Die Perversion der Arbeitssituation

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Meinung

Es ist schon lange kein Geheimnis mehr: Vollbeschäftigung, wie sie zu Zeiten des Wirtschaftswunders möglich war, ist heute eine Illusion. Unserer Wirtschaft hat ihren Sättigungspunkt längst überschritten. Immer mehr Menschen sind von struktureller Arbeitslosigkeit betroffen; in sehr vielen Fällen trotz guter oder hervorragender Qualifikationen. Eine Abkehr von alten Paradigmen ist unabdingbar.

Automatisierung

Durch den massiven technischen Fortschritt in den letzten Jahrzehnten werden immer mehr klassische arbeitsintensive Tätigkeiten teilweise oder vollständig wegrationalisiert.

Ein kleines Beispiel:

Eine moderne Erntemaschine kann heute den Ertrag generieren, für den es am Anfang des 20. Jahrhunderts noch der Arbeitskraft von etwa 1.500 Menschen bedurft hätte. Moderne IT Systeme im Büro ersetzen jeweils geschätzt 60-100 klassische Buchhalter in derselben Ära.

Was eigentlich ein Segen für die Menschheit bedeuten sollte, uns unbefriedigende, eintönige und u.U. gesundheitsschädliche Tätigkeiten abnehmen und stattdessen Zeit zur persönlichen Entfaltung und Steigerung der Lebensqualität freimachen sollte, vertieft stattdessen unsere Unfreiheit:

Anstelle die Arbeitszeit aller Dienstnehmer um den eingesparten Betrag zu verkürzen, wird die Anzahl der Arbeitskräfte reduziert und den Verbleibenden sogar mehr Arbeitslast aufgebürdet. Hier prallen die Prinzipien von Betriebswirtschaft und Volkswirtschaft aufeinander. Für die Unternehmen erzeugt jede strategische Kündigung potentiell eine Verbesserung der Bilanz.

Vereinfacht gesehen kann somit der Gewinn gesteigert werden; die Kosten dafür trägt jedoch die Allgemeinheit, die nun für den Unterhalt der „überflüssig“ gewordenen Arbeitskraft aufkommen muss.

Leistungsdruck

Noch ein weiterer Effekt ergibt sich zwangsläufig aus diesem Wettlauf gegen den Abbau:

Die Anzahl an angebotenen Stellen und die Zahl der Bewerber klaffen weit auseinander. Aktuell kommen in Österreich auf 1 offene Stelle 9 Arbeitslose. Conclusio: Es ist schlicht und ergreifend nicht genug Arbeit für alle vorhanden. Die Auswahlkriterien werden folglich immer härter.

Auch der Druck, falls man einen der begehrten Jobs ergattern konnte, ständig 100 Prozent und noch mehr zu geben, treibt zunehmend mehr Arbeitnehmer in die Erschöpfungsdepression – besser bekannt unter dem Schlagwort Burnout.

Die Kosten für die Betreuung der solchermaßen Ausgebrannten und bis zur Erschöpfung Getriebenen übernehmen freilich auch in diesem Fall nicht die Firmen, die wiederum von deren Leistung profitiert haben – es sind vielmehr wieder wir selbst, die Allgemeinheit, die auf der Rechnung sitzen bleibt, während die Unternehmen sich einfach dem nächsten aus einem nahezu unerschöpflichen Pool von hoffnungsvollen Bewerbern zuwenden können.

Diese krankmachende Abwärtsspirale hat schon jetzt teils dramatische soziale Auswirkungen.

In Österreich betragen die Kosten für die Betreuung von Burnout-Betroffenen laut WIFO rund sieben Milliarden Euro pro Jahr. Aus anderen Studien geht hervor, dass 30 bis 40 Prozent der Arbeitnehmer innerlich bereits gekündigt haben. 43 Prozent der Beschäftigen im Alter von 35 bis 55 Jahren würden am liebsten sofort in Pension gehen. Erkrankungen, die auf psychische Belastungen zurückzuführen sind, waren 2013 die dritthäufigste Ursache von Krankenständen.

Quelle: www.wirtschaftsblatt.at

Wir dürfen nicht länger akzeptieren, dass Arbeitnehmer mit der ständigen existenziellen Bedrohung der sofortigen Ersetzbarkeit leben müssen. Das ist ein Zustand, der sich auf die Psyche und allgemeine Gesundheit des Einzelnen, aber auch auf die Stimmung am Arbeitsplatz insgesamt auswirkt.

Wir lassen zu, dass uns die Lebensfreude genommen wird, dass auf dem Altar der unantastbaren Wettbewerbsfähigkeit jedes Sicherheitsgefühl geopfert wird und die Löhne mit der selben fadenscheinigen Begründung (Konkurrenzfähigkeit) real so stark gesunken sind, dass viele von uns trotz Vollzeitbeschäftigung unaufhaltsam in Richtung Prekariat abdriften.

Menschen mit Entzug ihrer Lebensgrundlage zu drohen, in einem Umfeld wo, wie in unseren Breitengraden, Überfluss an allen relevanten Dingen herrscht, ist repressiv, menschenverachtend und hat mit Demokratie bzw. Freiheit absolut nichts zu tun. Doch was sind die Ursachen dafür?

Seit den 90er Jahren ist die Produktivität in Österreich um etwa 37% gestiegen

Quelle: Arbeiterkammer Burgenland – 2014

Reallöhne sind in Österreich seit den 90ern teilweise sogar gesunken

Quelle: OECD Statistik 2015

Diese gigantische Diskrepanz zwischen Produktivitätszuwächsen und stagnierenden bzw. rückläufigen Löhnen ist sozialer Sprengstoff. Hier ist die Frage nach der Gerechtigkeit des Systems insgesamt unumgänglich. Ein kleiner Blick auf die Vermögensverteilung in Österreich (wie in fast allen Ländern der „westlichen Welt“) gibt Aufschluss:

5% der Bevölkerung besitzen 45% des Gesamtvermögens
während die unteren 50% der Menschen nicht einmal über 4% verfügen.

Quelle: Oesterreichische Nationalbank: Fakten zur Vermögensverteilung in Österreich. 2012, S. 261.

In den letzten 25 Jahren hat eine gigantische Umverteilung von unten nach oben stattgefunden. Diese Konzentration des Kapitals in den Händen Weniger war und ist eine Gefahr für die Demokratie, für unseren Frieden und für unsere zivilisatorischen Errungenschaften im Allgemeinen.

Um diesen unsäglichen Zustand aufrecht zu erhalten, bedient man sich mehrerer teils perfider psychologischer Tricks: Zum einen sind die Macht- und Besitzverhältnisstrukturen in unserer heutigen Zeit versteckt. Es existiert kein, auf den ersten Blick, erkennbarer Mechanismus der Umverteilung. Diffuse Begriffe wie „die Märkte“ oder „ökonomische Gesetzmäßigkeiten“ verschleiern die Systematik.

Die Schuld an den Lebensumständen wird stets beim Individuum gesucht, die Sicht aufs Ganze, mehr oder weniger subtil, mit Nebelbomben verschleiert.

Eine weitere Methode der Manipulation ist der künstlich aufrechterhaltene ökonomische Überlebenskampf: In unserer Überflussgesellschaft werden Menschen von den benötigten Dienstleistungen und Gütern ausgeschlossen, weil sie sich dem künstlichen Erwerbsdruck nicht, oder nur schwer, unterordnen können.

Diese Manipulationsmethode greift tief in das menschliche Bewusstsein ein, denn letzten Endes spüren wir, dass die endlosen Stunden freudloser und sinnentleerter Tätigkeit nicht wirklich notwendig sind.

David Graeber, Anthropologe und Mitbegründer der „Occupy Bewegung“, nennt diese Selbstzweck- bzw. Zwangsbeschäftigungen wenig schmeichelhaft „Bullshitjobs“. Das Leben vor der industriellen Revolution und seit Anbeginn der Menschheit war tatsächlich oft ein Überlebenskampf.

Dieser Mechanismus wird nun, trotz des durch Fortschritt erreichten materiellen Überflusses, auf die ökonomische Ebene umgemünzt. Das ist im Grunde nichts anderes als eine Indoktrination zugunsten der Machtstrukturen und ähnelt den Methoden der sogenannten „schwarzen Pädagogik“.

Wir genießen die Früchte unseres Fortschrittes nicht in dem Ausmaß, wie es uns zustehen würde. Wir treten auf der Stelle oder bewegen uns sogar rückwärts.

Dass der Verlust von Arbeitsplätzen – oder vielmehr der gesunkene Bedarf an Arbeitsstunden – zwingend zu Verarmung führen muss, ist jedoch ein vollkommener Trugschluss. Dieser Zusammenhang besteht nur solange, wie wir akzeptieren, was uns über Jahrhunderte eingeredet wurde: Dass wir nur leben dürfen, wenn wir unsere Kraft in den Dienst dieser abgehobenen Maschinerie stellen.

Wer nicht gebraucht wird, hat eben Pech gehabt. Die Gewinne, die aus Rationalisierungen, sprich Entlassungen, resultieren, müssen gesellschaftlich einfach besser aufgeteilt werden!

Stigmatisierung der Verlierer des Verdrängungswettbewerbes

„Der Neoliberalismus vergiftet mittels komplexer Indoktrinationsinstrumente die Gedanken der Menschen und spielt sie gegeneinander aus. Er bringt die Schwachen dazu, gegen die noch Schwächeren anzugehen und veranlasst ganze Gesellschaften, Arme, Schwache und Kranke als „Schmarotzer“, „römisch dekadent“, „Neider“, „faul“, „parasitär“ oder anderes anzusehen, ja, zu verachten. Die Würde der Unverwertbaren ist beständig bedroht. Nicht nur, aber auch von Linken, die meinen, im Kampf gegen Armut von „sozial Schwachen“ sprechen und hierdurch vermeintlich deren Interessen vertreten zu müssen.“

Magda von Garrel, Diplompolitologin und Sonderpädagogin

Menschen zweiter Klasse

Schlimm genug, wie der Arbeitsmarkt sich präsentiert; noch menschenverachtender ist die Maschinerie, die mittlerweile zu jedem gegebenen Zeitpunkt etwa 10 Prozent aller erwerbsfähigen Personen durchlaufen müssen, weil sie das Pech hatten, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Über allem scheint das unausgesprochene Credo zu schweben, man müsse die Allgemeinheit in erster Linie vor der verschlagenen und trickreichen Faulheit der Betroffenen beschützen.

Ihnen wird das Leben auf vielerlei Weise so unbequem wie möglich gemacht, damit der Zustand der Arbeitslosigkeit auf keinen Fall erstrebenswert erscheint und man es sich dreimal überlegt, ob man ein ausbeuterisches, krankmachendes Arbeitsverhältnis wirklich zu beenden wagt.

Besonders zynisch ist diese Taktik im Fall von Burnout-Opfern, die frisch aus dem Zusammenbruch kommend vor einem Scherbenhaufen stehen und oft keine Kapazität haben, um mit dieser Art von Existenzstress umzugehen.

Die Schikanen sind mannigfaltig: Auf immer wieder neue Art kommt es zu Zahlungsverzögerungen oder zu versehentlicher Abmeldung – meist aufgrund von nicht erhaltenen Vorladungen (die sich mysteriös häufen, seit das AMS nicht mehr verpflichtet ist, Benachrichtigungen per Einschreiben zustellen zu lassen) oder zu unerklärlichen Missverständnissen bei der Rückmeldung aus Krankenständen zwischen AMS und Krankenkasse.

Menschen, die vom Existenzminimum leben müssen und keine Reserven haben, geraten durch solche „Unachtsamkeiten“ des AMS in ernsthafte Schwierigkeiten: Denn wenn sie ihre Fixkosten am Monatsanfang nicht überweisen können, werden Verzugskosten und diverse Gebühren in Rechnung gestellt. Wer unbequem ist, kann jederzeit in die Katastrophe gestürzt werden – und allein diese Möglichkeit ist zutiefst erschreckend.

Ob diese Vorfälle böswillig oder unabsichtlich geschehen – sie passieren einfach zu häufig, um entschuldbar zu sein. Eine gute Quelle, um sich hiervon ein Bild zu machen, sind Seiten wie http://www.soned.at sowie die Erfahrungen eines jeden Arbeitslosen, der, von anderen Betroffenen umgeben, in einem Kurs gesessen ist und dort feststellen musste, dass die beschriebenen Probleme und Verzögerungen an der Tagesordnung sind.

Die gesamte Einstellung, mit der das System Arbeitslosen begegnet, ist rücksichtslos und zutiefst menschenverachtend – trotz des oft vorhandenen ehrlichen Engagements einzelner Mitarbeiter.
„Motivationsposter“ in einer Kursanstalt – Woche für Woche sinnlos Bewerbungen zu verschicken (Und für einen guten Teil der Betroffenen ist völlig klar, dass sie aufgrund von Alter, Ausbildung oder anderen Faktoren chancenlos sind), um nicht von jeglicher Versorgung abgeschnitten zu werden, ist schlimm genug. Nun muss man sich obendrein schämen, wenn man das irgendwann nicht mehr schafft.
„Motivationsposter“ in einer Wiener Kursanstalt – Woche für Woche sinnlos Bewerbungen zu verschicken (und für einen guten Teil der Betroffenen ist völlig klar, dass sie aufgrund von Alter, Ausbildung oder anderen Faktoren chancenlos sind), um nicht von jeglicher Versorgung abgeschnitten zu werden, ist schlimm genug. Obendrein muss man sich schämen, wenn man das irgendwann nicht mehr schafft.

Tatsache ist: Es gibt nun mal Menschen, die der Arbeitsmarkt nicht will und nicht braucht. „Teamfähigkeit“ und „Stressresistenz“ sind nicht jedem gegeben – wer zum Beispiel ein eher introvertierter Persönlichkeitstyp ist, leidet schnell an Überforderung, wenn er pausenlos in soziale Situationen gezwungen wird, anstatt einfach in Ruhe seiner Aufgabe nachgehen zu können.

Wer an chronischen gesundheitlichen Einschränkungen leidet oder aus anderen Gründen öfter als ein-, zweimal im Jahr krank ist, wird über kurz oder lang ersetzt, egal, wie gut er seine Sache macht.

Wer Dauerstress oder einem rauen Arbeitsklima nicht gewachsen ist – und unter den überschaubareren und weniger hektischen Arbeitsbedingungen wie sie unsere Eltern und Großeltern kannten hervorragend funktionieren könnte -, bleibt übrig und sieht sich mit dem Klischee vom faulen, asozialen und arbeitsunwilligen Komplettverweigerer konfrontiert. Mit jemandem, der sich auf anderer Leute Kosten ein schönes Leben machen will, konfrontiert.

Auf wie viele der arbeitssuchend Gemeldeten trifft diese Pauschalverurteilung wohl wirklich zu? Darf man jene, die einfach nicht mithalten können, so sehr sie auch wollten, stigmatisieren, ausgrenzen und schikanieren, um im Gegenzug ein paar zu bestrafen, die vielleicht könnten aber nicht wollen?

Und, zumindest vom volkswirtschaftlichen Standpunkt betrachtet, noch viel wichtiger:

Lohnt sich der teure Verwaltungsaufwand, die endlose Frustration und Erniedrigung, die zu den vielen Problemen der Beschäftigungslosigkeit obendrein noch niedrigen Selbstwert und Depression vorantreibt, zu einem schlechten allgemeinen Gesundheitszustand führt und in weiterer Folge wieder Kosten für die Allgemeinheit bedeutet?

Autoren: Serena Nebo, Nikolaus Manoussakis

Credits

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Polen, Bäuerinnen und Bauern bei Feldarbeit Polen, Bäuerinnen und Bauern bei Feldarbeit Heinz Rutkowski CC BY-SA 3.0 de
Claas Combine in Dänemark Claas Combine in Dänemark Lars Plougmann CC BY-SA 2.0
Jobsuche, Motivation, Schämen Motivationsposter Nikolaus Manoussakis, Serena Nebo CC BY-SA 4.0
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