Veganismus – eine Problematisierung

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Gesellschaft

Leicht ist festzustellen: Der achtsame und bewusste Konsum breitet sich immer mehr aus. Auf Nachhaltigkeit, die Ökobilanz, die Bedingungen und Konsequenzen der Erzeugung der konsumierten Güter im weitesten Sinne wird in wachsenden Bevölkerungskreisen mehr und mehr Wert gelegt. Zuhöchst erfreulich sind die unzähligen Initiativen, ob aufklärerisch oder praktisch, und Alternativen, die uns überall begegnen, wenn wir nur selber für dieses Thema sensibel sind.

Allein, es bleibt zu hoffen, dass es mehr als eine Mode nur sei. Damit es aber mehr als eine Mode sein (und werden) könne, sondern von einem (noch) gewissen, aber eben wachsenden Randphänomen der Gesellschaft zu einer gesamtgesellschaftlichen Selbstverständlichkeit werden könne, sind zwei Dinge von höchster Bedeutung.

Erstens müssen die systemischen Gesellschaftsstrukturen als solche das ‚gute‘ nachhaltige und gerechte Leben der Menschen unterstützen und fördern. Wo diese nicht mit dem individuellen ethischen Appell zusammen genannt werden, liegt aufgrund der Einseitigkeit faktisch eine gleichsam ideologische Ablenkung von den strukturellen Grundproblemen unserer Gesellschaft vor – auch wenn die Motivation dahinter noch so gut gemeint sei.

Konkrete Beispiele: Wo das Zinseszins-Prinzip gilt in einer Gesellschaft, werden notwendig und per Gesetz die Vermögenden noch vermögender und die Armen ärmer, selbst dann, wenn eine überwältigende Mehrheit der Menschen einsieht, dass es ungerecht ist. Ebenso, wo keine klaren Gesetze geschaffen werden für eine ökologisch und sozial nachhaltige und gerechte Wirtschaft. Da wird strukturnotwendig durch Konkurrenzdruck möglichst billig produziert – und solange das getan und diese soziale und ökologische Ausbeutung dann billig wieder angeboten wird, werden Menschen mit ihren ganz alltäglichen finanziellen und ernstzunehmend oft existenziellen Sorgen, die wiederum oft gesellschaftlich bedingt sind, diese auch kaufen anstatt der oft teureren sozial- und ökologisch nachhaltigen Alternative.

So berichtete mir vor Kurzem gar ein Freund, der sich vegetarisch ernährt, wie schwer es teilweise auf seinen Reisen durch Südamerika gewesen sei, so zu leben. Ihm sei gar der Vorwurf gemacht worden, kein Fleisch essen zu wollen, das sei ein Luxusproblem des reichen Europäers, da vor Ort Gemüse und Obst (das wahrscheinlich ansonsten nach Europa oder Nordamerika exportiert wird) einfach zu teuer gewesen sei, um sich davon rein vegetarisch zu ernähren.

Dem könnte im Allgemeinen abgeholfen werden, wenn beispielsweise die negativen Folgeschäden wirtschaftlicher Erzeugnisse, wie die der sogenannten „konventionellen“ Landwirtschaft, direkt als Steuer (wie es schon bei Zigaretten geschieht) in den Preis integriert werden würden, und gleichzeitig die sozial-ökologisch nachhaltige Variante subventioniert, d.h. staatlich finanziell gefördert wird. Gleiches gilt für Bahn- und Benzinpreise etc. Und wo für diese ganzen strukturellen Grundprobleme nicht Lösungsansätze und plausible grundsätzliche Alternativen angeboten werden können, erhöht sich nur der Druck auf das Individuum bis hin zur völligen Überforderung und damit wahrscheinlich einhergehenden Resignation.

Denn es ist klar: Keiner, der in bestimmten gesellschaftlichen Strukturen lebt, kann sich völlig von diesen rein halten, sei auch sein Wille noch so stark. Niemand, meine ich, kann auf alle Dinge achten, die nur irgendeinen Schatten werfen (selbst wenn er mit beinah religiösem Eifer bei der Sache wäre). Es bliebe höchstens ein wenig erstrebenswertes Eremitendasein. Das ist der wesentliche Sinn hinter Sätzen wie: „Es gibt kein richtiges Leben im Falschen“, hier von dem deutschen Philosophen Theodor Adorno.

Zweitens muss die zugrundeliegende individuelle Handlungsmotivation im ganzen Leben gründen und unmittelbar erlebt werden. Es genügt nicht, auf abstraktem rationalem Wege beispielsweise das eine oder andere für gut oder schlecht zu befinden. Selbst der womöglich strengste Prinzipienethiker schlechthin, der den sogenannten kategorischen Imperativ aufgestellt hat, Immanuel Kant, hat eingesehen, dass dieses Abstraktum seine Grenzen habe und im konkreten situationsgebundenen Einzelfall ein ganzheitlicher und über die reine Rationalität hinausgehender „Aktus der Urteilskraft“ schließlich die Entscheidung treffen müsse.

Überhaupt ist in diesem Sinne zu sagen: Alle Einsicht muss erlebt werden, damit sie nachhaltig, d.h. auf Dauer handlungsweisend und lebensverändernd werden und wirken könne. Und alle Einsicht muss dafür auf einer viel grundsätzlicheren Haltung zum Leben überhaupt beruhen, einer Wertentscheidung, die wesentlich eine erlebte Bejahung des Lebens selbst ist, der Existenz überhaupt und der erlebten Verbundenheit mit anderen Menschen und dem Ganzen der Natur darinnen. Das bedeutet: Es kann kein Raum sein für Einseitigkeiten jedweder Couleur.

Oft aber, so stellen wir fest, werden gerade Einzelaspekte des (konsumierenden) Lebens herausgegriffen und mit einer hartnäckigen Rigorosität verfolgt, die in dieser Konsequenz und Einzelheit vollends unbegründet ist. Nehmen wir zum Beispiel – und das ist unter vielen eines – das Phänomen des Veganismus und schauen auf dessen mögliche Ausprägungen und Motivationen, so entdecken wir leider oft gewisse Einseitigkeiten dieser Art. Im Grunde, wird man sagen können, wäre die tiefste Motivation für eine solche Lebensweise das Verbundenheitsgefühl mit dem Dasein und der Natur überhaupt, aus dem auch das Mitgefühl mit Tieren notwendig erst entsteht. Wie aber ist dann Rigorosität zu begründen, beispielsweise, wenn die erzeugten tierischen Produkte aus einem gleichsam „kommunikativen“ Einvernehmen mit dem wohl- und artgerecht gehaltenen Tier erwirtschaftet worden sind?

Und diese Problematisierung sei nicht als Angriff missverstanden, sondern als prinzipielle respektvolle Unterscheidung bzw. anregende Prüfung der je zugrundeliegenden Motivation.