Mensch und Gesundheitssystem – Dr. Martina Kaller

Gesellschaft

Im Kamingespräch „Mensch und Gesundheitssystem“ mit der Systemtheoretikerin und ao. Universitätsprofessorin für Geschichte der Neuzeit Dr. Martina Kaller wird zuerst der Begriff der „Plastikwörter“ geklärt. Wörter wie Bereich, System oder Organisation verschleiern mehr als sie tatsächlich definieren, es ist nicht per se klar, was darin ein- oder davon ausgeschlossen werden soll.

In der Systemtheorie geht man davon aus, dass der Flügelschlag des Schmetterlings in Australien Auswirkungen auf alles hat, d.h. dass alles mit allem zusammenhängt und aufeinander wirkt. In Systemen herrschen flache Hierarchien, in denen genaue Zuständigkeiten nicht mehr feststellbar sind.

Treten Veränderungen in Bereichen des Gemeinschaftslebens, der Organisation, des Staates oder der Gesellschaft ein, führt das zu Verwirrung. Unklar bleibt auch, wer was zu welchem Zeitpunkt entscheidet, was die Verwirrung noch steigert.

Im Gesundheitssystem sind viele Akteure am Werk, doch jeder einzelne kann nicht alles durchschauen, es fehlt der Gesamtüberblick. Bei den ersten „Seuchen-Maßnahmen“ war davon die Rede, die Alten zu schützen, sie wurden als Risikogruppe deklariert. Ein halbes Jahr später war es nicht mehr das Individuum oder die Personen der Risikogruppe, sondern das Gesundheitssystem selbst, das geschützt werden musste. Die Zahl der freien Spitalsbetten wurde zum Gradmesser. Das Motto lautete: „Schau, dass du nicht ins Krankenhaus kommst, sonst wird das System überlastet.“ Damit war die Ansicht verbunden, dass je mehr Betten zur Verfügung stehen, desto mehr Gesundheit wird gemacht.

Die Organisation der Gesundheit ist historisch bedingt. Sie entstand in der Zeit des späten 17. und des frühen 18. Jahrhunderts. In Österreich handelte es sich um die Zeit des aufgeklärten Absolutismus. Maria Theresia hat damals mit Hilfe eines Expertengremiums einen Staat aufgebaut. Ziel des Staates war es, so weitreichend wie möglich zu agieren und jeden Bürger immer und überall zu erreichen. Dazu brauchte es Drill, etwa durch Zwangsrekrutierungen oder durch Zwangs- bzw. Pflichtschule. Durch Beschulung sollte einerseits die „Urdummheit“ (analog zur „Ursünde“) bekämpft werden und andererseits Kinder zu funktionstüchtigen Bürgern gemacht werden. Bei den körperlichen Untersuchungen im Rahmen Stellung wurde abgeklärt, ob der individuelle Körper dem so genannten Wehrkörper einverleibt werden kann. Dieser wurde dabei als unbeseelter „Maschinenkörper“ betrachtet. Diese Sichtweise hat sich bis in die heutige Zeit gehalten, in der „Pandemie“ wurde alles unternommen, um den Körper – auch auf Kosten der Psyche – gesund zu halten. Aus Kallers Sicht wurden aber viele Menschen wegen ihrer„Psyche“ krank, was weitreichende Folgeschäden produzierte. Bei all dem stand also nicht das Individuum mit dem je eigenen Wohlbefinden bzw. Gesundheitsbewusstsein im Mittelpunkt, sondern die Verwaltung der Volksgesundheit.

Experten, die Politiker beraten, so Martina Kaller, stiften Verwirrung, weil die Zuständigkeiten nicht geklärt sind. Politiker als die Repräsentanten des Wahlvolkes sollten eigentlich die nötigen Entscheidungen treffen. Im Nachhinein schieben nun beide Seiten die Verantwortung für die getroffenen Maßnahmen auf den jeweils anderen. Daher lässt sich auch niemand zur Verantwortung ziehen. Auch das ist ein der Institutionalisierung innewohnender Trugschluss.

Ivan Illich, ein radikaler Kritiker der modernen Institutionen, beschreibt das Dilemma mit den Expertenmeinungen wie folgt: Zuerst wird von Experten eine Diagnose (als Antwort auf die Frage, was nicht gestimmt hat) gestellt. Daraus folgt, dass es nun weitere Experten braucht, die dann feststellen, wie man den Missstand repariert bzw. in Zukunft vermeidet. Die Katastrophenanalyse ist die am meisten fehleranfällige und kostenintensive. Und noch eines: Wissenschafter sind per se keine Experten sondern machen etwas ganz anderes, stellt Martina Kaller fest. Sie interpretieren und stellen Modelle her. Von ihnen kann man keine Ratschläge oder Entscheidungen erwarten. Ihr Motto ist der Zweifel, dadurch kommt die Wissenschaft zu ihrem Wissen.

Im Weiteren führt Martina Kaller noch ihre Gedanken zum von der Politik angedachten und von vielen geforderten Versöhnungsprozess aus.

Abschließend betont sie die Wichtigkeit des Zusammenhaltens, um schwierige bzw. katastrophale Situationen zu meistern. Solidarität kann nicht von oben verordnet werden, sondern wächst in der persönlichen Begegnung und im Zusammenwirken der Gemeinschaft bei der Lösung eines Problems.

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