Freiheitsrecht: praktische Postulate

Vitruvianischer_Mann-1-2
Gesellschaft

Im ersten Teil unserer kleinen Serie zu den Möglichkeiten eines „modernen tiefenhumanistischen Freiheitsrechts als allgemeines Menschenrecht“ haben wir die bewusstseinstheoretischen Grundlagen aufgewiesen, von denen wir nun ausgehend zu konkreten praktischen und prinzipiell notwendigen Postulaten für alles menschliche Zusammenleben voranschreiten wollen. Es sei daher dem Leser für ein tiefes Verständnis dringend empfohlen, zuerst den ersten Teil und darauf aufbauend diesen zweiten Teil zu lesen.

Wir sind nun an dem Punkt angelangt, an dem wir noch einmal das soziale, d.h. gemeinsame Wesen der menschlichen Freiheit ausdrücklich betonen müssen. In sozialer Hinsicht gibt es keine absolute individuelle Freiheit, sondern nur eine gemeinsame Freiheit.

Gerade das Aufeinandertreffen der individuellen menschlichen Freiheiten macht den unendlichen Reichtum und die lebendige Dynamik allen zwischenmenschlichen Handelns aus!

Dabei ist auch grundlegend einzusehen, dass die Freiheit des Anderen nicht prinzipiell meine eigene Freiheit beschränkt, wie oftmals einseitig behauptet wird. Freilich kann und wird es auch Konflikte geben, aber vor allem eröffnet sich durch das Aufeinandertreffen der eigenen und anderen Freiheit ein gemeinsam möglicher Freiheitsraum, der unendlich größer und reicher ist als alle Vereinzelung!

Dass ich jemanden als „Du“ ansprechen kann und dass dieser mir darauf antworten kann, dass ich mit anderen Menschen gemeinsam in der Welt bin: Was entstehen daraus für unendliche Möglichkeiten der Gemeinsamkeit! Wie leer wäre mir dagegen die Welt, wenn ich alleine wär‘! Dabei, wie wir bereits betont haben, hört die individuelle Freiheit in der Gemeinschaft nicht auf: Es ist eine hochdynamische, dialogische „Selbstbestimmung im Bestimmtwerden“.

Weil aber nun doch Konflikte zwischen den Menschen ebenso möglich wie wahrscheinlich sind, bedarf es auch einer rechtlichen Regelung der Gemeinsamkeit.

Das Recht, wenn es tiefenhumanistisch fundiert ist, hat so seine oberste Grenze und seinen höchsten Zweck in der „Einschränkung der Freiheit eines jeden auf die Bedingung ihrer Zusammenstimmung mit der Freiheit von jedermann, insofern diese nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit möglich ist.“ Das ist eine Definition des Rechts bereits von Kant („Die Metaphysik der Sitten„), von höchster aktueller und immerwährender Bedeutung! Es geht also um nicht mehr als eine rechtlich verbindliche, d.h. auch erzwingbare Vermittlung der verschiedenen individuellen Freiheiten zu einer gemeinsamen Form der Freiheit. Darüber hinaus darf prinzipiell kein Recht der Welt die individuelle Lebensweise der Menschen beschränken!

Weil es aber auf die Vermittlung der individuellen Freiheiten ankommt, verstehen wir nun auch, dass das Recht überhaupt nur die äußeren Handlungen der Menschen betrifft: Eine rechtliche Organisation der Vereinigung individueller Freiheiten kann nur eine äußere, negative Gesetzgebung sein.

Sie bestimmt die Legalität der Handlungen und nicht deren Legitimität. Die Freiheit des Gewissens und die (moralische) Freiheit der Gesinnung bleiben als Würde des Menschen unantastbar, und jeder rechtliche Versuch, diese fundamentalmenschlichen Freiheitsvermögen zu beeinflussen, würde das freiheitliche Rechtsprinzip, auf dem alle konkrete Rechtssetzung beruht, und damit diese konkrete Rechtssetzung selber notwendig aufheben!

Der moderne Staat ist durch das Recht integriert. Er hat allein die Aufgabe, das freiheitliche und freigesellschaftliche Leben zu ermöglichen und bestmöglich zu fördern. Denn weder Staat noch Recht sind Zweck an sich selbst, sondern ihr einziger Zweck besteht darin, dem Leben der Menschen zu dienen, und das eigentliche menschliche Leben beginnt erst dort, wo das Recht keine Befugnis mehr hat! Es stellt nur den Rahmen bereit, um mit Hölderlin zu sprechen: „die Mauer um den Garten menschlicher Früchte und Blumen“.

Die konkrete Gesetzgebung nun, also die Rechtssetzung, kann aber nicht aus dem allgemeinen Prinzip des Rechts – der Vermittlung der verschiedenen Freiheiten zu einer gemeinsamen Freiheit – abgeleitet werden. Das wäre unmöglich, fatal, ideologisch.

Denn weil das menschliche Freiheitsvermögen zur Wertung grundsätzlich über das bloße Erkennen – die Rationalität sozusagen – hinausgeht, ist die konkrete Rechtsetzung nämlich je situationsgebunden und nicht allein sachlich und rational, sondern allein aufgrund der überrationalen (aber die Rationalität integrierenden) Wertentscheidung aller Betroffenen und deren Kommunikation zu legitimieren. Das allgemeine Rechtsprinzip kann hierbei nur, wie auch das Prinzip der Selbstzweckhaftigkeit jedes Einzelnen, die Minimalbedingung eines solchen gemeinschaftlichen Konsenses sein.

Die konkrete rechtliche Gesetzgebung also muss notwendig demokratisch legitimiert werden, aus der Kommunikation aller Betroffenen heraus. Expertengremien sind hier prinzipiell unzulässig, weil sie den prinzipiellen Unterschied von rationalem Erkenntnis- und freiheitlich-überrationalem Wertungsvermögen des Menschen nivellierten.

Überdies, und das hat höchste anthropologische und gesellschaftstheoretische Bedeutung, erfordert die individuelle Fähigkeit zur Freiheit, d.h. Selbstregulierung, ebenso eine entsprechende Form der kollektiven Selbstregulierung: „Die dynamische Identität von Regierten und Regierenden und darin die Selbstbezüglichkeit der Gemeinschaft machen gerade die Pointe von Demokratie oder Selbstregierung aus, vergleichbar der ‚Selbstbeherrschung‘ eines Einzelnen. Das Wesen der Demokratie liegt geradezu in der gestalteten Selbstbezüglichkeit der Gemeinschaft, der dynamischen Identität von Regierten und Regierenden.“5

Die Regierungsform der Demokratie ist also die einzige menschengemäße Regierungsform und hat höchste anthropologische Relevanz und freiheitsrechtliche Notwendigkeit. Sie ist die Kollektivgestalt der Freiheit, unter Beachtung der vormals aufgewiesenen Grundsätze als Minimalbedingungen des menschlichen Zusammenlebens.

An dieser Stelle möchte ich meine kurze Skizze der Grundsätze eines allgemeinen und notwendigen Freiheitsrechts resümierend und ausblickend beschließen.

Das Rechtsprinzip als Minimalbedingung des gesellschaftlichen Miteinanders inklusive des Unterschieds zwischen Moralität und Legalität und des Prinzips der Selbstzweckhaftigkeit eines jeden einzelnen Individuums und der Gemeinschaftlichkeit selber, verbunden mit dem Prinzip der kommunikativ-demokratischen Selbstgesetzgebung der Gesellschaft: Eine nach diesen tiefenphilosophisch deduzierbaren Grundsätzen organisierte Gesellschaft ist eine institutionalisierte Kollektivgestalt der Freiheit.

Daran kann kein moderner Staatsphilosoph und -denker vorbei. Dahinter geht es nicht zurück. Sie sind das sine qua non jeder politischen Theorie der Freiheit, und aus ihnen lassen sich viele weitere konkrete Bestimmungen für die Organisation des menschlichen Zusammenlebens ableiten.

Solidarität (also Gerechtigkeit), Recht, Subsidiarität und schließlich eine logisch aufweisbare und hierarchisch ausdifferenzierte Wertstufung der gesellschaftlichen Organisation selber – Grundbedürfnisse, strategische bzw. Interessenwerte, Kommunikationswerte und schließlich Letztwerte -, diese Sozialprinzipien sind ebenso freiheitsrechtlich und tiefenphilosophisch aufweisbar.6 Doch dies steht für dieses Mal auf einem anderen Blatt.

Was ich vor allem versuchen wollte, war, Sie auf eine kleine Reise mitzunehmen, eine Anregung zu stiften und einen Appell an die konkreten und praxisrelevanten Möglichkeiten genauen Denkens, von denen ich hoffe, dass sie für Sie ebenso faszinierend sind wie für mich.

An den aufgestellten Prinzipien geht eben kein Weg vorbei. Hier gibt es kein Wenn und Aber. Sie sind das Fundament aller humanistischen Organisation menschlichen Zusammenlebens. Denn das Naturrecht des Menschen ist das Recht der Freiheit.

5 Heinrichs: Revolution der Demokratie, S. 24.
6 Vgl. ebd. bes. S.250-282.

Credits

Image Title Autor License
Vitruvianischer_Mann-1-2 Vitruvianischer_Mann-1-2 Hans Bernhard (Schnobby) CC BY-SA 4.0