Wer ist eigentlich Brahmane?

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Meinung

Vielen prominenten Gelehrten und Sozialwissenschaftlern Indiens zufolge haben die meisten der sozialen Übel, die dieses Land lähmen, ihren Ursprung in den uralten Schriften. Es ist die Lehre dieser Schriften, die verantwortlich gemacht werden muss für viele der dogmatischen sozialen Systeme oder Normen, die im heutigen Indien existieren.

Nach B.R. Ambedkar, der maßgeblich an der Ausarbeitung der modernen indischen Verfassung beteiligt war, sind die Taten der Menschen, so auch eine Diskriminierung auf der Basis der Kasten– und Religionszugehörigkeit, ein Ergebnis ihres Glaubenssystems. Und solche Glaubensüberzeugungen entspringen den alten Schriften. Um also die sozialen Übel, die von den archaischen Sozialsystemen ausgehen, zu beseitigen, müsse man die Inder zuallererst aus der Knechtschaft ihrer alten Schriften befreien – darüber sind sich viele Gelehrte einig.

Ich bin ebenfalls der Überzeugung, dass viele der dogmatischen sozialen Praktiken, die in Indien bis heute üblich sind, nicht nur anachronistisch, sondern auch irrational und unmenschlich sind.

In meinen früheren Artikeln bin ich bereits auf das Kastensystem eingegangen, und dieses Thema möchte ich auch hier aufgreifen. Doch habe ich mit der Zeit zu verstehen gelernt, dass ein großer Teil des heutigen Verständnisses, das aus den alten Schriften hervorgeht, weitgehend fehlinterpretiert wurde.

Religionsgelehrte haben sich sehr darum bemüht, die Wahrheit hinter den vielen falschen Argumenten zu zeigen, die benutzt werden, um das Kastensystem oder das Varna-System aufrechtzuerhalten. Viele Sozialorganisationen arbeiten darauf hin, das Festhalten am Kastensystem aufzuheben, und versuchen, die Lebensumstände von dessen Opfern zu verbessern. Auf ähnliche Weise wirken viele Interessensvertretungen, Bürgerbewegungen, NGOs und auch Rechtsvorschriften darauf hin, die praktischen Auswirkungen des Kastensystems zu reduzieren und seinen Einfluss auf unsere heutige Gesellschaft zu mildern.

Ich möchte einen kurzen Blick auf das werfen, was die alten Schriften über einen Brahmanen sagen. Denn ich glaube, ein ganz wichtiges Werkzeug, das zur Ausrottung der im Kastensystem begründeten schlechten Praktiken benutzt werden kann, ist Wissen. Was ich meine, ist eine Verbreitung des uralten Wissens, auf dem das Varna-System aufbaut.

Das ist so, weil das Varna-System in einem ganz anderen Kontext und mit einem völlig anderen Ziel begründet worden sein mag. Doch dieses System wurde schließlich verzerrt, um den Interessen mächtiger gesellschaftlicher Gruppierungen zu dienen und um die schwächeren Schichten auszubeuten. Es ist wichtig, die wirklichen Motive, für die das Kastensystem entwickelt wurde, herauszustellen.

Die Verbreitung von Wissen würde die Fehlinterpretation des Kastensystems brechen und könnte die Verblendung auflösen, die noch immer in den Köpfen vieler Inder, die die alte Ordnung befürworten, existieren.

Die meisten Befürworter des Kastensystems würden die Veden (die alten Schriften, aus denen die hinduistische Lebensweise entwickelt wurde) zur Rechtfertigung beschwören. Dieser Auffassung zufolge geht das Kastensystem auf die Weisheit der Veden zurück und wurde daraus entwickelt, und damit habe es einen bestimmten Sinn.

Ich läge sicherlich nicht falsch, wenn ich sage, dass das Kastensystem extrem tief in das soziale Geflecht Indiens eingreift und jeden einzelnen Aspekt des indischen Lebens beeinflusst.

Schon die Nachnamen indischer Hindus kennzeichnen ihre Kaste, und noch immer ist ein bestimmter Berufsbereich das Privileg einiger Kasten und ein Fluch für andere.

So etwa können nur Brahmanen in Tempeln beten, und ihnen gegenüber wird großer Respekt erwartet. Brahmanen werden als Menschen mit „Sattvik guna“ angesehen. Entsprechend der Veden sind dies jene, die spirituell und vertieft in die Verwirklichung des „Brahman“ sind.

In der Hindu-Philosophie ist „Brahman“ ein metaphysisches Konzept, das als die ultimative Wirklichkeit im Universum angesehen wird. Nach den Veden kann „Brahman“ als das kosmische Prinzip betrachtet werden. Daher wird eine Person vielen alten indischen Schriften zufolge nicht durch Geburt zum Brahmanen, sondern erst, wenn sie das „Brahman“ ergründet hat.

Nach den alten Schriften ist ein Brahmane jemand, der die letztgültige Wahrheit der Existenz kennt, der den Sinn des menschlichen Lebens verstanden und verwirklicht hat sowie ein Verständnis für die komplexen Kräfte, die die Menschen an die materielle Welt binden, entwickeln konnte.

Ein Brahmane steht über den menschlichen Bedürfnissen wie Hunger, Durst, Verlangen, Trauer, Bindung, Wohlstand, sozialer Status, sogar über Geburt und Tod. Ein Brahmane führt sein Leben ohne solche Erwartungen und überlebt durch die Almosen, die er von anderen erhält.

Doch seit langer Zeit hat sich die Bedeutung dahingehend verändert, dass jeder ein Brahmane ist, der in eine Familie aus der Brahmanenkaste geboren wurde. Dinge wie das Interesse an Schriften, Weisheit und Spiritualität sind nicht mehr die Kriterien, durch die jemanden als Brahmane angesehen wird.

Die Ironie ist, dass viele, die in die Brahmanenkaste geboren wurden, sich selbst noch immer als überlegen ansehen gegenüber den Angehörigen anderer Kasten und glauben, dass die Eigenschaften, die den Brahmanen zugeordnet werden, ihr Privileg seien.

Alle religiösen Rituale werden stets durch Brahmanen zelebriert, die Verwaltung von Tempeln und anderen religiösen Stätten ist fast immer unter ihrer Kontrolle. Auf ähnliche Weise sind auch viele weitere wichtige und angesehene Tätigkeiten noch immer das Privileg von Brahmanen.

Solche Vorstellungen und Glaubenssysteme mögen auf viele Nichtinder fremdartig wirken, doch sind sie in Indien nach wie vor eine harte Realität. Sie sind der Vorstellung von Königtum recht ähnlich: Eine Person von königlicher Abstammung baut ihren Stolz darauf auf, völlig unabhängig von ihren gegenwärtigen Lebensumständen. Auf ähnliche Art sind viele Brahmanen stolz auf ihre Kaste und halten sich für überlegen, weil sie an der Spitze der indischen Sozialstruktur stehen.

Doch kann ein solchermaßen gestörtes Glaubenssystem nicht das Motiv der alten Schriften gewesen sein. Wenn im Varna-System irgendeine Art von Hierarchie vorhanden war, dann sollte sie auf dem Karma oder den Taten einer Person beruhen. Das Problem liegt in der Interpretation und der Verbreitung solcher fehlgedeuteter Ideen aus den Schriften.

Ich habe kein Wissen aus erster Hand über die Schriften, die auf dem indischen Subkontinent ihren Ursprung haben. Es mag Schriften geben, die soziale Praktiken befürwortet haben, die inzwischen anachronistisch sind, und zu vielen Ungerechtigkeiten geführt haben. Doch bin ich der Überzeugung, dass echtes Wissen der antiken Schriften den Weg ebnen kann zur Beseitigung der sozialen Übel.

Übersetzung Englisch-Deutsch: Martin Krake

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