„Für einen Frieden, der machbar erscheint.“ Interview Teil 1

Rüdiger Lenz
Gesellschaft

Ist die westliche Moderne genau das gelebte Konzept, auf das man sich so gerne beruft, oder verstecken sich dahinter nicht Methoden und Mechanismen der Gewaltanwendung, die sich schon über Jahrhunderte, wenn nicht sogar über Jahrtausende in uns Menschen festigen konnten und durften?

Eine Gesellschaft, die gerade in ihren wichtigsten Institutionen nicht auf Freiheit, sondern auf Herrschaft und Zwang setzt, kann eben nicht so frei sein, wie es noch so sehr und vehement behauptet wird.

Für Idealism Prevails habe ich mich auf die Suche nach einem Menschen gemacht, der hinter die gesellschaftlichen Normen blickt, indem er sich mit ihren Auswürfen befasst. Rüdiger Lenz ist Entdecker des „Nichtkampf-Prinzips“, Therapeut und Gewaltforscher.

Er geht genau dorthin, wo die Hoffnung nur noch als Sonnenschein durch vergitterte Fenster schimmert, in Gefängnisse, wo Gewalttäter ihre Strafe absitzen müssen. Bei der Arbeit mit diesen Menschen hat er eine Resozialisierungsquote, die dem Autodidakten auch bei Akademikern und Wissenschaftlern Beachtung verschafft.

Ein Gespräch in zwei Teilen über die Arbeit von Rüdiger Lenz, welche auf den einzelnen Menschen, aber auch auf Gemeinschaften und Gesellschaften anwendbar ist.

Herr Lenz, was ist Gewalt?

Puuh, das scheint eine leichte Frage zu sein, sie ist aber sehr schwer zu beantworten.

Um zu verstehen, was Gewalt ist, braucht es ein generelles Verständnis um drei weitere Begriffe: Aggressivität, Konflikt und Kampf.

Kampf steht hier auch synonym für Krieg oder Schlachtfeld (Campus). Gewalt steht in diesem Kontext, und es macht wenig Sinn, den Gewaltbegriff einzeln erklären zu wollen. Was ja zu seiner Irritation viel beigetragen hat. Nehmen wir den Begriff der Aggressivität. Fragt man Menschen, was Aggressivität ist, so definieren sie dies um zum Gewaltbegriff. Was überhaupt nicht stimmt. Hinzu käme noch zu verstehen, unter welchen Umständen denn Gewalt als ein Verhalten im Menschen zum Ausbruch kommen kann und wann nicht. Aus der Sicht des Gehirns sind Bildung, Erziehung und Therapie ein und dasselbe.

Gewalt gehört zu einer Kette von Verhaltensweisen, die als ein Ersatz für ein anderes Verhalten stehen. In der Psychologie nennt man sie ‚maladaptive Verhaltensweisen‘.

Gewalttäter, also Menschen, die in Serie – d.h. seit Jahren – Gewalt ausüben, sind gewaltsüchtig. Bei ihnen entsteht das gleiche Nervennetz wie bei einer Drogensucht. Es gibt außerhalb der Suchtstoffe sehr viele Verhaltensweisen, die süchtig machen können, wenn sie maladaptiv angewendet werden. Politiker oder Militärs beispielsweise sind davon – ohne es zu wissen – genauso betroffen wie die Schläger oder Gewaltstraftäter, mit denen ich es lange zu tun hatte. Nur spricht die Gesellschaft nicht im Sinne des Gewaltproblems in dem Maße darüber, weil das Gewaltphänomen in Bildungseinrichtungen anders präferiert wird. Liest man hingegen die großen Psychologen und Soziologen, so herrscht Einvernehmen über den Gewaltbegriff, so wie ich ihn hier in Kürze darlege.

Im Grund entsteht der Wunsch, Gewalt auszuüben, durch ein hohes Ohnmachtsgefühl im Menschen.

Diese Ohnmacht betrifft immer die eigene Lebenssituation, in der Erfolglosigkeit sehr erfolgreich praktiziert wird. Und um dem Gefühl zu entgehen, produziert man in einem anderen Menschen noch mehr Ohnmacht – eben durch Gewalthandlungen. Dadurch entsteht ein maladaptives Machtgefühl im Täter, die Ohnmacht sowie der Grund der Ohnmacht schwinden und ein Erfolgsgefühl wird erlebt.

Der einzige Ausweg, aus dieser Gewaltspirale herauszukommen, ist das Erleben dauerhaften Erfolges.

Der erlebte Erfolg muss nicht darin bestehen, einen Ferrari sein Eigen nennen zu können. Viel eher kommen hier die ganz alltäglichen und nahbaren Erfolgssituationen zum Tragen.

Wichtig ist, zu erlernen, wie man Konflikte löst, welche Strategien dazu hilfreich sind.

Gewalt ist Ausdruck von Desintegration, sagen Soziologen. Womit sie Recht haben, aber damit beginnt auch die ganze Verschleierung des Themas der Gewalt. Von der Ohrfeige bis zum Abwurf der Atombombe. Es geht um das sogenannte Integrationspotenzial des Einzelnen und in wieweit die Gesellschaft ihre Ziele davon unbeeindruckt lässt, ihre Mitglieder an ihren Potenzialen zu messen und nicht stur irgendeine Bildungs- und Arbeitsrichtung vorgibt, in denen der Einzelne nicht berücksichtigt wird.

Hinzu kommt wesentlich auch die Erziehung hin zu Verhaltensweisen, die dem System, nicht aber der freien Entfaltung der Persönlichkeit und der Identitätsfindung dienlich sind.

Das ist, kurz gesagt, das Kernproblem von Gewalt ganz allgemein. Die gesamte Gesellschaft ist davon betroffen. Nicht nur die Schulschläger oder das Arbeitsplatzmobbing. Die ganze Finanzwirtschaft steht Gewaltfantasien offen und ist ein Tummelplatz zum Ausleben von Psychopathie und Soziopathie geworden. Das durchzieht das ganze Militär, die Geheimdienste, die Medien und auch die Sozialindustrie. Der Fingerzeig und Aufschrei hin zu den Gewaltstraftätern ist eine Ablenkungsstrategie für das Volk, um nicht in die richtige Richtung zu schauen, wenn es von der Kanzel runter heißt: „Wir brauchen Lösungen für das Gewaltproblem.“

Lösungen müssten zunächst den Ursprung des Konfliktes suchen, da der Auslöser von Gewalt nicht – wie weithin angenommen und gelehrt wird – die Aggressionen oder die Aggressivität ist. Auslöser von Gewaltfantasien und Gewalttaten ist immer ein innerer Konflikt. Aggressivität ist der Intensitätsgrad der Handlung.

Kann Gewalt ansteckend sein?

Nein! Gewalt kann aber übertragen und tradiert werden. Deshalb waren die meisten Täter früher Opfer von Gewalt. Gewalt ist eine geistige Krankheit. Und wenn Ideen starke Viren sein können, dann könnte man Gewalt als ansteckend bezeichnen. Aber Gewalttäter können einen gesunden, mit sich verwurzelten Menschen nicht anstecken.

Wollte man einen gesunden Menschen mit Gewalt infizieren, so gelänge das nur über langanhaltende Propaganda (Strategie des Militärs) oder Gehirnwäsche (Strategie der Politik über die Medien). Bei beidem aber müsste zuvor in der Erziehung und Menschwerdung das geschehen, was der Psychoanalytiker Arno Gruen „Der Fremde in uns“ nennt. Es würde zu weit führen, das jetzt hier zu erklären.

Ich habe das in meinem „Wiener Vortrag“ zum Thema gehabt und verweise hier einmal auf diesen Vortrag, der auf YouTube unter dem Kanal „Gruppe42“ zu sehen ist. Wäre Gewalt ansteckend, dann hätten wir eine Pandemie. Ich bin froh darüber, dass Gewalt nicht ansteckend ist, denn dann wäre unsere Art schon längst vor unserer Zeit ausgestorben. Mel Gibsons neuer Kinofilm „Hacksaw Ridge“ zeigt ja eindeutig, dass Gewalt nicht ansteckend ist.

Der renommierte Friedensforscher Dr. Daniele Ganser spricht in seinen Vorträgen von der „Gewaltspirale“. Für ihn sind Krieg und die damit verbundenen Verbrechen immer eine Verkettung von verschiedenen Ursachen, die dann zu einem Gewaltausbruch führen.

Dr. Daniele Ganser ist Friedensforscher im Sinne der Aufdeckung geostrategischer Ereignisse und Intrigen. Er ist quasi der Sherlock Holmes verdeckter Operationen auf diesem geostrategisch sehr großen Brett.

Die Gewaltspirale steht auch im Hauptfokus der meisten Akteure innerhalb der Friedensbewegung sowie außerhalb der Bewegung. Dieses Wissen ist zunächst für viele der Eintritt in die Bewegung. Für mich aber ist das keine Ursachenforschung, sondern Symptomerkennung. Und sie ist wichtig! Sie kann aber nicht zur Lösung des Phänomens führen. Eher zu Aufständen oder Revolten.

Schaut man allein auf geostrategisches Involvement von Krieg und Frieden, so schaut man auf die Oberfläche. Auf das, was das Gewaltphänomen bewirkt, und nicht, durch was es hervorgebracht wird. Es ist vergleichbar mit den Wunden, die ein Schläger beim Opfer verursacht. Baut man nur anhand dieser Wunden eine Psychologie der Täter auf, so wäre sie in der Praxis völlig untauglich, um Gewalt im Täter zu wandeln. Das ist für mich ein wesentlicher Unterschied, hin zu einer Strategie für den Frieden. Für einen Frieden also, der nicht nur möglich, sondern viel eher auch machbar erscheint.

Letztlich sind selbst Bündnistreue und Bündnisverhalten der Staatenblöcke nichts weiter als Schall und Rauch. Sie gelten nur so lange, bis einer sie auflöst oder einer aus ihnen herausgeht und einem anderen Bündnis beitritt. Und damit sind solche Strategien für mich maladaptive Strategien der Suche nach einem von außen kommenden oder zu erwartenden Frieden. Denn sie verführen den Forscher wie auch den Interessenten, sich stets mit dem neuen Symptom und den neuen Strategien auszukennen und sie zu erforschen. Das ist eine unendliche Geschichte in der Historie der Menschheit.

Das ist fast wie in der Bundesliga oder einem Länderspiel im Fußball. Alle Zuseher werden zu Trainern, zu Experten des Spiels. Gerade jetzt sehen wir das ja am Beispiel des neuen Präsidenten der USA und dem aufgescheuchten Europa. Ein neues Symptom, also lasst uns wieder 10.000 Stunden Dokumentationen über das Wie und Wohin drehen.

Die Ursachen des Gewaltausbruchs liegen in Ersatzhandlungen der Führer von Staaten begründet, im Prinzip von Herrschaft ganz allgemein. Herrschaft unterdrückt die Selbstfindung und die Selbstführung. Herrschaft verlangt Fremdführung. Fremdführung führt dazu, dass die Menschen in der Gesellschaft nicht ihre Talente und ihr Potenzial entfalten und entwickeln können.

Kriege, die sich um die Ressourcen und Bodenschätze begründen, versuchen auf Umwegen an gesellschaftsstabilisierende Möglichkeiten für ihre Nationen oder Staatengemeinschaften zu kommen. Das ist irrational, weil ja die Herrschaft eines solchen Staates die Schätze der Potenziale der Menschen missachtet, aber andere überfällt, um deren Bodenschätze zu rauben.

Wäre es nicht viel klüger, die Potenziale der Menschen selbst anzuzapfen und ungeahnte Entwicklungen in Gang zu setzen, die auf den ‚Krieg wegen Ressourcenklau‘ gänzlich verzichten? Ach ja, richtig. Dann würde ja das Pyramidensystem, also die gesamte Herrschaftskaste, komplett in sich zusammenfallen. Und hier stehen wir direkt vor dem Urgrund von Kriegen, Unterdrückung, Kolonialismus und Knechtschaft und Machtausübung. Rein aus menschlicher Sicht betrachtet, geht es in erster Linie um Macht. Alles Weitere sind Füllstoffe zur Legitimität von Machtausübung.

Unsere Lebenswelt wird mit allerlei akademischem Schnickschnack legitimiert und gerechtfertigt. Quasi am Leben gehalten. Der Blick auf das große Spektakel ist bis heute die erfolgreichste Strategie der Täter (in Amtsgerichten genauso wie in Den Haag, der UN oder NATO), um von ihren eigentlichen Machenschaften abzulenken. Das gelingt seit Jahrtausenden, weil sie den Blick der Massen sowie das Interesse vieler Akademiker in die falsche Richtung zu lenken verstehen.

Die Ursachen von Kriegen liegen meiner Auffassung nach nicht im Zünden von Bomben. Da müssen wir noch viel weiter zurück. Sie liegen auch nicht im Grunde von realen Verschwörungen oder geheimen Interessengruppen. Sie liegen im Verhalten und in der völligen Erkrankung des Normalen oder Normativen begründet.

Es war die große Arbeit von Erich Fromm, das explizit erkannt zu haben. Die Seins-Kultur würde keinerlei Herrschaft oder Machtausübung benötigen. Es ist die Haben-Kultur, die das alles nach sich zieht. Und wieso ist das so? Da landen wir dann bei Arno Gruen und dem Fremden in uns.

Rüdiger Lenz (Rede)

Dr. Ganser erforscht in seiner Arbeit Gewalt, die von Staaten, Geheimdiensten oder Militärbündnissen ausgeht. Sie selber behandeln und untersuchen eher den Menschen als einzelnes Individuum und wie er Konflikte gewaltfrei lösen kann.

Ja. Da sind wir bei dem, was die Wissenschaften leider bis heute am besten können: Dem Teilen eines Forschungsgebietes in zahlreiche Fächer, sodass kein einziger Mensch mehr das Wissen einer Gesamtschau erlangen kann. Bravo!

Alexander von Humboldt war der erste große Forscher, der das bemängelte und wusste, dass dieses Trennen nicht zu wissenschaftlichen Erkenntnissen führen kann. Und er sollte Recht behalten.

Für Humboldt gab es nur die ganze Natur. Alles hing miteinander zusammen und nichts konnte man herausnehmen, ohne den Blick auf das Ganze dabei zu trüben.

Das, was Humboldt aber als das Wichtigste bei einem Forscher ansah, das war seine Fähigkeit, nicht bloß die Fakten zu messen und Statistiken zu erheben, um empirisch einen Blick auf das Ganze zu erhaschen und seriös zu erscheinen. Für ihn war es undenkbar, das, was man erforschte, nicht auch ganz und gar zu fühlen. Das zu Erkennende zu fühlen war ihm wichtiger, als bloß zu wissen. Eins sein mit dem, was man forschte, war zu Humboldts Zeiten eine wissenschaftliche Revolution, aus der zahlreiche namhafte Wissenschaftler hervorkamen. Nur so konnte er seine Erkenntnisse zu einem Gemälde zusammenfassen.

Ich sehe das ganz genauso mit der Friedens-, Konflikt- und Gewaltforschung. Jeder beherrscht dort sein Gebiet, doch nur ein paar von ihnen sind in der Lage, das Ganze zu sehen UND auch im gleichen Maße zu fühlen.

Wenn ich mir Dr. Daniele Gansers Arbeiten anschaue, dann sehe ich nicht bloß seine hervorragende Arbeit. Ich sehe in ihm auch einen herausragenden Pädagogen. Man kann sich dem gar nicht entziehen: Man will von ihm lernen. Er begeistert mit seiner Art, Vorträge zu halten, ganze Massen. Das ist selten in unserer Branche. Wenn es uns gelänge, das ganze Bild der Gewalt zusammenzutragen, dann hätten wir auch den Schlüssel zur Bewältigung von Kriegen in der Hand.

Das Süchtigmachen ganzer Gesellschaften nach energiereichen Rohstoffen erkannte schon Humboldt zu seiner Zeit, und er war der erste Wissenschaftler, der von einem Klimawandel sprach, wenn dieses Abholzen nicht endlich in dem riesigen Maße wie zu seiner Zeit aufhöre. Ähnliches sagt Dr. Daniele Ganser heute in Bezug auf das Öl: „Wir sind süchtig nach Öl. Das Verbrennen von so viel Öl trägt zum Treibhauseffekt bei.“ Das ist eine grandiose Aussage! Sie bezieht unser Handeln mit ein. Das halte ich für sehr wichtig.

Wir müssen auch das Unbequeme zulassen und aussprechen, wenn es um Krieg und Frieden geht: ‚Du musst dich am Frieden beteiligen. Frieden ist eine ganz grundsätzliche Haltung, wie du dein Leben gestaltest, wie du dein Leben führst und wie häufig du deine Welt und dich auch infrage stellst.

Es ist spannend, dass sich die Thesen und Wahrnehmungen von Dr. Ganser auch mit den Ihren überschneiden.

Darauf hat mich Ken Jebsen nach seinem ersten Interview mit Dr. Daniele Ganser auch angesprochen. Er hatte damals die Idee, uns beide zusammen zu interviewen.

Wo sehen Sie da gemeinsame Ideen und Lösungen?

Wenn ich über Gewalt, Konflikte, Krieg und Frieden nachdenke, dann sehe ich einen Baum mit vielen Verästelungen. Einen Stammbaum, der Destruktivität und Frieden in einem einzigen Baum vereint. Denn friedfertiges und destruktives Verhalten entspringen einem Stamm innerhalb dieses Baumes.

Dieser Stamm ist das Streben des Menschen nach Lebensqualität. Jedes Lebewesen strebt nach der Verbesserung oder dem Erhalt seiner Lebensqualität. Gespeist wird dieser Drang durch die Lebenskraftenergie, die der Ursprung und die Energie jedes einzelnen Lebens selbst ist. Alles Leben entspringt dieser Kraftenergie, und in jedem Leben ist sie vorhanden. Sie ist stärker und größer als seine Träger oder eine Art oder Spezies. Wenn diese unterdrückt wird und nicht weiterhin in Flamme und Kraft stehen darf oder soll oder kann, dann fängt Destruktivität im Nanobereich menschlichen Verhaltens an. Staut sich diese Unterdrückung weiter an, kommt Frust auf.

Wird dieser Frust nicht über bestimmte Formen der Ritualisierung oder Kanalisierung abgebaut, ändert er sich in die Bereitschaft, die aufgestaute Energie unbedingt loswerden zu wollen. Jetzt beginnt das, was ich die negative Aggressivität nenne. Jetzt beginnt der Mensch, diese Energie nach außen zu projizieren, und er fängt an, Gewalt anzuwenden. So weit, so gut. Sportliche Betätigung baut diesen Prozess oft weitestgehend ab.

Jetzt ist es in unserer Gesellschaft so, dass nicht alle Menschen, ja bloß ein ganz kleiner Teil von uns, seine Lebensqualität gemäß seines Potenzials auch entfalten kann.

Die allermeisten können das nicht. Sie müssen dem System gehorchen und tun, was für sie vorgesehen ist. Je nach Abschluss, Titel oder Zeugnis. Und für diese riesige Menge an Menschen hat man einen Trick eingeführt, damit nicht alle aufeinander losgehen und sich gegenseitig die Köpfe einschlagen: Man hat Ersatzhandlungen und Ersatzbefriedigungen (maladaptive Bedürfnisbefriedigung) geschaffen, die die vielen Menschen davon abhalten, ihre inneren Potenziale ausleben zu können. Wir nennen das den Konsum. Indem der Mensch konsumiert, ist er Mensch. Was für ein genialer Trick! Auf diesem Trick baut das gesamte System westlicher Vorherrschaft auf.

Indem er Teil hat an der Technokratie (Smartphone etc.), stärkt er seinen Selbstwert. Indem er seine Gewaltbereitschaft in archaische Johlerei und Brüllerei in den Arenen kanalisieren darf, bleibt die Gesellschaft von ihrem selbst erzeugten Gewaltpotenzial verschont. Das alles sind nur wenige Beispiele von Betrügereien am Selbst jedes Menschen. Aber der normale Mensch, der angepasste Mensch also, der merkt das alles gar nicht. Denn Anpassung ist ihm seine absolute Lebensalternative Nr. 1. Anpassung schafft ein Gefühl von Selbstherrlichkeit. „Ich gehöre zur Gruppe, kann Kontakte knüpfen, bekomme Arbeit, Lohn und Brot und kann es zu was bringen.“ Und hier nun endlich komme ich zu Dr. Daniele Ganser.

Um dies alles aufrecht zu erhalten, hat die Herrschaft Mittel erfunden, die Dr. Daniele Ganser enthüllt. Es ist ein Genuss, ihm dabei zuzuhören. Wenn wir aber das gesamte Spektrum der Gewalt, des Krieges und des Friedens entfalten und enthüllen wollen, braucht es eine Gesamtschau der Destruktivität des Menschen. Und hier sehe ich stark vernachlässigt die Psychologie oder Seelenforschung der Destruktivität.

Die gemeinsamen Lösungen, Ideen und Überschneidungen sind allzu offensichtlich:

Die strukturelle Gewalt, Teilgebiet von Dr. Daniele Ganser und mir, entspringt einer Ursache, die im Inneren von uns Menschen liegt. Gladio und andere Geheimarmeen sind ihre Symptome. Ölkriege, 9/11, Kennedymord oder die US- und NATO-Kriege im Mittleren Osten, das Ermorden demokratisch gewählter Präsidenten fast weltweit, das sind Symptome dessen, was ich zu Anfang beschrieb. Es ist die Abspaltung des Menschen von seiner Lebenskraftenergie, was ihn davon abhält, seine inneren Potenziale auszuleben.

Dies führte vor Hunderten von Jahren dazu, dass der Mensch sein Ich-Gefühl von seinem Selbst(sein) abkoppelte und fortan sein Ich gottähnlich wähnte. Ab da benötigte er zur Selbstlegitimität seines Handelns eine Fremdführung. Die Kultur des monotheistischen Allherren-Gotts begann und die abrahamitischen Religionen entwickelten sich weiter, spalteten sich in neue Zweige ab. Von der Thora bis zum Koran. Das stabilisierte seinen Gehorsam (durch Sitte und Gebrauch), festigte eine neue Erziehungskultur und all die Dinge, die wir heute von unseren Eltern eingetrichtert bekommen.

Gehorsam, nicht Empathie, wurde zum Maß aller Gefühle, allen Handelns und Denkens, alle Wünsche und Rechtfertigungen wurden einzementiert, in Marmor eingemeißelt und mit Blattgold überzogen. Die heute von den Bildungseinrichtungen verstärkt und in Kindergehirne eingefräst werden und die Norm des zivilisierten westlichen Menschen bis heute ausmachen. Wir haben uns angewöhnt, in diesem Sinn von Freiheit und Gerechtigkeit zu sprechen und bemerken nur rudimentär, dass genau dieses Verhalten schon längst zu einem planetaren Krebs mit Zehntausenden von Karzinomen ausgeufert ist.

Nicht die Dinge um uns herum sind von Übel. Das Böse sind auch nicht „die Kriege“. Das Böse ist ein Irrtum, den wir begangen haben. Und dieser Irrtum verursacht unsere Weltbilder, unsere Religionen, unsere Wissenschaften, die gesamte Erziehungskultur, die Bildung und unsere Sicht auf uns selbst, unsere Selbstentwicklung in diesem System.

Eine gemeinsame Lösung wäre für mich, dass vor allem Friedensforscher wieder anfangen, darüber im Detail zu sprechen, worüber Psychologen und Psychoanalytiker sprechen: Dass die Natur des Krieges nicht seine spektakulären Schlachten um Energie und Energieverteilung alleine sind. Sondern dass zunächst und ganz grundsätzlich etwas mit uns selbst nicht stimmt, dass der Mensch sich von sich selbst entfremdet hat. Das ist die Wurzel der menschlichen Destruktivität. Öl und Geld und Macht sind nicht der Grund. Verbrauch und Konsum sind bloße Symptome.

Ich will es einmal mit den Worten eines meiner Studenten sagen: „Heinz von Foerster steht für das Verständnis, dass es die Wahrheit nicht gibt. Hannah Arendt steht für das Erkennen, dass die Ursache für Gewalt in der Leere und Bedeutungslosigkeit eines jeden Menschen liegt. Arno Gruen steht für die Aufklärung, dass das Wichtigste im Leben ist, die eigene Identität zu entwickeln und zu leben. Rüdiger Lenz steht für die Erkenntnis, dass wir aufhören müssen zu kämpfen. Erich Fromm steht für das Erkennen, dass Menschen unglaubliche Angst vor ihrer eigenen Freiheit haben. Alle fünf weisen also darauf hin, dass das eigentliche Übel in der Welt immer und ausschließlich aus maladaptiven Bewältigungsstrategien entsteht.

Hier an diesem Punkt angekommen sehe ich auch die aufklärerisch sehr wichtige Arbeit von Prof. Dr. Rainer Mausfeld in Bezug auf die Strategien der NeoCons.

Wenn man sich mit Ihrer Biografie befasst, dann erfährt man, dass Sie selber auch unter einem gewalttätigen Vater in einem sozial schwachen Milieu aufgewachsen sind.

Mein Vater war Alkoholiker und neigte zur Gewalt im Umgang mit uns Kindern. Was er ganz besonders beherrschte war, Psychoterror zu fabrizieren. Wenn man mit so einen Elternteil aufwächst, muss man automatisch zum Psycho-Typen werden. Wir Kinder mussten ja Auswege finden. Wir mussten lernen, ihm zu entkommen. Ich glaube, dass ich deswegen die ganze Psychologie nicht bloß analytisch verstehe. Ich fühle sie auch komplett und kann sofort Zusammenhänge bildlich sehen.

Ich bin aber auch ein Mensch, der das Gute im Schlechten und das Schlechte im Guten sehen kann.

Dadurch, dass ich so einen Vater hatte und wegen ihm wohl auch zum Kampfsport kam, bin ich ja sehr gut vorbereitet worden für den Nichtkampf. Das wünsche ich natürlich niemandem, und wenn ich noch einmal Kind wäre und ich mir Eltern aussuchen könnte, dann wären das natürlich nicht die, die ich hatte. Aber ich glaube, so ergeht es irgendwie ja allen Menschen, oder den meisten von uns.

Grundsätzlich sind diese Voraussetzungen ein idealer Nährboden, um mit gutem Schwung gleich wieder direkt die Gewaltspirale weiter am Laufen zu halten. Trotzdem ist es Ihnen gelungen, sich daraus zu lösen.
Was braucht es, um sich dieser Verkettung zu entziehen?

Niemals darf man die Würde vor sich selbst verlieren. Immer muss man sich vergegenwärtigen, dass das eigene Leben wertvoll und ein Geschenk ist.

Ich hatte immer einen starken Willen, meinem Leben Bedeutung zu geben. Daran habe ich nie gezweifelt. Ich habe einen sehr starken Willen und weiß durch den Sport, den ich Jahrzehnte ausgeübt habe, dass Ausdauer und Selbstdisziplin immer zum Erfolg führen. Klappt irgendetwas nicht, dann ist nicht das, was nicht klappt, blöd, dann ist mein Konzept unbrauchbar. Also muss eine neue Lösung her. Das habe ich, Gott sei Dank, schon in jungen Jahren erleben dürfen. Ich trainierte am Tag sechs Stunden, viermal die Woche. Am Wochenende trainierte ich Ausdauer und spezielle Techniken im Wald mit meinem Trainingspartner. Wir waren versessen und völlig verrückt, was unseren Sport anging. Taekwon-Do und Kung Fu – das war unser Leben. Wenn wir trainierten, wrangen wir danach unsere Trainingsanzüge aus und der Schweiß lief plätschernd auf den Boden. Das verändert einen Menschen und macht ihn unbeugsamer gegen Misserfolg. Mit den Jahren wird dann das, was man Erfolg nennt, immer einfacher, wenn man schon früh versucht, positiv mit ihm umzugehen.

Zuviel Misserfolg erzeugt Frust. Frust ist der Teufel, der das Aufgeben anzündet. Und diesen Teufel kann man besiegen, indem man Erfolg erzeugt und Erfolg als normales Verhalten akzeptiert. Machen, bis es klappt. Aufgeben hieße, an sich selbst zu scheitern. Das ist für mich keine Option. Absolut nicht.

Misserfolg gehört dann eben auch dazu, denn nicht immer gelingt alles auf Anhieb und sofort. Ich habe stundenlang an bestimmten Techniken oder Kombinationen geübt. Bis ich mich nicht mehr bewegen konnte. Dann machte ich eine Pause und danach übte ich weiter. Heute weiß ich ja, dass alles, was man im Leben erreichen möchte, nur durch Dauer und Übung realisiert werden kann.

Dazu aber ist Anstrengungsbereitschaft und Fehlermanagement unverzichtbar.

Und genau das habe ich im Sport gelernt. Ich bin damit im Sport sehr weit gekommen, weil ich mich bis zum Äußersten dem Sport hingegeben habe. Daher habe ich schon als junger Mann meine Grenzen kennen gelernt und weiß, wann ich aufhören sollte. Erfolg hat auch damit zu tun, seine Grenzen und sein Können wirklich zu kennen. Und das habe ich natürlich für mein Leben übernommen.

In meinem Leben gab es keine Familie, zu der ich gehen konnte, wenn es mir mal schlecht ging oder ich Hilfe nötig hatte, die in normalen Familien Standard ist. Seit meinem sechzehnten Lebensjahr war ich komplett auf mich allein gestellt. Und wenn ich darüber nachdenke, so ging das eigentlich schon in meiner frühen Kindheit los. Ich war sehr früh auf mich selbst gestellt. Das waren auch meine Geschwister.

Als ich mit Ken Jebsen darüber sprach, dass ich ihn interviewen möchte, und ich ihm sagte, wie ich mir das vorstelle, da redete er sofort los. Sehr häufig flüsterte ich so vor mir hin: „Wieder eine Gemeinsamkeit.“ Das sagte ich oft, während er seine Kindheit und seinen Werdegang vor mir ausbreitete. Früher schon hatte ich mir eine persönliche Theorie des Erfolges zurecht gereimt:

Erfolg hat mit früher Selbstentwicklung zu tun, damit, dass man schon sehr früh auf sich selbst zurückgeworfen wird und zusehen muss, wie man alleine klarkommt. Das ist am Anfang nichts Angenehmes.

Ken sagte im Interview: „Das ist Street“, und ich sagte schon immer: „Solche sind streetgebildet.“ Allgemeiner sagt man, so einer hat “Sand gefressen“.

Wer der Verkettung des Untergangs und der Gewaltsucht widerstehen will, der braucht einen wirklich starken Willen, zu sich selbst zu stehen. Selbsttreue. Er braucht eine Gemeinschaft, in der er seinen Wert erkennen kann, und eine Person, die an ihn glaubt.

Mein Trainer glaubte an mich. Und Dr. Michael Heilemann erkannte meine außergewöhnlichen Fähigkeiten, die ich schon mit in die Wiege gelegt bekam, bevor ich mich ihrer wieder erinnerte. Bei aller Anstrengung bedarf es auch einer kleinen Portion Glück. Dieses Glück kommt aber nicht zu einem, ohne dass man seiner Anstrengungsbereitschaft ganz viel abverlangt. Das Glück ist mit den Tüchtigen.

Das Leben ist wunderbar. Hinzu kommt ja auch, dass es nichts Gesünderes im Leben gibt, als sein Leben wirklich zu leben. Das begreift man schnell, wenn der Erfolg beginnt. Das ist auch der Grund dafür, dass ich schon zu Kampfsportzeiten so etwas wie ein Erfolgscoach war. Heute coache ich Leute in den Erfolg hinein. Unternehmer, Schüler, Akademiker und auch Politiker.

Der zweite Teil des Interviews erscheint am 6. April 2017.

Credits

Image Title Autor License
Rüdiger Lenz (Rede) Rüdiger Lenz (Rede) Rüdiger Lenz CC BY-SA 4.0
Rüdiger Lenz Rüdiger Lenz Rüdiger Lenz CC BY-SA 4.0

Diskussion (2 Kommentare)

  1. danke für dieses wichtige und tolle interview

  2. Ich bin sehr berührt von diesen offenen, ehrlichen und zutiefst zutreffenden Worten. Und zudem ist es wunderbar von Menschen zu hören, die aus einem ähnlichen, gewalterlebten Werdegang diese inspirierenden Schlüsse treffen konnten. Das lässt sich in nur einem Wort zusammenfassen: Danke!