Der Wert des Menschen (Stéphane Brizé)

Benoît_Jacquot_und_Vincent_Lindon_Berlinale_2015
Soziales

** Spoiler on **

Thierry, 51, verheiratet, Vater eines Sohnes mit Handycap, ist seit längerem arbeitslos. Seine ehemalige Firma hat mehrere Rechtsverfahren anhängig. Die damaligen Mitarbeiter versuchen gemeinsam, zu ihrem Geld zu kommen – mit wenig Erfolg, da weder das Geld (für Anwälte) noch die Zeit (für Protestaktionen) reicht.

Nahe an der Pleite  – die Bank gibt ihm keinen Kredit mehr, will ihm aber eine Sterbeversicherung verkaufen, um seine Lieben abzusichern – versucht Thierry, seinen Wohnwagen zu einem fairen Preis zu verkaufen. Das Vorhaben scheitert, da sein gegenüber seine Notlage erkannt hat. Das Arbeitsamt hat ihn zu einem Weiterbildungskurs verpflichtet, nach dessen Ende er und die Behörden realisieren, daß für die erlernten Fähigkeiten keine freien Stellen vorhanden sind.

Frustration. Aber dafür, ausgedehnt den Kopf hängen zu lassen, fehlt die Zeit.

Ein Job-Interview via Skype zeigt, daß er bereit ist, jede Stelle anzunehmen, auch weit unter seinen Qualifikationen. Schließlich landet er als Kaufhausdetektiv bei einer Großmarktkette und lernt weitere Leute kennen, die sich – wie er – am unteren Rand der Gesellschaft irgendwie versuchen, über Wasser zu halten: Ein älterer Herr, der ein wenig Fleisch stielt, eine Kassierin, die Treupunkte, die ihre Kunden nicht verwenden, auf ihre Karte bucht. Und eine weitere Kassierin, die Rabattmarken aus dem Mistkübel genommen hat, um sie wiederzuverwerten. Letztere ist in argen Geldnöten, sieht keinen Ausweg mehr, und nimmt sich wenige Tage nach ihrer Entlassung im Geschäft das Leben. Bei der Trauerfeier zerstreut der Chef des Marktes alle Vorwürfe, die sich die Mitarbeitern machen (die mögliche Mitverantwortung der Geschäftsführung wird gar nicht erst angesprochen): Persönliche Probleme haben zum tragischen Ereignis geführt, niemand konnte schließlich in die Frau und ihre Gedanken hineinsehen.Thierry kann diesen Umgang mit den Menschen kaum mehr ertragen und zieht für sich die Konsequenzen, wohl wissend, daß er damit wieder am Anfang steht.

** Spoiler off **

Der Wert des Menschen zeigt eindrücklich die Situation, in der sich Leute befinden, die es gerade mal so schaffen, sich in der Gesellschaft zu halten. Mühen, Hindernisse, die Schwierigkeit, sich wieder in den Arbeitsprozeß zu integrieren, aus dem man unverschuldet entfernt wurde. Wieviel Energie es kostet, sich jeden Tag neu zu überwinden, aus dem Loch zu steigen, mit dem Wissen, daß die Chance auf einen Job verschwindend gering ist und mit jedem arbeitslosen Tag sinkt. Stehsätze wie „Wer arbeiten will findet immer einen Job“ oder „Hätte er mal mehr gelernt“, oder Begriffe wie Sozialschmarotzer hört man schnell und oft in diversen Diskussionen oder Aussagen vieler Menschen. Eine Vorstellung, wie so ein Leben denn aussieht, haben aber nur die Wenigsten.

Hier hilft dieser Film – großartig und deprimierend zugleich – weiter.

In der zweiten Hälfte des Streifens stellt sich Thierry wie auch dem Zuseher die Frage, wie man mit seinem Gewissen umgeht, wenn man einerseits den einfachen Leuten bei jedem Schritt auf die Finger schaut und jede kleine Verfehlung mit Anzeige oder Jobverlust bestraft, und andererseits weiß, daß die Eigentümer des Unternehmens immer  höhere Gewinne erwarten und meist auch einfahren, um einfach nur noch reicher zu werden. Und mit dem Wissen, daß jene bei viel weitreichenderen Verfehlungen als Ladendiebstahl oder Rabattvergehen oft nicht zur Verantwortung gezogen werden oder sich davon freikaufen können, wie zahllose Beispiele der letzten Jahrzehnte belegen. Der Reichtum der einen würde sich natürlich nicht ansammeln, wenn es nicht zig Millionen Menschen gäbe, die um ihr tägliches Überlegen kämpfen und jede noch so zweifelhafte Arbeit annehmen müßten. Einer dieser Millionen ist Thierry. Nicht, weil er Sadist oder Masochist ist, sondern weil er von Wirtschaft und Gesellschaft dazu gezwungen wird.

Die soziale Hängematte kommt für ihn nicht in Frage, er will arbeiten.

Thierry ist kein Einzelfall: Er hat eine Familie, ist nicht durch besondere Krankheiten eingeschränkt oder sonstwie außergewöhnlich vom Schicksal betroffen. Gerade deshalb ist diese seine Geschichte für jeden verständlich und angreifbar (im Gegensatz zu vielen überzeichneten Erzählungen, die man aus Hollywood-Produktionen kennt). Thierry verlangt nicht nach Reichtümern oder besonderer Behandlung: Er wünscht sich nur ein einfaches Leben, wie es jedem Menschen zustehen sollte. Von seiner Hände Arbeit leben zu können.

Und sich jeden morgen noch in den Spiegel schauen zu können.

Daß dies für eine wachsende Zahl an Personen in unserer westlichen, sich auf hohe Werte berufenden Gesellschaft, nicht mehr möglich zu sein scheint, ist die große Anklage dieses Flims.

Der Großteil des Films ist mit Handkamera gedreht, was ihm einen Dokumentarcharakter verleiht. Die Grundstimmung ist durchgehend düster, passend zur Geschichte. Die meisten Darsteller sind Laien, die in ebendiesen Berufen arbeiten bzw gearbeitet haben, die sie auch im Film ausüben.

Hingehen. Ansehen lohnt sich.

Link zum Film.

 

Credits

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