Wir fühlen uns schuldig, wenn …

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Meinung

Schuldgefühle gehören zu uns wie das Amen im Gebet. Als sozialer Mechanismus sollen sie Gruppenmitglieder davon abhalten, einander zu verletzen, als direkte Folge von Fehlverhalten Unwohlsein hervorrufen und das Individuum darin bestärken, von gemeinschaftsschädigendem Verhalten abzulassen. Was mit Sicherheit niemals vorgesehen war, ist jenes ständige Hintergrundrauschen von diffuser Schuld, mit dem der moderne Mensch dieser Tage recht und schlecht zu leben versucht. Denn es gibt kaum noch einen Aspekt des menschlichen Daseins, der nicht mit unerfüllbaren Vorgaben und somit ständiger Schuld behaftet ist. Oft genug sind die Anforderungen obendrein widersprüchlich. Werfen wir einen Blick auf die breite Palette von angeblichen Unzulänglichkeiten, die uns den Blick auf uns selbst verstellen und ständige Scham verursachen …

Wir fühlen uns schuldig, wenn wir rasten

Jede Minute der Muße, jeder Tag ohne vorzeigbare Ergebnisse ist uns ein verlorener Tag. Viele von uns können keine Sekunde stillsitzen, weil uns mit so viel Nachdruck von klein auf der Fleiß als oberste Tugend und Selbstzweck – mehr noch: als einzige Daseinsberechtigung – präsentiert wurde. Ständige Betriebsamkeit ist vielen von uns zur zweiten Natur geworden. Vielleicht auch, weil wir Momente der Ruhe letzten Endes nicht ertragen können. Zu viel verdrängte Unzufriedenheit will uns ins Bewusstsein dringen, sobald wir aufhören, uns abzulenken. So tief ist die Unruhe, dass wir sie nur durch pausenloses Erarbeiten von gefühlten Bonuspunkten abführen können. Man kann uns nichts vorwerfen, wir sind brav und emsig.

Wir fühlen uns schuldig, wenn wir essen

Bis auf die wenigen Glücklichen, die auf ihr Gewicht nicht im Geringsten achten müssen, schaffen wir es kaum, das Bewusstsein über den Kaloriengehalt unserer Speisen zu vergessen. Doch selbst wer kalorisch mühelos im Rahmen bleibt, muss sich Gedanken über Nährwert, Zusatzstoffe, faire Produktionsbedingungen, Umweltschäden und Genmanipulation machen. Das Angebot an Nahrung gibt viel Grund zu zwiespältigen Gefühlen – und so ist ein weiteres Grundbedürfnis mit Schuld behaftet.

Wir fühlen uns – sofern konservativ erzogen – schuldig, wenn wir Sex haben oder auch nur daran denken

Zwar ist zumindest der Geschlechtsverkehr zwischen ordentlich verheirateten Eheleuten davon ausgenommen, mit Schuld und Ekel behaftet zu sein – doch wer von Kindheit an über zahlreiche Kanäle (und großteils obendrein unterschwellig und somit nicht hinterfragbar) die Botschaft eingehämmert bekommen hat, dass jegliche sexuelle Aktivität schmutzig, unanständig und tabu ist, wird sich schwer tun, dieses Paket von Lebensdirektiven plötzlich beiseite zu legen und mit dem Ehepartner sorglos und fröhlich all seine Wünsche auszuleben. Nicht umsonst boomen die Beratung und Therapie auf diesem Gebiet, nicht umsonst gibt es Bordelle, und nicht umsonst treibt der Fetischismus immer wildere Blüten. Unterdrückte Grundbedürfnisse neigen dazu, sich ihren Weg zu bahnen und letztlich umso kompromissloser (und im allgemeinen liebloser) an die Oberfläche zu kommen.

Behaften uns die elementarsten Wünsche schon tagtäglich mit einem Gefühl der Unzulänglichkeit, so finden wir darüber hinaus noch zahlreiche weitere Versäumnisse und Fehler, die sich als Selbstvorwurf eignen:

Wir fühlen uns schuldig, wenn unser Heim nicht ordentlich und ansehnlich genug ist

In den 1950ern kamen allerlei technische Erleichterungen auf den Markt, die es der neuen Mittelschicht erlaubten, Sauberkeit herzustellen, wie sie bis dahin nur mit einer Armada von Hausangestellten möglich war. Gleichzeitig wuchsen die Ansprüche jedoch in geradezu lächerliche (und schädliche) Höhen. Täglich frische Kleidung, eine blitzblanke Küche, Glastische, auf denen man jedes Staubkorn sieht. Wir schufen uns Arbeit, statt sie zu vermindern.

Wir fühlen uns schuldig, wenn wir nicht fröhlich und gesellig sind

Extrovertiertheit ist das Maß aller Dinge geworden. Wer lieber daheim sitzt und sich auf Parties unwohl fühlt, wird nicht akzeptiert, wie er ist, sondern zur Veränderung aufgefordert. Wer gar depressiv oder auch nur melancholisch ist, muss zusätzlich noch damit leben, diese Gefühle ständig zu verstecken. Andere fühlen sich belästigt, wenn man nicht funktioniert. Und so sind wir kollektiv darum bemüht, immer verfügbar, immer quirlig, immer lustig und aufgeweckt zu sein. Dass unsere Beziehungen verarmen, wenn wir alle als negativ gebrandmarkten Empfindungen konsequent ausklammern, fällt kaum noch auf.

Wir fühlen uns schuldig, wenn wir nicht erfolgreich genug sind

Obwohl die absolute Blütezeit der Selbstdarstellung inzwischen vielleicht – hoffentlich – schon wieder überwunden ist, sitzt der Reflex doch tief, sich unzulänglich zu fühlen, wenn andere ihren Reichtum zur Schau tragen. Dieses schicke Lokal, jenes weit entfernte Urlaubsland, hier eine Beförderung und da ein perfekt inszeniertes Selfie … in diesem Rennen kann man nur verlieren, da man sich nicht mit einzelnen, sondern mit allen anderen zugleich misst. Der Mensch selbst ist nicht mehr viel wert. Es sind seine Erfolge und Statussymbole, die ihn definieren.

In Summe kann man sagen …

Die innere Welt, die wir für uns entworfen haben, gleicht einer Vorhölle. Alles, was Säugetiere den lieben langen Tag von Natur aus tun und tun wollen, ist uns verboten oder mit Schuld behaftet. Wir haben zu jedem Zeitpunkt etwas, wofür wir uns schlecht fühlen können und müssen. Die Liste an Makeln wird immer länger, das verdrängte und doch allgegenwärtige Gefühl immer überwältigender. Wir sind in ständiger Bringschuld, immer hintennach – und dadurch umso empfänglicher für klare Anweisungen, wie richtiges Verhalten auszusehen hat.

Schuld ist ein fantastisches Kontrollinstrument. Die Frage nach dem Verschulden wird somit konsequenterweise auch sofort aufgeworfen, wo auch immer etwas schiefgeht – viel schneller und oft sogar anstelle der Frage nach der Lösung für das Problem. Wen wundert es da, dass unser ganzes Geldsystem auf ständig wachsende Schulden aufgebaut ist, ohne dass jemand gegen diesen offensichtlichen Unsinn protestiert?

Wir übertragen das religiöse Prinzip der Buße auf unser Schulsystem und halten ein auf Fehler fokussiertes Schulwesen für förderlich und notwendig. Wir übertragen es auf das Wirtschaftssystem und halten den Ruin von Familien und ganzen Ländern durch maßlose Zinsen für gerecht. Es ist der faire Preis für Kredite, die in unseren Köpfen mit einem Leben weit über die Verhältnisse verknüpft sind. Wie oft sie real nur verwendet werden, um das Nötigste abzudecken oder wettbewerbsfähig zu bleiben, entgeht unserem moralischen Kompass, und so verteidigen wir das Konzept mit Inbrunst und Empörung.

Wie wohl eine Gesellschaft aussähe, die sich mehr auf das Lernen aus Fehlern und die Akzeptanz von Unvollkommenheit konzentriert, als darauf, dass man sich ihrer beider möglichst nachhaltig, aber still und leise schämen sollte?

Credits

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8001194963_8d7ce85227_o 8001194963_8d7ce85227_o Nadja Varga CC BY-SA 2.0