anna Dichen

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Solid_waste_used_to_build_a_road- Solid_waste_used_to_build_a_road- Rémi Kaupp CC BY-SA 3.0