“Für einen Frieden, der machbar erscheint.” Interview Teil 2

Rüdiger Lenz
Gesellschaft

Der zweite Teil des Gesprächs mit Rüdiger Lenz – über die Entwicklung des „Nichtkampf“-Prinzips und die Entdeckung von Deeskalation im Kampfsport. Ein Blick auf die Gemeinschaft „Mensch“ und welche Mechanismen und Methoden eingesetzt werden können um diese zu teilen und zu zerstören.

Herr Lenz, Sie haben über Jahre Taekwondo unterrichtet, haben eine Schule geführt, Menschen im Kampfsport unterrichtet und waren im Sicherheitsdienst tätig. Dies war immer mit großem Erfolg verbunden. Trotzdem aber wurden Sie zum „Nichtkämpfer“.
Wie kommt es, dass man über den Kampfsport zum „Nichtkampf-Therapeuten“ wird und sogar eine Form der Heilung für Gewalttäter erforscht und entwickelt?

Ich bin ja gar nicht durch die Kampfkunst auf die Nichtkampfkunst gekommen. Schlüsselerlebnis dazu war die Trennung mit der Mutter meines Kindes 1998. Die Mutter hat nämlich alle Hebel in Bewegung gesetzt, um mir den Kontakt zu meinem Kind unmöglich zu machen. Sehr erfolgreich. Sie baute mich als Feindbild gegenüber meinem Sohn auf, und so waren Kontakte zu ihm unmöglich. Elternfeindbild-Syndrom nennt sich das.

Damals schon begann ich darüber nachzudenken, wie es gelingen kann, einem Konfliktverursacher das Spiel am Konflikt zu vermiesen.

Im Sicherheitsdienst begann ich, mit Schlägern eine spezielle Form der Deeskalation zu erfinden, die ich erst wirklich abrunden konnte, als ich mit Dr. Michael Heilemann Sozialagenten im Anti-Aggressivitäts-Training AAT fortbildete. Dort habe ich dann mit einer Gruppe von Pädagogen und Erziehern eines Heimes für schwer erziehbare Kinder ein Deeskalations-Konzept entwickelt, das dann zum Nichtkampf führte.

Ich nannte das damals „Die Lehre vom Überwinden des Zweikampfs“. Eine Do-Philosophie. Heißt, eine Philosophie innerhalb eines Kampfkunstsystems, wonach es fortan seine Techniken begründet. Dieses habe ich dann mit meinen Kampfsportschülern ausgearbeitet. Danach erst ist mir bewusst geworden, dass es sich bei dem, was ich neu begründet habe, um den Nichtkampf handelt. Daraufhin schrieb ich dann mein zweites Buch: „Das Nichtkampf-Prinzip“. So wurde der Nichtkampf als ein neues Sozialtraining geboren. Das waren die Anfänge von 2002 bis 2005.

Heute steht der Nichtkampf als ein globales Friedensangebot für die ganze Menschheit zur Verfügung. Seine Axiome sind der Selbsterhalt und die Unversehrtheit.

Und damit ist er Teil der Spieltheorie und ein kooperatives Mittel für eine andere Finanzwirtschaft und ein anderes Sozialsystem. Aber das führt jetzt zu weit.

Der Nichtkampf stellt den Menschen wieder in sein Gleichgewicht. Daher ist er die Heilung für alle Formen des Ungleichgewichtes, die wir seit Jahrhunderten selbst produzieren. Krankheiten sind der Kampf eines Systems gegen das System selbst. Das hat der Mensch noch nicht wirklich verstanden. Daher kommt dann wohl auch das große Interesse für das Nichtkampf-Prinzip. Es ist Teil der Friedensbewegung geworden. Denn Frieden ist ja nichts anderes als das Gleichgewicht aller Gleichgewichte innerhalb eines Gesamtsystems. In der Biologie nennt man den Nichtkampf Homöostase.

Alles was ich als Kampfsportler getan und erkannt habe, kam mir nun hierbei zugute. Deeskalation zu entwickeln ist bis zum Nichtkampf-Prinzip nicht wirklich gelungen. Erst heute verfügen wir über das, was Deeskalation tatsächlich ist und auch sein soll: eine Handlung, die von der Gewalt wegführt. Das hatte vor mir noch niemand so entwickelt und verfeinert, dass es bei der Tätertherapie angewendet werden kann. Bisher war Deeskalation nichts anderes als abgespeckte Selbstverteidigung.

Sie gehen unter anderem in Gefängnisse und arbeiten direkt mit Gewalttätern. Gelingt es Ihnen, diese Menschen aus der Gewaltspirale zu lösen?

Ja, bei den meisten ist mir das gelungen. Allerdings sind meine Methoden völlig unkonventionell. Ich habe sie mir während der Arbeit mit Straftätern selbst erarbeitet. Sowas kommt im Studium nicht vor. Ohne ein Vorwissen oder Studium dazu habe ich einfach gehandelt. Ab ins kalte Wasser. So war das damals, 2003, bei mir. Das einzige, was ich damals gut konnte, das waren Kampfkünste. Und so fing ich als Deeskalationstrainer an und endete als Therapeut für Gewaltstraftäter.

Es ist das, was ich ‚die Sprache des Zweikampfs‘ nenne, weswegen ich mehr Erfolg habe als die meisten Psychologen oder Sozialagenten vor Ort. Diese Sprache ist die Sprache der Täter. Wenn man sie beherrscht, ist das die Eintrittskarte in ihre Welt und damit die erste Hälfte des Erfolgs, mit ihnen an ihrem Wandel zu arbeiten.

Dr. Michael Heilemann, der das Anti-Aggressivitäts-Training AAT in der JA Hameln entwickelte, forderte mich auf, in seiner Praxis mit zu therapieren, weil er von meiner Methode, mit Gewaltstraftätern zu arbeiten, sehr profitierte und von ihr überzeugt war. Ich bildete mit ihm in Frankfurt auch Anti-Aggressivitäts-Trainer aus, ohne selbst so eine Ausbildung zu besitzen. Das ist in solchen Kreisen ein seltenes Ereignis. Viele ausgebildete Sozialtrainer und Studenten kamen zu meinen Trainings, nur um mir dabei zuzusehen. Nach dem Training kamen sie zu mir und waren sehr beeindruckt von dem Nichtkampf-Prinzip. So war es immer, wenn ich mit Tätern arbeitete und in Gefängnissen dazu eingeladen wurde. Das war eine sehr intensive Zeit. Ich arbeitete 16 Stunden am Tag und das drei Jahre ununterbrochen, um in dem gut zu werden, was vor mir lag.

Mein Motto damals war:

Wenn andere Urlaub haben, lernst du, wenn andere Wochenende haben, arbeitest du, wenn andere zu Bett gehen, schreibst du, denn du willst wirklich gut werden in dem, was du machst – du hast keine Ausbildung, also musst du das tun, was Frauen tun, wenn sie Erfolg haben wollen: Du musst doppelt so gut sein wie gute Trainer, wie gute Psychologen und wie gute Soziologen.

So bin ich dann ein Spezialist für Gewaltphänomene und Gewalttherapien geworden. Sogar – und darauf bin ich ziemlich stolz – Wilhelm Heitmeyer hat mich damals eingeladen, um praktisches Wissen mit theoretischem zu vermengen. Die Professoren umlagerten mich, was ich zuvor nicht kannte.

Heute bin ich ein Experte im Umgang mit Tätern und mit Gewalttheorien. Oft holt man mich zu Fällen, die unlösbar scheinen, und die löse ich. Aber es gibt auch Täter, die nicht therapierbar sind.

Die kennt man aber schon im Vorfeld in einer JVA, und man arbeitet nicht mit ihnen an einer Therapie. Ich bin heute auch in der Gewaltarbeit stark beratend tätig. Das hat damit zu tun, dass Täterarbeit einem die gesamte Psychologie abverlangt. Das Gewaltphänomen ist ein Netz, das die gesamte Gesellschaft und das gesamte Sein des Menschen überspannt. Das ist ziemlich spannend.

Rüdiger Lenz (Rede)

Gibt es Verbrecher, bei denen Sie meinen: Die sind nicht zu therapieren?

Ja, die gibt es. Je mehr ein Verbrecher von seinem Verbrechen profitiert und sich seiner Popularität in der Peer-Group bewusst ist, desto schwieriger wird es, ihn von einem anderen Weg zu überzeugen.

Der Hirnforscher Manfred Spitzer sagt, dass man Menschen bis zum 26. Lebensjahr noch retten kann. Danach sollte man es nicht mehr versuchen.

Der Mann weiß, was er sagt! Daher arbeite ich auch meistens mit jugendlichen oder jungerwachsenen Gewaltstraftätern.

Alter und Peer-Group spielen eine große Rolle beim Erfolg einer Therapie, weswegen wir dazu übergegangen sind, IQ-Tests mit den Absolventen zu machen und hauptsächlich Täter im Alphastatus-Bereich nehmen. Überzeugen wir einen Boss, also den Alpha, dann überzeugt dieser seine Peer-Group.

Und beim nächsten Training ist dann dieser Ex-Täter Tutor eines neuen Trainings mit neuen Teilnehmern. Das überzeugt und beruhigt die Teilnehmer, und sie lassen sich schneller und deutlicher auf das Training ein. Eine Trainings-Therapie sollte also in diesem Sinne stets selbstoptimiert auf das Problem im Ganzen eingehen können. Aber wer nun glaubt, alle Täter seien auch therapierbar, der hat von der Praxis keinerlei Gebrauch gemacht.

Korrigieren Sie mich bitte, wenn ich mich täusche.
Momentan erleben wir eine Extremisierung unserer Gesellschaft. Egal nach welchem Spektrum, ob links oder rechts, religiös oder aufklärerisch, die Menschen scheinen in ihrem Auftreten immer gewaltbereiter zu werden und tragen offen ihren Frust, ihre Wut zur Schau. Ein Blick in soziale Medien reicht, um zu verstehen, was ich andeute. Zugleich aber scheuen sich auch die Mainstreammedien nicht davor, bei der aufgesetzten Hysterie mitzumachen. Das scheint ein idealer Nährboden für eine große Eskalation zu sein.
Wie sehen Sie diese Entwicklungen?

Schon immer gab es in solchen Zeiten zur Lösung die selbe Antwort: Teile und herrsche. Das erleben wir gerade in einer komprimierten Form. Rechts oder Links sind nur Fassaden für das gleiche Problem. Das Problem ist der nicht vollzogene Bewusstseinswandel seit Jahrhunderten. Der steht noch aus und will einfach nicht milliardenfach gelingen.

Seit der ersten großen Bankenkrise, Anfang dieses Jahrhunderts, ist das Problem jedoch in eine unübersehbare Stufe übergegangen. Und dieses Problem ist ein inneres Problem der Menschen.

Es ist ihr inneres Opfersein, das sie in unterschiedlichen Fassaden in die Gesellschaft hineinprojizieren und nicht selbst lösen. Das tun viele Menschen vermehrt, wenn der Zugang zu Wohlstand und Lebensqualität eingeschränkt wird. Das ist der Auslöser für Unruhen.

So etwas wie die Ukraine-Krise erschrickt bloß die Friedensaktivisten. Hunger und mögliche Teilhabe an Armut und Arbeitslosigkeit sind direkte Kandidaten, die die Aufmerksamkeit der Massen im Sturm erobern. Krieg oder Frieden sind es weitaus weniger. In keinem der beiden Weltkriege beispielsweise hat ja einer der ursprünglich beteiligten Staaten gesiegt oder den Krieg auf andere Art überwunden. Es waren die Alliierten, vornehmlich die zunächst bloß am Rande beteiligten USA, die zur Beendigung der beiden Kriege einen Löwenanteil beitrugen. Der Extremismus ist nur ein Symptom, das dann um sich greift, wenn es ernst wird und nur noch ein halbes Brot zum Essen gereicht wird. Auch die Feindbildprojektionen, ihre Genese, sind hier nur Symptome.

Ursache ist die massenhafte Unselbstständigkeit der Menschen, ihre Fremdanhimmelung, ihre Führerkulte, ihre innere Selbstverleugnung. Dadurch ist der Mensch in der Gewohnheit, nicht sich selbst zum Vorbild zu nehmen, sondern fremde Mächte anzuhimmeln und ihnen zu folgen.

Das hat zu einer Genese der Fremdherrschaft geführt, in der eine Erziehung und Bildung etabliert wurde, die Menschsein nur noch in Abhängigkeit zu einem systemimmanenten Gehorsam erzwang. Heil Cäsar, Heil Hitler, das ist hier der Absolutismus von Gehorsamsextase und völliger Selbstauflösung des Menschen. Für Machtmenschen ein wahrer Traum, denn es gibt keine vollkommenere Fremdbestimmtheit als jene.

Es gab sogenannte Hotspots dieser Entwicklungen in der Geschichte der Menschheit. Sie wurden zu Helden der Geschichte erklärt und in Schulen mussten wir sie auswendig lernen. Dieser Gehorsam betrifft das ganze Menschsein, sein Kult, zur Masse dazuzugehören. Umgekehrt erzeugt gerade diese Tradition eine sehr große Menge an destruktivem Verhalten. In extremen gesellschaftsübergreifenden Situationen wird diese Destruktivität von den herrschenden Klassen gekonnt kanalisiert.

Wir erleben derzeit die Anfänge dieser Kanalisierung der Destruktivität. Das heißt, es ist kurz vor 1933.

Ich sehe zum Beispiel heute, dass viel über den jetzigen Präsidenten der USA berichtet wird. Ich sehe die Liveschaltungen seiner Reden und wie viele vor ihm sitzen oder stehen und ihm zuhören. Ich sehe, wie viele Aktivisten sich mit ihm beschäftigen. Sie schreiben ständig über ihn und die Probleme dieser Welt in Bezug zu den USA und Europa und Russland usw. Ich fliege dann immer in Gedanken in einem Ufo über das Geschehen und denke: „Was für ein Kindergarten das Ganze!“ Das alles gilt es zu überwinden.

Daher höre ich auch keinem Friedensaktivisten mehr zu, wenn er ständig über Krieg, Bedrohung und Endzeit schwafelt. Denn dieser Aktivist ist nicht imstande zu verstehen, dass er damit genau das manifestiert, was er eigentlich verhindern will.

Obendrein kommt noch hinzu, dass ein solcher Aktivist uns Mitaktivisten ja auffordert, in die – meiner Auffassung nach – falsche Richtung zu schauen. Lösungsrichtung oder Krisenrichtung. Die Krisengenese zu verstehen ist wichtig! Versteht man sie aber, dann muss an der Lösungsrichtung gearbeitet werden. Wir haben zur Lösung nicht mehr viel Zeit.

Wie kann man dagegenhalten?

Nur sehr schwer. Die Trägheit der Massen ist nicht zu überwinden. Leider. Wer auch immer dagegenhält, der wird zum Objekt der Ächtung erklärt. Man will die Massen und sich befreien, doch dann begreift man verblüfft, dass die Massen ein Kreuz bauen, um einen an selbiges zu nageln.

Natürlich kann man im großen Maßstab dagegenhalten. Durch ein anderes Bildungs- und Arbeitssystem. Ein System der Potenzialentwicklung und Potenzialentfaltung. Würde man solch einem System aber den Vorrang geben, dann würde dies die Auflösung nicht nur des derzeit bestehenden Systems bedeuten. Es würde die Herrschaftspyramide komplett auflösen. Denn jeder Einzelne würde schnell begreifen, dass die derzeitige Fremdbestimmung totalitäre Ungleichgewichte in allen Formen verursacht.

Ungleichgewichte verursachen Krankheiten des Körpers, des Geistes und der Gesellschaft, wie Finanzkrebs etc. Fast alle finanzwirtschaftlichen Produkte oder Unternehmungen sind ja Ersatz für die Gewissheit, sich selbst genügen zu können.

Der ganze Materialismus beruht auf einer großen Lüge: Die der Befriedigung von Bedürfnissen durch gleichzeitige Erhöhung des Lebens. Diese Lüge ist der größte Marketingtrick aller Zeiten. Denn ihm sind fast alle erlegen, sogar die Klügsten. Sein Gefängnis ist die Technokratie. Der Gott über dem abrahamitischen Gott. Ein Mensch, der seine Potenziale entfaltet und nach ihnen lebt, der braucht das allermeiste davon nicht mehr. Und das ist die Gefahr, die die herrschende Klasse durchaus ganz genau kennt und wegen der sie sehr viel Geld in die Vertuschung dieser Selbstverwirklichung pumpt.

Man kann nur etwas dagegen tun, indem man sich selbst ändert. Sich hinzustellen und die Masse dazu aufzufordern, damit sie damit beginnt, sich zu ändern, ist nicht der Weg zum Erfolg.

Was man damit erreicht ist, dass ganz wenige davon angezogen werden und diese Veränderung über Jahrzehnte vollziehen. Aber die meisten lassen nach zwei oder vier Jahren davon ab. Es ist ja auch eine wirklich sehr disziplinierte Arbeit, sich zu ändern. Sich selbst zu ändern, verlangt einem alles ab! Es ist ein Sehnen, welches Friedrich Schiller in seiner „Ode an die Freude“ wie folgt in Poesie packte: „Deine Zauber binden wieder,/Was die Mode streng geteilt;/Alle Menschen werden Brüder,/ Wo dein sanfter Flügel weilt./“

Um zu verstehen, was wir dagegenhalten können, zitiere ich den Psychoanalytiker Arno Gruen aus seinem Buch ‚Der Wahnsinn der Normalität‘: ‚Denn ein nicht auf Autonomie gegründetes Selbst revoltiert nicht, weil sich seine Natur grundlegend gewandelt hat. Es ändert nur die Richtung seiner Gewalttätigkeit. Revolutionen mögen an den Formen der Knechtschaft etwas ändern oder nicht – an der Knechtschaft selbst ändert sich nichts, solange die Autoritätshörigkeit nicht überwunden wird. Dann wird weiterhin das Böse als das Gute verteidigt, und es findet keine wirkliche Befreiung des Selbst statt. Erst sie würde zurückführen zu den wahren Bedürfnissen nach Liebe und den Teufelskreislauf der Zerstörung durchbrechen.‘

Diesen Blick auf die Lösung zum Problem der menschlichen Destruktivität aber bekommt man nicht, wenn man sich hauptsächlich bloß mit Geostrategie, Verschwörungen und Geheimgesellschaften beschäftigt. Wer das tut – und das tut die überwältigende Mehrheit der Friedensaktivisten tagtäglich -, der umschifft die Lösung in einem maladaptiven Stil. Dr. Daniele Ganser macht dies aus beruflichen Gründen und nicht aus maladaptivem Umschiffen des Problems. Zu schnell kann missverstanden werden, was ich hier sage. Auch Ken Jebsen macht dies aus beruflichen Gründen. Viele machen das aus beruflichen Gründen und mit vollem Eifer. Das ist das Gute an der Friedensbewegung.

Wenn Sie in die Welt hinaus sehen, Herr Lenz: Was würden Sie sich für die Menschen wünschen?

Ich würde mir wünschen, die Menschen verstünden, dass alle Probleme, die wir in der äußeren Welt produzieren, Probleme unseres nach innen gerichteten Missverständnisses über uns selbst sind. Es sind Probleme des Selbst, Bewusstseinsverirrungen.

Jiddu Krishnamurti hat das zwar äußerst radikal, aber auch sehr treffend oft haarfein gesagt und erläutert.

Nehmen wir die Bankenkrise: Sie ist keine Krise der Banken, sondern Teil unserer Bewusstseinsverirrung und damit eine Wahrnehmungsstörung. Nehmen wir die Währungskrisen: Auch sie sind Krisen der Menschen, die falschen Handel treiben. Denn die Banken wie auch die gesamte Finanzwirtschaft sind Erzeugnisse der Menschen. Es sind allesamt Bewusstseinskrisen, weil der Mensch den rechten Weg verlassen hat, sich um die Menschen zu kümmern, sich in Empathie auszulassen und seine Menschlichkeit zu leben und zu fördern.

Nehmen wir mein Lieblingsproblem, das Umweltproblem. Die Umwelt hat ja in der Realität gar keine Probleme. Es ist eher umgekehrt. Wir verursachen in unserer Lebenswelt Probleme, wo dann die Umwelt ihre Anpassung an uns aufgibt. So ist es! Wir entfremden uns von unserer Lebenswelt. Wir behandeln Gaia wie einen dreckigen Müllhaufen.

Unsere Umwelt ist jedoch eine Mitwelt, die uns direkt und indirekt beeinflusst, mit der wir aufs Tiefste verbunden sind, aus der wir stammen und mit der wir ein Geschöpf unter ganz vielen Geschöpfen sind! Wir zerschneiden dieses Band, diese Verbundenheit, die wir mit dem Ganzen haben. Das macht nicht die Umwelt.

Die Umwelt tut das, was sie seit Jahrmillionen schon immer tat: Sie ist einfach da und bietet sich als Rundumversorgung an. Das ist ihr Auftrag, und darin ist sie absolute Spitze.

Wir aber denken sehr primitiv über sie und behandeln sie als unsere Sondermülldeponie. Deswegen haben wir ja auch die Zivilisation über sie gestülpt. Sie untertan zu machen ist der Zweck und die Bedeutung von Zivilisation. Der zivilisierte Mensch ist immer auch Teil dieses Umstandes. Uns ist die Natur in der Vergangenheit zu unberechenbar gewesen, weil wir, der Homo sapiens sapiens, uns überall vermehrten und uns überall niederließen. Ein Kosmopolit mit dem Auftrag, der Erde ihre Natur zu entreißen und sie wegzuwerfen, achtlos, respektlos und nicht nachdenkend über weitere Generationen, deren Heimat diese Kugel bleiben wird.

Unsere tiefen Ängste vor den Fragen: „Woher kommen wir, wozu sind wir hier, wohin gehen wir?“, haben uns gegen sie positioniert, und an ihrer Statt haben wir einen uns zum Ebenbild konstruierten Gott erschaffen, der angeblich uns sagte: Macht euch diesen ganzen großen Klumpen zu eurem Eigentum. Das war der Startschuss für die Kolonialisierung des gesamten Planeten unter der Ägide eines kriegerischen Gottes, der auch den Startschuss für Rassismus schuf, für das Recht zu sagen: „Die da, die wollen unsere Art zu leben nicht. Sie hassen unseren Wohlstand und unseren Handel.“

Was für eine Blasphemie! Gott ist die größte aller großen Scheinlösungen für ein Problem, vor dem wir weglaufen und nicht bereit sind, es wirklich zu lösen.

Was ich mir für die Menschen wünsche ist, dass sie das erkennen und umkehren. Denn tun wir das nicht, dann wird dieser Planet auch gerne ohne uns sehr gut zurechtkommen. Die anderen Tiere werden nicht in Schwarz zu unserer eigenen Ausrottung am Massengrab weinen. Ich glaube, es wird den ganzen Planeten überhaupt nicht jucken. Wenn wir Menschen weiterhin dazu erzogen und gebildet werden, uns von unserer Liebe zum Leben abzunabeln, dann werden wir uns auch weiterhin in unserer Haut unwohl fühlen.

Wir werden dann weiterhin den Anderen zur Projektionsfläche und zum Übel, das uns widerfuhr, machen. Wir werden weiterhin Feindbilder am Fließband produzieren und alles, was da kreucht und fleucht, vernichten, achtlos auffressen, zertreten, heimatlos machen oder gleich ganz ausrotten. Nur damit wir weiterhin vor uns weglaufen dürfen und alle Schuld dem Anderen zuführen können. Das ist bequemer. Alles im Auftrag eines Gottes der Liebe.

Kommt das wirklich nur ein paar wenigen Menschen komisch vor? Ich wünsche mir, dass immer mehr Menschen aufstehen und sagen: „Ich will das nicht mehr! Denn wenn ich das weiterhin so mache, dann zerstöre ich meine Kinder, unsere Kinder.“ Und das ist das größte aller Verbrechen, zu dem Menschen fähig sind. Seit gut zwanzig Jahren mache ich da nicht mehr mit, weil ich es mir wert bin, mein Leben so zu führen, wie ich das will. Niemand führt mich durchs Leben. Nur mein inneres Verlangen tut das. Einen Weg zurück kann ich mir nicht vorstellen. Das wäre Folter an mir selbst.

Credits

Image Title Autor License
Rüdiger Lenz Rüdiger Lenz Rüdiger Lenz CC BY-SA 4.0
Rüdiger Lenz (Rede) Rüdiger Lenz (Rede) Rüdiger Lenz CC BY-SA 4.0