Das Prinzip der weiblichen Gottheit: Shaktismus

Lakshmi
Gesellschaft

Indien ist nicht nur ein Land der Vielfalt, sondern auch der Widersprüche. Vielfalt lässt sich in fast jedem Aspekt der indischen Traditionen und Glaubenssysteme erkennen, doch auch Widersprüche sind leicht feststellbar.

In einem meiner früheren Artikel (Ein uneingestandener Irrweg) habe ich dargelegt, wie einerseits weibliche Gottheiten von Hindus in Indien weithin als Quelle der Macht und Weisheit verehrt werden. Andererseits werden Frauen misshandelt oder als minderwertig, unfähig und unintelligent betrachtet. Der weit verbreitete Glaube, dass Macht weiblich sei, ist in Kontrast zu der Praxis, auf Frauen herabzuschauen, nicht nur widersprüchlich, sondern auch heuchlerisch. In diesem Artikel möchte ich auf diese religiöse Tradition des Hinduismus eingehen, die sich auf die weibliche Macht fokussiert, und einen Einblick in die Popularität und Tragweite einer solchen Tradition geben.

Der Hinduismus ist eine Vermengung, man könnte auch sagen Verschmelzung diverser Traditionen, die auf dem indischen Subkontinent weit verbreitet sind. Tatsächlich wird allgemein die Auffassung vertreten, dass der Hinduismus keine Religion, sondern eine „Lebensweise“ sei, was auf die vielfältigen Praktiken und Traditionen des Hinduismus zurückzuführen ist. Und solche Praktiken und Traditionen entspringen unterschiedlichen Wurzeln, die zuweilen sehr unterschiedliche Vorstellungen und Überzeugungen haben können.

Eine der bedeutendsten Traditionen des Hinduismus ist die des „Shaktismus„. „Shakti“ bedeutet Macht oder Energie, und in der Tradition des Shaktismus wird Macht oder Energie als weiblich definiert. So ist nach der Tradition des Shaktismus die Göttin herausragend, da die metaphysische Realität weiblich ist. Von den Anhängern dieser Tradition werden viele verschiedene Göttinnen angebetet, und alle diese Göttinnen werden als verschiedene Dimensionen derselben übergeordneten Göttin betrachtet. Darüber hinaus existieren verschiedene Subtraditionen der Überlieferung des Shaktismus, die auf der Verehrung der jeweiligen Göttin beruhen. Von besonderer Bedeutung sind zwei Praxisschulen: „Srikula„, in Südindien bekannt, und „Kalikula„, in Nord- und Ostindien beheimatet.

Die Srikula-Tradition des Shaktismus erachtet die Göttinnen als gutartig und schön und ist in Andhra Pradesh, Kerela, Karnataka und Tamil Nadu vorherrschend. Die Srikula-Tradition des Shaktismus kommt auch in den Tamilengebieten Sri Lankas vor. Auf der anderen Seite konzentriert sich die Kalikula-Tradition des Shaktismus auf die zornige und grausame Facette der Göttin. Die Kalikula-Tradition ist in Nepal am weitesten verbreitet und vor allem in den indischen Bundesstaaten Westbengalen, Assam, Orissa, Bihar sowie in einigen Teilen von Maharashtra und Kerala präsent. Tatsächlich wird in der Kalikula-Tradition die Göttin oder Devi als Quelle der Weisheit und Befreiung gepriesen. Die Hauptgottheiten der Kalikula-Tradition sind Kali, Durga und Chandi, andere Gottheiten sind Tara, Manasa (die Schlangengöttin), Bhuvaneshwari, Bhairabhi etc.

Einige Gottheiten werden auf dem gesamten indischen Subkontinent verehrt, sind aber in den unterschiedlichen Regionen oder Gemeinschaften unter verschiedenen Namen bekannt. Eine solche Gottheit ist die Göttin Lakshmi, die Glück, Reichtum, Fülle und Wohlstand personifiziert. Sie ist die Frau von Lord Vishnu, dem höchsten Wesen in der Tradition des Vaishnavismus des Hinduismus.

In diesem Zusammenhang wird die Göttin Lakshmi auf einer metaphorischen Ebene als Shakti oder Energie und damit als die göttliche Kraft von Lord Vishnu verstanden. Göttin Lakshmi verkörpert auch göttliche und gütige Tugenden; ihr wird während der Diwali-Feiern, dem Fest der Lichter in Indien, gehuldigt. Sie ist in den einzelnen Gemeinden unter verschiedenen Namen bekannt.

Es klingt ironisch, aber in den alten indischen Schriften des Hinduismus gelten alle Frauen als Inbegriff der Göttin Lakshmi, wohingegen die Behandlung von Frauen im Allgemeinen einem solchen Verständnis widerspricht. Unter den Hindus zählt die Frau in einer Familie zu den Lakshmi. Von ihr wird erwartet, dass sie Wohlstand, Glück, Wohlstand und Überfluss ins Haus bringt, und zwar durch ihre wohlwollende Art und ihre Fähigkeit, die Bande zwischen den Familienmitgliedern zu vertiefen.

Bei kritischer Betrachtung wird allerdings sofort erkennbar, dass diese Identifizierung von Frauen keine Begeisterung auslöst. Tatsächlich spielt eine solche Identifikation eine große Rolle im Zusammenhang mit Ehre und Geschlechtergerechtigkeit und kontrolliert auf implizite Weise das Verhalten von Frauen, indem sie ihnen ihre Verhaltensstandards vorschreibt.

Göttin Kali wird als die Vernichterin des Bösen verehrt, aber auch als die göttliche Mutter und die höchste Vollkommenheit Brahmans. Sie gilt als die göttliche Beschützerin, die die Befreiung aus dem Kreislauf von Geburt und Tod gewährt. Sie wird in der indischen Kunst üblicherweise in den Farben Schwarz oder Blau dargestellt, ihre Augen rot vor rauschhafter Wut und ihr Haar zerzaust in ihrem absoluten Zorn. Kleine Reißzähne ragen manchmal aus ihrem Mund und die Zunge ist herausgestreckt. Sie wird oft nackt abgebildet oder trägt nur einen Rock aus menschlichen Armen und eine Kordel, die sich aus menschlichen Köpfen zusammensetzt. Obgleich Kali zornig aussieht, wird sie oft als die freundlichste und liebevollste aller hinduistischen Göttinnen empfunden und von ihren Anhängern als die Mutter des gesamten Universums angesehen. Und durch ihre wilde Form wird sie oft auch als große Beschützerin wahrgenommen.

Shakta-Tempel findet man in ganz Indien und in Südasien. Die wichtigen Wallfahrtsorte des „Shaktismus“ heißen „Shakti Peeths„, was so viel bedeutet wie „die Sitze der Devi (Göttin)“.

Der Shaktismus wurde vielfach als abergläubische, von schwarzer Magie durchdrungene Tradition abgetan und kaum als wahre Religion anerkannt. Allerdings ist die Anbetung von Göttinnen in Indien sehr weit verbreitet.

Übersetzung Englisch-Deutsch: Anna Dichen

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Lakshmi Lakshmi Elisa Steininger CC BY-SA 4.0