Die Moral der Ernährung

Science Talk1
Gesellschaft

Veranstaltungsdaten

Datum
23. 1. 2017
Veranstalter
Bundesministerium für Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft
Ort
Aula der Wissenschaften
Veranstaltungsart
Science Talk - Podiumsdiskussion
Teilnehmer
Dr. Christian Zillner , Moderator
Univ.-Prof. Dr. med. vet. Martin Wagner, Institut für Milchhygiene, Vetmed-Uni Wien
Assoz.-Prof. Mag. Dr. rer. nat. Sandra Holasek , Medizinische Universität Graz, Österreichische Gesellschaft für Ernährung
Univ.-Prof. Dr. theol. Michael Rosenberger , Institut für Moraltheologie, Privatuniversität Linz

Einführung

Als Ernährungsethiker und Moraltheologe beschreibt Prof. Michael Rosenberger die Bereiche des Zusammenspiels von Ernährung und Ethik: die ökologischen Herausforderungen (Bereitstellung der Lebensmittel), der soziale und zwischenmenschliche Bereich (Verteilung der Lebensmittel), die Verantwortung des Menschen für die eigene Gesundheit sowie den Bereich des Tierschutzes bzw. der Tierethik.

Frau Prof. Sandra Holasek erklärt daraufhin die Ziele der österreichischen Gesellschaft für Ernährung, die insbesondere im Lebbarmachen bzw. der Vermittlung wissenschaftlicher Ernährungsempfehlungen liegen, immer auch unter der Berücksichtigung kultureller Faktoren.

Vornehmlich als „Sicherheitsforscher“ im Rahmen nicht nur der menschlichen, sondern auch der tierischen Ernährung sieht sich Prof. Martin Wagner.

59% der Europäer sind bereits übergewichtig bzw. adipös

Zu Beginn widmen sich die Wissenschaftler den zunehmenden Nahrungsmittelallergien bzw. -unverträglichkeiten. Prof. Martin Wagner stellt diesbezüglich fest, dass um ein Vielfaches mehr an laktosefreier Milch verkauft werde, als nach der Anzahl der Personen mit tatsächlich diagnostizierter Laktoseintoleranz zu erwarten sei.

In den 60er-Jahren hätten die Leute dafür bezahlt, dass „etwas im Lebensmittel drinnen sei“, wohingegen heute für Lebensmittel bezahlt werde, die bestimmte Stoffe nicht enthalten. Er ortet hier eine Umwertung der Lebensmittel. Bezeichnend sei ein „quantitativ zu viel, qualitativ zu wenig“.

Laut Prof. Sandra Holasek sei ein potenzielles Erklärungsmodell für die steigenden Unverträglichkeiten auch in einer Zunahme eines einfachen, energiedichten Ernährungsmodells – insbesondere das von adipösen Personen – zu sehen. Hier verweist sie auf die erschreckenden Zahlen des letzten europäischen Gesundheitsberichtes, wonach 59% der Europäer bereits als übergewichtig bzw. adipös eingestuft würden (Anm.: Ab einem Body-Mass-Index von 25 spricht man von Übergewicht, ab einem BMI von 30 von Adipositas oder „Fettsucht“).

Dieses Ernährungsmodell gehe mit einem Mangel an funktionellen Nährstoffen einher, welche einen Schutz vor Allergien und Unverträglichkeiten bieten. Die minderwertige Qualität des Fast Food sowie das sprichwörtliche Fehlen einer „Mahlzeit“ irritiere das menschliche Stoffwechselsystem zudem.

Einen weiteren Grund ortet Prof. Sandra Holasek im zunehmenden Verzehr verarbeiteter Lebensmittel mit entsprechenden Zusatzstoffen. 98% dessen, was wir essen, sei mittlerweile verarbeitet. Die verbreitete Vorliebe für süße, kaloriendichte Lebensmittel sei dabei evolutionär zu erklären. Was jedoch früher sinnvoll war, bereite uns heute Schwierigkeiten. Die Lösung sieht Prof. Sandra Holasek in der Voranstellung der Qualität des Lebensmittels – teilweise geschehe dies bereits durch die Lebensmittelbereitsteller.

Du bist, was du isst

Bezugnehmend auf die Aussagen von Prof. Sandra Holasek weist Prof. Michael Rosenberger auch auf die Verteilung von Adipositas in den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen hin. Entscheidende Faktoren seien hier Bildungsniveau, Biografie sowie Identitätsfindung. Der von Ludwig Feuerbach geprägte Satz „Du bist, was du isst“ deute bereits an, dass das Ernährungsverhalten eines Menschen sehr viel über diesen aussage.

Während im 17. Jahrhundert Übergewicht ein Ausdruck von gesellschaftlichem Gewicht gewesen sei, seien die oberen Schichten heute durch Gesundheitsbewusstsein und Sportaffinität gekennzeichnet. Die heutige Zunahme von Übergewicht in den unteren sozioökonomischen Gruppen sei auch ein unbewusstes, unreflektiertes Zurschaustellen von Wohlstand, im Sinne von: „Ich kann mir das leisten.“ Essen und Trinken diene auch dem Sichtbarmachen der eigenen Identität.

100 kg Fleisch im Durchschnitt

Laut Prof. Martin Wagner konsumiere der durchschnittliche Österreicher 100 kg Fleisch pro Jahr. Dieses müsse zu entsprechenden Bedingungen produziert werden, um dann im Supermarkt maximal 4 € pro Kilo zu kosten. Darüber dürfe man sich keine Illusionen machen. Im Lichte der Zunahme des Fleischkonsums mit der steigenden Entwicklung eines Landes müsse man zudem mit einer Verdoppelung der weltweiten Fleisch- sowie Milchproduktion bis zum Jahre 2030/40 rechnen.

Als Lösungsansatz nennt Prof. Martin Wagner eine geringere, qualitativ hochwertigere Produktion mit entsprechender Wertschöpfung für den Produzenten bei gleichzeitig geringerem Konsum von Fleisch durch die Bevölkerung.

Laut Prof. Sandra Holasek sei man mittlerweile in der Medizin so weit, von einer evidenzbasierten zu einer personalisierten Ernährung zu wechseln. Dies ermögliche durch neue diagnostische Methoden, einer Person individualisierte, ganz spezifische Informationen bezüglich ihrer Ernährungsphysiologie geben zu können. Dies ergebe auch in Zukunft ganz neue innovative Möglichkeiten.

Aus theologischer Sicht müsse es immer eine Verschränkung technischer Methoden mit einer freiwilligen Selbstbeschränkung des Menschen geben, so Prof. Michael Rosenberger.

Derzeit hätten wir pro Kopf genug Lebensmittel, um die gesamte Weltbevölkerung zu ernähren. Dass weltweit rund 800 Mio. Menschen hungern, sei weniger auf ein Mengenproblem, als vielmehr auf ein Verteilungsproblem zurückzuführen.

Zwar lebten 2/3 bis 3/4 der hungernden Menschen im ländlichen Raum, durch Großgrundbesitzer und Export jedoch bleibe ihnen der Zugang zu den Lebensmitteln verwehrt.

Wir, die im Überfluss leben, müssten uns zurücknehmen, um eine entsprechende Verteilung des Vorhandenen zu ermöglichen. Sollten wir uns zudem eine entsprechende Tierhaltung wünschen, müssten wir in Europa unseren Fleischkonsum massiv reduzieren – daran führe kein Weg vorbei.
Science Talk2
V.l.n.r.: Dr. Christian Zillner, Univ.-Prof. Dr. med. vet. Martin Wagner, Assoz.-Prof. Mag. Dr. rer. nat. Sandra Holasek, Univ.-Prof. Dr. theol. Michael Rosenberger

Ein Macho frisst Fleisch

Um im Einzelnen den Fleischkonsum zu reduzieren, müsse man entsprechende Prozesse in Gang setzen, so Prof. Michael Rosenberger. Dies beinhalte die Überzeugung, dass vegetarische Ernährung sehr wohl lustvoll sein könne. Im Weiteren sollte man sein eigenes Bewusstsein für gezielten Fleischkonsum stärken.

Auf übergeordneter Ebene könne die Schweiz ein Beispiel bieten. In einer Volksabstimmung vor 15 Jahren sprachen sich die Schweizer mehrheitlich für eine verbesserte Tierhaltung mit entsprechend höheren Kosten aus. Als Nebeneffekt sank der durchschnittliche Fleischkonsum pro Person und Jahr um 15 kg. Dies benötige jedoch ein Zusammenspiel entsprechender politischer Handlungsträger.

Als letzten Punkt führte Prof. Michael Rosenberger soziologische Studienergebnisse an, die zeigten, dass Menschen mit einem sehr egalitären Rollenverständnis von Mann und Frau automatisch ihren Fleischkonsum deutlich reduzierten. In Worten des Moderators Dr. Christian Zillner: „Ein Macho frisst Fleisch.“ Wo es also geschafft werde, das neue Rollenverständnis von Mann und Frau in Köpfe und Herzen zu bringen, tue sich automatisch sehr viel.

Einige Studien gebe es mittlerweile auch bezüglich unseres veränderten Einkaufsverhaltens, so Prof. Martin Wagner. Diesen zufolge hätten Menschen früher 50% ihres Haushaltsbudgets für Ernährung ausgegeben, während es heute nur mehr 12% seien. Während früher ein täglicher Einkauf Usus gewesen sei, würde man heute oftmals nur noch 1x wöchentlich einkaufen. Demnach sei die Zugabe von Konservierungsstoffen eine Reaktion der Lebensmittelindustrie auf den herrschenden Lifestyle.

Information hält Prof. Martin Wagner dabei für das Um und Auf. Wichtig – und unsere eigene Aufgabe – sei ein Verständnis dessen, was wir zu uns nehmen, schließlich verbringe man die meiste Zeit im Leben mit Essen und Schlafen. Die neue Kennzeichnung hält er dabei für zielführend – dies habe den Prozess stark vereinfacht.

Als letzte Schwierigkeiten in diesem Rahmen nennt er einfache Restaurants sowie exotische Lebensmittel.

Auf die Frage des derzeitigen Fokus der Ernährungswissenschaft antwortete Prof. Sandra Holasek mit dem Paradigmenwechsel der personalisierten Ernährung. Insbesondere Nutrigenetik, Nutrigenomik und Metabolomik (Anm.: Erforschung des Stoffwechsels von Geweben und Zellen) spielten eine gewichtige Rolle. Bei exogen produzierten Stoffen, die vom Körper aufgenommen werden und dann endogene Veränderungen hervorrufen, handele es sich ebenfalls um ein bedeutsames Forschungsthema.

Trotz besseren Wissens bleibe eine passende Ernährung schwierig. Laut Prof. Michael Rosenberger liege dies daran, dass der Prozess der Ernährung alle menschlichen Vorgänge in sich vereine, ja geradezu bündele. Jeder Mensch empfinde ganz unbewusst bei jedem Essen eine Erinnerung an das Trinken an der mütterlichen Brust. Diese empfundene Geborgenheit und das Vertrauen wolle man unbewusst bei jeder Mahlzeit wieder herstellen. Auch menschliche Beziehungen spielten insbesondere beim Essen eine gewichtige Rolle.

Der scheinbar simple physiologische Vorgang der Nahrungsaufnahme sei in Wirklichkeit ein hochsozialer und hochgeistiger Vorgang. Dies sei einer der Gründe, weshalb Veränderungen im Ernährungsbereich eine solche Herausforderung für die Menschen darstellten.

Globalisierung

Auf die Globalisierung im Lebensmittelhandel könnten wir laut Prof. Martin Wagner heute gar nicht mehr verzichten. Als mündiger Konsument müsse man sich diesen Fakten stellen und darauf basierend seine Kaufentscheidungen treffen. Prof. Sandra Holasek ergänzte, dass sich die meisten Menschen zehn Lebensmittel („key foods“) regelmäßig kaufen. Wir würden also gar nicht so sehr nach Vielfalt suchen, sondern Vertrautheit und schnell zu Findendes bevorzugen.

Die verloren geglaubte Beschäftigung (Verarbeitung und Haltbarmachung) heimischer Obst- und Gemüsesorten sein zudem wieder stark im Kommen. Dieser eingehende Umgang und die Wertehaltung gegenüber dem Lebensmittel gebe wieder eine neue Vielfalt. Prof. Michael Rosenberger betonte ebenfalls das Thema Saisonalität aus theologischer Perspektive. Dies beinhalte Kultur und entsprechende Kreativität beim Kochen auch im Winter. Diese Speisetraditionen (Martinsgans, Ostereier etc.) bestünden seit ca. 1000 Jahren und bereicherten das Leben.

Ein Verzicht auf Lebensmittel aus Übersee sei nicht notwendig, jedoch wolle man laut Prof. Michael Rosenberger ja nicht Winter wie Sommer exakt dasselbe auf dem Teller haben.

Credits

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Science Talk1 Science Talk1 Johanna Bickel CC BY-SA 4.0
Science Talk2 Science Talk2 Johanna Bickel CC BY-SA 4.0