Mikrokredite: Ein völlig falscher Weg?

2DU_Kenya_86_(5367322642)
Meinung

Mikrokredite sollen Menschen in Entwicklungsländern die Gründung kleiner Unternehmen erlauben und ihnen so einen Weg aus der Armut ermöglichen – im ersten Teil dieser Artikelserie wurde das Prinzip des Mikrokreditsystems erläutert. Doch gibt es inzwischen heftige Kritik an dieser Idee.

Die Berichte der Befürworter des Mikrokreditsystems – angefangen von seinem Hauptprotagonisten Muhammad Yunus, dem Gründer der Grameen Bank – sind voll von Fallbeispielen von Frauen, die sich mit Mikrokrediten erfolgreich aus der Armut befreien konnten. Doch die Realität sieht offenbar anders aus. Ist aus der gut gemeinten „Hilfe zur Selbsthilfe“ ein kapitalistisches Geschäftsmodell geworden, das ohnehin schon bescheidene Existenzen zerstört?

Inzwischen gibt es zahlreiche Studien, die die Wirksamkeit der Mikrokredite untersuchten. Das Ergebnis ist enttäuschend:

„Eine systematische Analyse aller bis 2011 verfügbaren Mikrokredit-Evaluierungen kam sogar zu dem Schluss, dass es keinerlei robuste Beweise für armutsmindernde Effekte von Mikrokrediten gibt“, schreibt Oliver Schmidt in der „Zeit“1.

Auch Kathrin Hartmann konnte kaum positive Effekte finden2:„Der bangladeschische Anthropologe Aminur Rahman etwa fand bereits in den neunziger Jahren heraus, dass nur 5% der Mikrokreditnehmer Einkommen aus Unternehmen beziehen, die sie mit dem Darlehen aufgebaut hatten.“

Eine äußerst umfassende Kritik veröffentlichte der Journalist Gerhard Klas 2011 mit dem Buch „Die Mikrofinanzindustrie“. Auch sein Urteil fällt vernichtend aus: In der Praxis habe nur ein sehr geringer Prozentsatz der Kreditnehmerinnen (wie in Teil 1 dargestellt, werden Mikrokredite fast ausschließlich an Frauen vergeben) es wirklich geschafft, sich ein besseres Leben aufzubauen, die meisten seien in noch tiefere Armut gerutscht als zuvor.

Doch was läuft da falsch? Das erste Problem sei die Höhe der Zinsen: Mikrokreditbanken sind keine Wohltätigkeitsorganisationen, sie müssen zumindest kostendeckend arbeiten. Aufgrund des hohen Verwaltungs- und Beratungsaufwands im Mikrokreditgeschäft führt das zu äußerst üppigen Zinsen, die laut Gerhard Klas um die 38% betragen – bei uns bezahlt man selbst für einen Dispo zu schlechten Bedingungen nur ein Drittel davon.

Klas wirft den Banken außerdem vor, den Kreditnehmerinnen gegenüber die tatsächlichen Kosten des Kredits zu verschleiern: „Viele Kunden der MFIs [= Mikrofinanzinstitute], unter ihnen in der Regel ein hoher Prozentsatz Analphabeten, werden gar nicht darüber aufgeklärt, wie hoch die Zinsen sind, die sie für ihre Minikredite tatsächlich zahlen müssen“, schreibt er in „Die Mikrofinanz-Industrie“ (Seite 30). Zu dem nominalen Zinssatz, der bereits um die 20% pro Jahr betrage, kämen nämlich noch Gebühren in beträchtlicher Höhe hinzu sowie ein Betrag, der bei der kreditgebenden Bank zwangsweise angespart werden müsse.

Problem Nummer zwei: Viele der Kreditnehmerinnen würden die Kreditsumme nicht, wie eigentlich vorgesehen, in den Aufbau eines Unternehmens investieren, sondern für Grundbedürfnisse wie Lebensmittel oder medizinische Versorgung verwenden.

Mit den Krediten werden also die Löcher im Familienbudget gestopft. Oft setzt dies eine Schuldenspirale in Gang: Viele Kreditnehmerinnen können Zinsen und Tilgungsraten nicht aus ihren Einnahmen begleichen und nehmen dafür neue Kredite auf, ein Kredit wird mit einem weiteren – normalerweise von einer anderen Bank – getilgt. So entstehe eine Kette von Krediten, die zu immer ungünstigeren Bedingungen aufgenommen werden müssen. Die meisten Mikrokredite werden jedoch auf diese Weise tatsächlich zurückgezahlt und polieren als „Erfolgsfälle“ die Statistiken der Banken. So würden die Rückzahlungsraten von über 90%, mit denen die Mikrokreditbanken den Erfolg ihres Modells belegen, zu Stande kommen.

Solche Kreditkumulationen sind offenbar weit verbreitet: „Vor einigen Jahren waren es noch 40% der Kreditnehmer, die bei mehr als einer Mikrofinanzinstitution verschuldet waren. Heute sind es schon 70%“, sagte 2010 die Leiterin der Mikrokredit-Aufsichtsbehörde in Bangladesh, Lila Rashid3.

Vor allem in Bangladesch, dem „Mutterland“ dieser Idee, seien inzwischen viel zu viele Mikrokreditbanken aktiv, die untereinander in einem starken Konkurrenzverhältnis stehen. Kredite würden ohne große Prüfung vergeben, die Raten und Zinsen oft mit jenseitigen Methoden eingetrieben. Die Mikrokredit-Idee sei in diesem Land zu einem gewinnorientierten Geschäftsmodell mit großem Ausmaß verkommen: „Bangladesch [..] hat über 160 Millionen EinwohnerInnen. [..] Beinahe ein Fünftel von ihnen – 30 Millionen – sind Kunden und Kundinnen bei einer Mikrofinanzinstitution“, schrieb Klas 20104. Aktuellere Zahlen waren leider nicht aufzutreiben, vermutlich hat sich das Problem aber eher noch verschärft.

Die Kreditvermittler – also jene Angestellten der Banken, die die Kundinnen betreuen und eigentlich intensiv beraten sollen – seien in der Regel überlastet und stehen unter dem Druck, möglichst viele Kredite vermitteln und erfolgreich abwickeln zu müssen, um ihre Jobs zu behalten: „Die Mitarbeiter müssen oft länger als 12 Stunden täglich arbeiten – unter hohem Zeitdruck. Für eine ‚individuelle Beratung und Betreuung‘ […] bleibt keine Zeit“, heißt es in „Die Mikrofinanz-Industrie“ (Seite 39).

Die Stimmung zwischen den Bankangestellten und ihren Kundinnen sei daher oft angespannt, sogar von Gewaltandrohung und der willkürlichen Konfiszierung von Besitztümern wird berichtet. Gerhard Klas beschreibt im Südwind Magazin5 einen seiner Ansicht nach typischen Fall: „Roshida Kathoom schuldete um, lieh Geld bei Nachbarn, nahm weitere Kredite bei anderen Anbietern auf. Seitdem kam die heute 38-Jährige nicht mehr aus der Schuldenspirale heraus. Als eines Tages Mitarbeiter der Grameen Bank auf ihren Motorrädern vorfuhren und sie wegen der säumigen Raten bedrohten, ging ihr Mann zu den Verleihern im Dorf, die über 100% Zinsen verlangen. Schließlich musste das Ehepaar noch die Hälfte seines Ackers verkaufen – ein Viertel Hektar, auf dem die beiden Bohnen, Guaven, Kokosnüsse und Papayas anbauten.“

Viele Kritiker sehen in dem System eine prinzipielle Fehlentwicklung, weil mit Mikrokrediten die Verbindlichkeiten, die bisher Staatsschulden der Entwicklungsländer waren, auf die private Ebene umgeschichtet würden. Von einer „Privatisierung der Armut“ ist die Rede.

Dass inzwischen auch große, international agierende Bankhäuser wie Deutsche Bank, Morgan Stanley, Citibank und Credit Suisse in das Mikrokreditgeschäft eingestiegen sind, beweise, dass die Kreditvergabe an sehr arme Menschen profitabel sei.

Damit werde ein gewinnorientiertes kapitalistisches Modell auf dem Rücken der Ärmsten aufgebaut: „Mikrokredite dienen nicht den Armen, sondern dem globalen Finanzkapital. Sie sind kein Akt der Menschlichkeit, sondern das Konzentrat neoliberaler Entwicklungspolitik: Die hohe Staatsverschuldung der armen Länder wird auf das Individuum ausgeweitet“, konstatierte Kathrin Hartmann 2012 in der Frankfurter Rundschau6.

Das Konzept, dass sich Menschen in Entwicklungsländern als selbstständige Kleinunternehmer aus der Armut befreien könnten, funktioniere schlicht nicht, so Hartmann weiter:

„Der grundsätzliche Denkfehler der neoliberalen Entwicklungshilfe aber ist, jeder Mensch könne sich als Unternehmer selbst aus der Armut befreien. Es ist nichts anderes als die Idee der Ich-AG, die selbst im reichen Deutschland grandios scheiterte.“

Bewirken Mikrokredite also das Gegenteil ihrer eigentlichen Absicht? Ist der Kapitalismus auch hier wieder Teil des Problems und nicht ein Beitrag zu seiner Lösung? Oder kann das System mit einigen Nachbesserungen doch einen signifikanten Beitrag zur Armutsreduzierung leisten? Mehr dazu in Teil 3 der Serie!

_
1 http://www.zeit.de/wirtschaft/2014-01/mikrokredit-kritik-studien

Credits

Image Title Autor License
2DU_Kenya_86_(5367322642) 2DU_Kenya_86_(5367322642) CIAT CC BY-SA 2.0