Eine Überprüfung unserer liberalen Denkweisen

Frau in Niqab
Gesellschaft

Ich trank Tee und plauderte mit einer Gruppe von Freunden am Universitätscampus, als ein Mädchen in einer Burka vorbeikam. Wir alle beobachteten sie, als sie passierte, ohne zu bemerken, dass wir das taten. Unser Blick, der auf sie gerichtet war, war ein momentaner Impuls, und wir alle haben diesem Impuls nachgegeben.

Wir hörten nicht auf zu reden, während wir sie ansahen. Aber wir glotzten sie an, und das eine oder andere geschah dabei in unseren Köpfen. Ich habe bemerkt, dass alles, was in diesem Moment geschehen ist, nicht ungewöhnlich ist in dieser Zeitspanne, die wir als ein Zeitalter der Modernisierung sehen.

Ist das Tragen einer Burka oder eines Hijabs ein Zeichen von Unterdrückung? Oder ist das Tragen von Burka ein Zeichen der Orthodoxie? Oder stellt es überhaupt eine Antithese zum liberalen Denken und zum Denken allgemein dar?

Ich weiß nicht genau, worum es sich in Wirklichkeit handelt. Aber ich weiß, dass die meisten von uns der Meinung sind, dass das Befolgen solcher Kleiderordnungen eine Manifestation des illiberalen Denkens und der Konservativität sei. Und wie erwartet kommentierte einer meiner Freundinnen:

Warum folgen diese Mädchen immer noch solchen repressiven Kleidungsvorschriften, nachdem sie Zugang zu Bildung hatten und so viel Aufklärung passierte?

Der Kommentar war offensichtlich naiv, aber nicht ungewöhnlich. Die meisten Menschen denken so ähnlich. Und sofort begannen wir eine Diskussion über die Themen Islam, Frauenrechte, Unterdrückung und so weiter.

Ich hatte das Gefühl, dass es sich beim Kommentar meiner Freundin um Uninformiertheit handelte, da die Einhaltung bestimmter Kleidungsvorschriften nicht notwendigerweise die Disposition einer Person definieren muss. Aber ist es nicht üblich zu glauben, dass eine Frau, die eine Burka trägt, konservativ, nicht fortschrittlich und vielleicht auch fundamentalistisch ist? Irgendwo tief in meinem Inneren war auch ich nicht gefeit vor solchen Fehlverständnissen.

Ein Mädchen, das bei uns saß, merkte an, dass nicht jedes Mädchen, das die Chance habe zu studieren, auch die Freiheit habe, ihre Meinung zu äußern und ihr Denken umzusetzen. Die meisten Mädchen seien durch den familiären Druck gebunden und müssten bestimmte Verhaltenskodizes und Kleiderordnungen einhalten. Sie betonte, dass Bildung für viele Mädchen in patriarchalischen Gesellschaften immer noch nicht selbstverständlich sei.

Ich stimmte dem Gesagten zu. Bildung wird als ein Recht betrachtet, aber in Wirklichkeit ist sie immer noch etwas Außergewöhnliches für den Großteil der Menschen in den Ländern der Dritten Welt.

Ich begann mir darüber Gedanken zu machen, ob der Zweck der Bildung darin bestehe, ein homogenes Denken unter den Menschen in Bezug auf Fragen zu Moderne und Progressivität zu fördern und zu vermitteln oder die Heterogenität in Bezug auf diese Fragen zu verstärken. Bietet uns unsere Ausbildung genügend Raum, um das, was von der Mehrheit als offensichtlich angesehen wird, in Frage zu stellen? Warum sind wir zunehmend intolerant und kritisch geworden gegenüber Ansätzen und Lebensweisen, mit denen wir uns nicht identifizieren können? Warum sind wir stattdessen der Meinung, dass wir toleranter und liberaler seien in Bezug auf Bildung und Aufklärung?

Dann verlagerte sich unsere Diskussion auf die repressiven Normen und Regeln, die den muslimischen Frauen auferlegt würden. Jeder von uns fing an, die Religion und ihre Rolle bei der Unterdrückung von Frauen zu kritisieren. Das Patriarchat und die Religionen sind zweifellos die tödlichsten Waffen, die seit ewigen Zeiten gegen Frauen eingesetzt werden. Wir alle stimmten in diesen Standpunkten überein.

In unserer Kritik wurde deutlich, dass wir damit Frauen, die Burka oder Hijab tragen, zu Opfern der repressiven Regeln des Islam machten und ihnen jegliche Form von Handlungsmacht absprachen. Wir haben Faktoren wie die „Wahl“ völlig außer Acht gelassen, was auch ein Grund dafür sein kann, bestimmte Kleiderordnungen zu akzeptieren. Und selbst wenn die Wahl eine Erwägung ist, ist die allgemeine Vorstellung unter den meisten Leuten, dass solche Wahlen Resultate der verzerrten Vorstellungen und der frommen Orthodoxie seien.

Aber ist es denn nicht möglich, dass eine Frau, die eine Burka trägt, auch modern und fortschrittlich sein kann? Kann Kleidung nicht ein Teil der eigenen Identität und Wahl sein anstelle von Auferlegung und Spiegelbild orthodoxer Überzeugungen und Weltanschauungen?

Und während wir kritisieren, neigen wir irgendwie dazu, zu glauben, dass unsere Perspektiven liberal seien und wir zu dieser Kategorie von Menschen gehörten, die als aufgeschlossen angesehen werden könnten. Eine Frage faszinierte mich besonders, die ein Freundin stellte. Diese Frage und ihre anschließenden Nachforschungen veränderten meine Sichtweise.

Sie fragte:

Sind wir wirklich aufgeschlossen und haben eine echte liberale Einstellung?

Wir alle waren davon überzeugt, und wir nickten und sahen uns dabei gegenseitig an. Zuerst schien ihre Frage völlig fehl am Platz zu sein, aber in der weiteren Diskussion wurde mir klar, wie falsch ich all die Jahre lag, zu glauben, liberal eingestellt zu sein.

Bedeutet liberal zu sein nicht, tolerant, weltoffen, unvoreingenommen und entgegenkommend zu sein – und vor allem bereit zu sein, Verhaltensweisen oder Meinungen zu akzeptieren, die sich von unseren unterscheiden? Ist unsere sogenannte liberale Sichtweise oder unser Denken nicht eine Illusion, wenn wir die Menschen als modern oder konservativ abgrenzen – je nach Wahl ihrer Kleidung?

Warum wird das Tragen eines Bikinis von den meisten Menschen mit Modernität gleichgestellt, während eine Frau in Burka zum Synonym für Orthodoxie und damit gegen die Progressivität wird? Ist nicht eine solche Tendenz, die den Menschen abschottet aufgrund seines Outfits, ein Spiegelbild unseres verzerrten Verständnisses von Modernität und Progressivität?

Ich erkannte, dass, wenn man wirklich offen und tolerant ist, man sich nicht in solche Denkmuster verstricken würde. Dadurch würde man tatsächlich Ausgeglichenheit erlangen und man wäre wirklich offen für alternative Denkweisen, die auch der eigenen weltanschaulichen Sichtweise widersprechen.

Ja, es ist an der Zeit, dass wir anfangen, unsere eigene Wahrnehmung über uns selbst als liberal denkende Menschen in Frage zu stellen. Es ist an der Zeit, viele unserer Mutmaßungen über Modernität und Fortschrittlichkeit in Frage zu stellen.

Übersetzung Englisch-Deutsch: Anna Dichen

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Frau in Niqab Frau in Niqab Antoine Taveneaux CC BY-SA 3.0