Komplexes Trauma – das schleichende Gift

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Gesellschaft

Im vorigen Artikel (Trauma und seine Folgen) haben wir uns mit dem tiefsitzenden Schmerz und den Folgen für das weitere Leben schwer traumatisierter Menschen befasst. Der Impakt der beschriebenen Ausnahmesituationen ist einleuchtend und nachvollziehbar. Auch wenn man erst mit etwas mehr Detailwissen verstehen kann, warum manche Erlebnisse auch nach einem halben Jahrhundert nicht vergessen und verarbeitet werden können. Noch komplizierter, unverständlicher und aus verschiedenen Gründen auch unangenehm berührend ist das Leid von Opfern langjähriger Misshandlung. Für solch andauernde Bedrohungsszenarien sind wir weder körperlich noch emotional ausgerüstet.

Die hervorgerufenen Leiden reichen von Immobilität oder schwerer Schädigung des Bewegungsapparates sowie Lungenleiden aufgrund der angespannten Rückzugshaltung über Magengeschwüre, Adipositas (sobald wieder genug Nahrung zur Verfügung steht) oder hormonelle Probleme durch die ständige Ausschüttung von Angst- und Stressbotensstoffen, die den gesamten Energiehaushalt des Körpers durcheinanderbringen. Hinzu kommen all die anderen Symptome, die auch bei punktueller Traumatisierung auftreten.

Krieg und Tyrannei

Die Zivilbevölkerung unter einem Regime, in Krisenherden oder Kriegen unterliegt oft über viele Jahre oder gar Generationen hinweg ständiger Angst vor Gewalt, Gefangennahme, Denunziation und Hunger. Die fieberhafte Sparsamkeit und das Horten von Dingen, die nicht erhältlich waren, sind Beispiele für Zwangshandlungen, die wir von unseren eigenen Groß- und Urgroßeltern kennen. Die ständige Angst, eine unausgesprochene Regel zu übertreten, ist wiederum ein häufiges Andenken an das kontrollbesessene kommunistische Regime in einigen unserer Nachbarländer.

Flucht

Die Anzahl an vertriebenen, dem Tod meist mehrfach nur knapp entkommenen Menschen in unserer scheinbar so zivilisierten Welt ist zutiefst erschütternd. Ganze Länder erleben den endlosen Ausnahmezustand. Sowohl die Vertriebenen als auch die dort Verbliebenen werden mit jedem Tag ohne Heimat, Zukunft und Sicherheit immer tiefer verwundet. Hinzu kommen die Opfer von Landraub und Klimakatastrophen. Die Saat für neues Entsetzen wird tagtäglich gelegt – und wird noch lange neue hässliche Blüten treiben.

Verschleppung, Sklaverei, Kulte

All diese Situationen haben eines gemeinsam: Hier ist das Brechen des Willens ein gezielter Akt, der mit grausamsten Mitteln und psychologischer Expertise durchgeführt wird. Ein sehr leicht gegen uns wendbares Überlebenswerkzeug der Psyche ist es, sich in einer solch hoffnungslosen Situation mit dem Folterer zu assoziieren und eine tiefe Verbundenheit mit ihm und seinen Zielen zu empfinden. Stockholm-Syndrom und Traumabond sind die Begriffe hierfür.

Ein Grund sind biochemische Vorgänge, die uns mit der Zeit regelrecht süchtig nach dem Hormoncocktail machen, den der Missbrauch in uns ausschüttet. Die Intensität der Gefühle ist mit keiner Alltagssituation vergleichbar und lässt vor allem die dazwischen gezielt erfolgenden Zuwendungen wie einen Ausflug in den siebten Himmel erscheinen. Sich davon loszureißen, ist ebenso schwer, wie eine Substanzabhängigkeit zu beenden (welche außerdem zusätzlich oft noch als weiteres Kontrollinstrument herbeigeführt wird). Hinzu kommt, dass die Opfer im Fall einer Flucht an Leib und Leben bedroht sind.

Partnerschaft oder Abhängigkeitsverhältnis mit gewalttätigen Personen

Die Opfer physischer Gewalt sind im Allgemeinen Menschen, die auch als Kinder Gewalt erlebt haben – jeder andere würde schon beim ersten Anzeichen die Beziehung abbrechen. Ganz anders sieht es für jemanden aus, der seine gesamten Entwicklungsjahre hindurch buchstäblich eingebläut bekommen hat, dass das Geben von Liebe das bedingungslose Verzeihen jeder Misshandlung bedeutet, während Geliebtwerden und Schläge oder Demütigungen ein und dasselbe sind. Hier darf man nicht vergessen, dass die Möglichkeit, ungeliebt zu sein, für ein Kind im wörtlichsten Sinne undenkbar ist. Die einzig mögliche Erklärung ist also, dass es einen guten Grund für die Misshandlung geben muss, der beim Opfer selbst zu suchen ist – eine Überzeugung, die sich tief in das Welt- und Selbstbild des Kindes brennt.

Kognitive Dissonanz, in diesem Fall das unüberwindliche Verbot, zu erkennen, dass mit dem anderen etwas fundamental nicht in Ordnung ist, führt zu so starker Verdrängung, dass es zu regelrechten Wahrnehmungslücken (siehe Dissoziation) kommt. Darin ist dann auch, neben dem Zwang zur Wiederholung und der unbewussten Suche nach bekannten Mustern, der Grund zu finden, warum geschlagene Kinder als Erwachsene so leicht wieder in Beziehungen mit gewalttätigen Partnern geraten …

Polizei und Freunde verlieren hier schnell die Geduld und überlassen die scheinbar selbstzerstörerischen Opfer ihrem Schicksal.

Sexueller Missbrauch an Kindern

Die Lage eines Kindes, das Opfer von Missbrauch wird, ist auf so vielen Ebenen unerträglich, dass ein Überleben nur durch massive Verdrängung überhaupt möglich ist. Nicht nur durchlebt das Kind den Verlust der eigenen Integrität und die ständige Angst vor dem nächsten Übergriff. Es muss obendrein seine Wut auf den oder die Peiniger/in unterdrücken (da es sich hier fast immer um Familienmitglieder oder nahestehende Personen handelt) und dem tatenlos zusehenden Elternteil den unerträglichen Verrat verzeihen. (Die „blinden“ Angehörigen sind meist selbst Missbrauchsüberlebende in so tiefer Verleugnung, dass sie alle unübersehbaren Anzeichen buchstäblich aus ihrer Wahrnehmung löschen.)

Die gesamte Welt präsentiert sich so als bedrohlich, feindselig oder bestenfalls gleichgültig und zutiefst von Lügen und Täuschung durchzogen.

Eines haben all diese Situationen gemeinsam: Sie sind ein allumfassendes geistiges Gefängnis und behaften über Jahre hinweg jede noch so alltägliche Situation mit schrecklichen Erinnerungen. Der beständige Terror zeigt sein Gesicht unangemeldet und beharrlich, manchmal leise, manchmal brüllend. Dementsprechend gestalten sich die Flashbacks für Überlebende solch langjähriger psychischer Ausnahmesituationen ganz anders und schwerer erfassbar, als es bei den Opfern punktueller Traumatisierung der Fall ist.

Zum einen sind Verknüpfungen mit traumatischen Situationen praktisch nach Zufallsmuster überall in Psyche und Erinnerungsschatz verteilt. So können auch die alltäglichsten Situationen, Gerüche, Gegenstände oder sogar eigene körperliche Wahrnehmungen zum Trigger werden. Die Erinnerungen haben großteils keine erkennbare Form, sondern äußern sich als plötzlich auftretende, überwältigende Gefühle ohne Kontext, die immer wieder unverhältnismäßigen Stress aufgrund nichtiger oder sogar neutraler Anlässe auslösen. Dies verzerrt die Wahrnehmung der Gegenwart, da der innere Aufruhr nicht als von der aktuellen Situation getrennt erlebt wird. Erst mit gezieltem Achtsamkeitstraining wird dies allmählich unterscheidbar.

Betroffene empfinden oft Dutzende Male am Tage Wut aufgrund von Kleinigkeiten, Gefühle des Verrats und Verlassenseins bei winzigen Achtlosigkeiten anderer oder tiefe Verzweiflung nach einer harmlosen Zurechtweisung. Diese Gefühle sind vollkommen real und tiefgehend, werden aber von der Umwelt als Überreaktion und unnötiges „Theater“ gedeutet – was wiederum isolierend, abwertend und lieblos auf das getriggerte Traumaopfer wirkt und es noch tiefer in Flashbacks stürzt. Dass dies zermürbend für alle Beteiligten ist und das gesamte Leben der an Posttraumatischer Belastungsstörung Leidenden massiv beeinträchtigt, liegt auf der Hand.

Hilfe ist dringend notwendig, liegt aber für ohnehin schon geschwächte Menschen weit außerhalb der finanziellen Mittel, was den belastenden Zustand zementiert und unweigerlich in Altersarmut endet. Zahlreichen „gestrandeten“ Menschen könnte mit diesem Wissen ein neuer Start ermöglicht werden, wäre der politische Wille zu echter, nachhaltiger Hilfestellung vorhanden. 

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