Ein Leben ist zu wenig – Warum wir eine neue Gesellschaftsidee brauchen

Politik

Der langjährige Fraktionsvorsitzende der Linksfraktion, Dr. Gregor Gysi, ist diesmal zu Gast im BSA bei Matthias Vavra. Anlass ist u.a. die Autobiographie des Politikers, dessen bunte Familiengeschichte zu Beginn im Mittelpunkt steht, gefolgt von seinen Kindheitserfahrungen, die sein Engagement für Kinderrechte prägten.

„Urkapitalisten“, also jene, die das Unternehmen selbst aufgebaut haben, haben meist noch ein Verantwortungsgefühl für ihre Umgebung – die Erben oft nicht mehr, so Gysi.

Anfangs im Westen von der Mehrheit der Bevölkerung kritisch beäugt, gewann der studierte Jurist über Auftritte in Talkshows und beim Nockherberg in Bayern mehr und mehr Sympathie.

Der bis dahin jüngste Rechtsanwalt Deutschlands vertrat „im dritten seiner sechs Leben“ mehrere Angeklagte, die sich kritisch mit der DDR auseinandersetzten, darunter auch Rudolf Bahro und Robert Havemann, auf deren Fälle Gysi näher eingeht.

Gsyi erklärt, warum er den Begriff „Unrechtsstaat“ als nicht auf die DDR anwendbar sieht, und wie er plötzlich Redner bei einer der größten Kundgebungen der deutschen Geschichte am 4. November 1989 wurde. Auch zum berühmt gewordenen DDR-Reisegesetz von 1989 kann Gysi eine persönliche Anekdote erzählen. In seiner Zeit als SED/PDS Vorsitzender war die herausforderndste Aufgabe, die vielen ehemaligen Parteifunktionäre und Mitglieder des DDR-Parteiapparates in die neue Bundesrepublik zu integrieren. Den damals zahlreichen Anfeindungen gegen ihn begegnete er zumeist mit Humor und kreativen Einfällen.

Sowohl Helmut Kohl, als auch Wolfgang Schäuble wussten, dass Gysi einer von zwei Politikern ist, denen zu verdanken war, dass während der Revolution im Osten keine Schüsse fielen. Die Angst vor der Einsamkeit, die vor allem Dissidenten trifft, erkannte Gysi erst als Erklärung für das undifferenzierte Verhalten seines Vaters gegenüber der SED, als Helmut Kohl im dies in einem zweistündigen Vieraugengespräch erklärte.

Gysi, der über seinen Berliner Wahlkreis immer mit Direktmandat in den deutschen Bundestag eingezogen ist, gründete 2007 mit Oskar Lafontaine und anderen die Partei Die Linke, um auf Schröders „Entsozialdemokratisierung“ der SPD zu reagieren. Was ihn sichtlich freut ist die Tatsache, dass SPD und Grüne mittlerweile für ein Rot-Rot-Grünes Bündnis auch auf Bundesebene offen sich.

In der aktuellen Pandemie konnte man erkennen, dass Diktaturen oft schneller und erfolgreicher auf die Herausforderung reagierten, als Demokratien. Letztere verliert bei den Menschen immer mehr an Wert, was als gefährliches Alarmsignal zu werten ist. Demokratie müsse wieder attraktiver gemacht werden; die Distanz zwischen Politikern und Wahlvolk muss drastisch reduziert werden, sonst überlässt man die öffentlichen Veranstaltungen immer mehr den Menschen mit radikalen Ansichten, die sich regen Zulaufes erfreuen. Vertrauen in die Politik müsse wiederhergestellt werden: zum einen über eine verständliche Sprache, zum anderen über mehr Ehrlichkeit bei der Begründung des eigenen politischen Handelns. Im Umgang mit der Corona-Krise hätte man immer Experten für beide Meinungen (mehr/weniger Einschränkungen) öffentlich präsentieren sollen, um dann zu erklären, dass man mit der Einschränkung des Lebens eher leben kann, als mit zahllosen Toten. Diese Form der Transparenz wäre für skeptische Menschen nachvollziehbarer, als tagein tagaus immer nur eine Meinung präsentiert zu bekommen.

Weitere Themen des Gesprächs sind die Rolle der neutralen Staaten seit dem Ende des Kalten Krieges; der vergebliche Versuch der langfristigen Abschottung vor Flüchtlingswellen; zu bekämpfende Ungerechtigkeiten auf der Welt und in Deutschland – vor allem Chancengleichheit und echte Gleichberechtigung für Frauen; Überwindung der Armut und damit automatisch Lösung des Überbevölkerungsproblems; die Bedeutung von Kunst und Kultur für alle Menschen; die Wiederherstellung des Primats der Politik gegenüber den Großkonzernen und Banken; die Chancen für  ein ökologisches Europa mit sozialer Verantwortung; die Positionierung Europas zwischen den USA und China; Kosovo und Ukraine als vergleichbare Konfliktherde, die aus Eigeninteresse bis heute mit unterschiedlichen Maßen gemessen werden; das fehlende Grundvertrauen in der Weltpolitik; die Notwendigkeit, sich nicht zu Tode zu siegen uvm.

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Gregor Gysi Wolfgang Müller CC BY SA 4.0