Der geforderte Mensch – Normalität als Herausforderung? (Sommergespräche 2021)

Gesellschaft

Die erste Veranstaltung der 37. Internationalen Sommergespräche der Waldviertel Akademie fand am 3. September in Weitra statt und stellte uns Menschen in den Mittelpunkt der Diskussion:

Wie hat sich unser Bild von Mensch-Sein verändert im Angesicht der Krise? Was bedeutet Normalität für uns? Welche Auswirkungen hat die Covid-19-Pandemie auf unsere Psyche?

Laut Moderator Thomas Samhaber ist der erste Referent ein intellektuelles Urgestein: Univ. Prof. Dr. Peter Kampits ist unter anderem der Vorsitzende des wissenschaftlichen Beirats der WALDVIERTEL AKADEMIE und Mitglied der Bioethikkommission im Bundeskanzleramt. Er stellt seine Ausführungen unter den Titel „Der ver-rückte Mensch. Haben wir jedes Maß und allen Verstand verloren?“ und definiert neben dem Covid-19-Virus, noch drei weitere Viren: Das Virus des Digitalen, das Virus des Klimawandels und der Umweltzerstörung sowie das Virus einer aus den Fugen geratenen gefräßigen globalen Marktwirtschaft. All diese viralen Effekte sind eng miteinander verknüpft und bestimmen unsere individuellen, gesellschaftlichen und politischen Handlungsräume.

Mit der Digitalisierung wird der Mensch zu einem lenkbaren Objekt von Produktion und Konsum. Die Möglichkeiten, den menschlichen Körper technisch-wissenschaftlich zu manipulieren, sind gewaltig. Peter Kampits spricht unter anderem auch über die Überwachungs- und Missbrauchsmöglichkeiten, die mit der Digitalisierung einher gehen. Zudem muss uns bewusst sein, dass die Anhäufung von Informationen nicht mit Bildung gleichzustellen ist. Seiner Meinung nach überwiegen die Nachteile der Digitalisierung die Vorteile bei weitem. Die menschliche Zuwendung, die für unsere Körperlichkeit notwendig ist, kann nicht durch eine Maschine ersetzt werden. Auch zu Social-Media äußert sich Kampits kritisch: Den Ersatz für Kommunikation müssen wir in uns selbst finden.

Der Begriff der „Normalität“ ist für den Philosophen ebenso problematisch, da er immer den Lebensumständen geschuldet ist und von Person zu Person verschieden ist. Der Alltag kann von Privilegien oder Ausnahmezuständen geprägt sein. Peter Kampits ruft dazu auf, trotz des Viralen, das uns bedroht, zu einem umfassenden Vernunftbegriff zurückzukehren und aus diesem ein neues Maß für globales, nationales und regionales Handeln abzuleiten. Wir müssen den Mut für eine Zivilgesellschaft, die sich gewisse Dinge nicht gefallen lässt, wiedergewinnen.

Die Philosophin, Publizistin und Dozentin Mag. Dr. Lisz Hirn fordert Aktivismus von den Teilnehmern, um einen gesellschaftlichen und ökologischen Mindestanstand möglich zu machen. In ihrem Statement mit dem Titel „Krisen ohne Ende: Und was jetzt?“ macht sie zudem deutlich, dass wir nicht nur für uns selbst, sondern auch für das Leben anderer Mitmenschen und nachfolgender Generationen verantwortlich sind.

Lisz Hirn stellt sich der Frage, was den Menschen überhaupt ausmacht. Sie sagt, dass wir die einzigen Wesen sind, die beerdigen und bestatten. Hirn spricht von der politischen Philosophin Hannah Arendt, die festhält, dass es der Sterblichkeit und Endlichkeit, die Gebürtigkeit, das Leben, die Weltlichkeit und Pluralität gegenüberzustellen gilt: Jeder Mensch, der geboren wird, ist ein neuer Anfang. Mit jedem Menschen beginnt der Kampf zwischen Glauben und Wissen von Neuem.

Corona ist vielmehr die Regel, als die Ausnahme. Krisen und Katastrophen gehören zum menschlichen Leben. Schockiert sind wir nur, weil es dieses Mal uns selbst betrifft, die in einem hochoptimierten, technologieschwangeren, wissenschaftlichen Bett leben.

Utopien sind Indikatoren dafür, was in einer Gesellschaft nicht stimmt: Sie zeigen, was in Zukunft sein soll, und was noch nicht ist. Menschen träumten von und kämpften schon immer für eine bessere Welt. Das Fundament aller Utopien bildet die Unsicherheit der Zukunft. Unsicherheit erweckt in vielen von uns die Sehnsucht nach einer guten alten Zeit vor allem gegenwärtigen Übel. Retrotopie nannte der Philosoph und Soziologe Zygmunt Baumann die Bewegung, die sich in die Vergangenheit flüchet, um die Gegenwart zu bewältigen.

Univ. Prof. Dr. Christoph Pieh leitet das Department für Psychotherapie und Biopsychosoziale Gesundheit an der Donau-Universität Krems. Seit Beginn der Covid-19-Pandemie hat er mit seinem Team wiederholt die psychischen Folgen für die Bevölkerung untersucht. Er hält fest, dass sich die Covid-19-Pandemie und die damit einhergehenden Ausgangsbeschränkungen deutlich auf die psychische Gesundheit auswirken: Die Häufigkeit depressiver Symptome hat sich in Österreich vervielfacht, auch Schlafstörungen und Angstsymptome sind signifikant angestiegen. Besonders gravierend sind die Ergebnisse bei jungen Menschen zwischen 18 und 24 Jahren.

Die Ursachen für den Anstieg psychischer Probleme sind laut Christoph Pieh vielfältig und individuell sehr unterschiedlich. Neben Sorgen um die eigene Gesundheit können Zukunftsängste, finanzielle Sorgen, Jobverlust oder Einsamkeit eine Rolle spielen. Als besonders belastend werden neben der Pandemie die schwierige wirtschaftliche Lage und die Maßnahmen zur Eindämmung erlebt.

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Der geforderte Mensch Wolfgang Müller CC BY SA 4.0