Wie Spitze und Ende die Erinnerung bestimmen

Wie Spitze und Ende die Erinnerung bestimmen
Lebenswelten

Wenn du über deine Erlebnisse der Vergangenheit nachdenkst – woran kannst du dich erinnern?

Die „Peak End Rule“ (was soviel wie „Spitze-Ende-Regel“ bedeutet) sagt uns Folgendes:

Entsprechend dieser Regel hängt unsere Erinnerung an vergangene Erlebnisse, egal ob erfreulich oder unerfreulich, nicht vom Durchschnitt an positiven oder negativen Gefühlen, sondern vom extremsten Punkt der Episode sowie ihrem Ende ab.

(Kahneman & Tversky, 1999)

Am Anfang war ich dieser Theorie gegenüber eher abgeneigt, aber dann versuchte ich, sie anzuwenden. Und tatsächlich, wenn ich meine Reiseerlebnisse als Beispiel nehme, dann ist das Erste, was mir in den Kopf kommt, der Moment, in dem ich ein Gefühl oder mehrere Gefühle zur gleichen Zeit und mit ihrer vollen Intensität spürte. Das passiert sehr selten und meistens dann, wenn wir es nicht erwarten.

Und ich kann niemals die Gefühle vergessen, die ich am Ende eines jeden Trips hatte. Manchmal freute ich mich auf meine Rückkehr, dann wieder war ich so verliebt in einen Ort und die Leute dort, dass ich nie wieder weg wollte. Bei wieder anderen Gelegenheiten spürte ich, dass ich alles gelernt hatte, was es bei diesem Abenteuer zu lernen gab, und dass es nun Zeit war, dies in mein Alltagsleben zu integrieren.

Aber lasst mich genauer und persönlicher werden und meine Reiseerlebnisse als Beispiele benutzen:

Das erste Reiseerlebnis – und das, was definitiv einen enormen Einfluss auf die Person hatte, die ich heute bin – war meine Erfahrung als Freiwillige in den USA und in Brasilien.

Reise 1: USA

Spitze:

In den USA verbrachte ich drei Monate, während derer ich ein Training für meine zukünftige Freiwilligenarbeit in Brasilien absolvierte. Wir mussten erstmal Spenden sammeln, um überhaupt dorthin zu gelangen und für die geplante Zeit zu bleiben. Im Winter zehn Stunden vor einem Supermarkt zu stehen und Menschen zu fragen, ob sie uns für diesen Zweck eine Spende geben würden, und dabei das Gefühl der Demut zu ertragen und zu lernen, wie man mit unfreundlichen Antworten umgeht, war definitiv die Spitze meines Aufenthaltes in den USA.

U.S.A.

Ende:

Als ich New York verließ, war ich voller Freude auf das, was mir bevorstand – Brasilien! – und voller Stolz darauf, dass ich es geschafft hatte, mich da durchzubeißen, ohne mich von der Tatsache beeinflussen zu lassen, dass ich die Jüngste in meinem Team war. Ich kann dieses Gefühl noch immer spüren, und es ist echt toll!

Reise 2: Brasilien

Spitze:

In die Gemeinschaft aufgenommen zu werden und in der Lage zu sein, auf Portugiesisch zu kommunizieren. Nach eineinhalb Monaten meines viermonatigen Aufenthaltes hatte ich es endlich geschafft, mich als Teil der Gesellschaft zu fühlen. Es war ein harter Kampf, aber am Ende hatte ich das Gefühl, ein neues Zuhause gefunden zu haben.

Brasilien

Ende:

Ich war kurz vor meinem Rückflug von Sao Paulo von einem Trip zum Amazonas zurückgekommen, wo ich mich noch mehr in Brasilien und die Schönheiten dieses Landes verliebt hatte. Als ich am Packen war, begann ich traurig zu werden und fühlte eine Art Angst, dass ich nach einer so aufregenden Erfahrung niemals wieder 18 sein würde und so etwas nicht noch einmal erleben könnte, weil ich vielleicht nie wieder die Gelegenheit und die Zeit hätte, nach Brasilien zurückzukehren.

Reise 3: Norwegen

Spitze:

Auf dem Kjeragbolten rumzuklettern, ganz klar. Ich erinnere mich, wie meine Freundin mir sagte, wir würden für vier Tage in die norwegischen Berge fahren. Ok, sagte ich. Ich hatte keine Ahnung, dass ich an einen Ort reisen würde, den ich so lange für völlig unwirklich gehalten hatte.

Norwegen

Ende:

Ich war traurig, mich wieder von meiner Freundin verabschieden zu müssen. Doch ich war bereit, nach Hause zurückzukehren, mich wieder in die Gesellschaft zu integrieren und mit meinem Studium zu beginnen, nachdem meine Erfahrung in Brasilien noch so frisch war. Ich fühlte mich endlich bereit für das „wirkliche“ Leben. Ich glaube, dass die Kombination aus Bergen und guter Gesellschaft alles heilen kann!

Reise 4: Portugal, Spanien, England und Österreich

Spitze:

Diese Reise war ganz sicher eine besondere! Ich mochte ihre Spontaneität.

Es war eine Reise, die ich unternahm, um mich selbst zu finden und ein paar Dinge zu klären. Es war das erste Mal, dass ich alleine verreiste, und kurz zuvor war meine Mutter gestorben. Ursprünglich hatte ich geplant, nur zehn Tage in Portugal zu verbringen, aber am Ende wurde ein ganzer Monat daraus.

Ich erinnere mich daran, wie ich in Braga war und diese faszinierende Aussicht vor mir hatte. Ich betrachtete den Sonnenuntergang und dachte an meine Mutter, weil sie genau ein Jahr zuvor an genau demselben Ort ebenfalls ein Foto gemacht hatte. Ich fühlte mich ihr nahe. Das war definitiv meine Spitze.

Portugal, Spanien, England und Österreich

Ende:

Mein letztes Ziel war Wien. Auch wenn ich ein bisschen Angst davor hatte, wieder nach Hause zurückzukehren und meine Mutter dort nicht mehr vorzufinden, wusste ich, dass sie gewollt hätte, dass ich mein Leben auf dieselbe Art weiterführe. Ich machte es zu meiner Priorität, für sie zu leben, die Entscheidungen zu treffen, die sie für mich gewollt hätte, sie ganz einfach stolz zu machen. Mit diesen Gedanken in meinem Kopf war ich bereit, Verantwortung für mein Leben zu übernehmen. Am nächsten Tag nahm ich also ein Bla Bla Car (einen Mitfahrservice) und fuhr heim.

Reise 5: Donaudelta

Spitze:

Seit ich klein war, träumte ich davon, einmal das Donaudelta zu sehen, die Schönheit meines eigenen Landes zu entdecken. Ich reiste mit meiner Freundin und ihrer Familie dorthin. So einen typisch rumänischen Urlaub zu erleben, war ein Riesenspaß! Ich war so glücklich darüber, dass die Traditionen noch immer sorgsam fortgeführt werden, und konnte nie genug bekommen von der aufregenden Schönheit der Natur.

Donau-Delta

Ende:

Wir beendeten den Trip mit einem dreitägigen Besuch bei meinen Großeltern. Meine Kindheitserinnerungen noch einmal zu erleben und die Liebe meiner Großeltern noch einmal zu spüren war alles, was ich brauchte.

Reise 6: Marokko

Spitze:

Die Sahara, ganz sicher. Wir verbrachten eine Nacht im Freien unter dem Wüstenhimmel. Ein Gewitter zog herauf, so dass wir die Blitze und die Sterne gleichzeitig sehen konnten. Es fühlte sich an, als ob sich etwas Magisches ereignet. Wir fühlten uns jung und wild und frei.

Marokko

Ende:

Normalerweise wünsche ich mir nach einem so aufregenden und wilden Erlebnis, dass es niemals enden würde. Aber dieses Mal war es genau das richtige Verhältnis. Ich war dankbar für alles.

Dies sind einige meiner Reisen, die einen großen Einfluss auf meine Entwicklung zu der Person hatten, die ich heute bin. Definitiv sind die Spitze und das Ende jedes Erlebnisses das, woran ich mich zuerst erinnere, wenn ich daran denke, und es ist auch das, was mein generelles Gefühl von dieser Sache bestimmt, sowie das, was ich für mein Leben mitnehme.

Wenn ihr euch an eure Erfahrungen erinnert, die ihr durch verschiedene Beziehungen, Abenteuer oder Reisen gewonnen habt – was sind eure Spitzen und Enden, und was ist euer generelles Gefühl in Bezug darauf?

Übersetzung Englisch-Deutsch: Martin Krake

Credits

Image Title Autor License
Marokko Marokko Carina Toma CC BY-SA 4.0
Donau-Delta Donau-Delta Carina Toma CC BY-SA 4.0
Portugal, Spanien, England und Österreich Portugal, Spanien, England und Österreich Carina Toma CC BY-SA 4.0
Norwegen Norwegen Carina Toma CC BY-SA 4.0
Brasilien Brasilien Carina Toma CC BY-SA 4.0
U.S.A. U.S.A. Carina Toma CC BY-SA 4.0
Wie Spitze und Ende die Erinnerung bestimmen Wie Spitze und Ende die Erinnerung bestimmen Carina Toma CC BY-SA 4.0