Das Weltbild der Gnostiker

Gnosis - Illuminati
Meinung

Die Wiederentdeckung des Weltbilds der Gnostiker, das über mehrere Jahrhunderte verloren war, könnte der Menschheit in diesen außergewöhnlichen Zeiten eine wichtige Orientierung für die Evolution unserer Spezies bieten.

Für sehr lange Zeit waren jegliche Informationen über eine Gruppe von Mystikern, den Gnostikern, verschollen und ihre Weisheiten verloren. Ein bemerkenswerter Fund im Jahr 1945 in Nag Hammadi, Ägypten, änderte jedoch diesen Umstand. Es handelt sich dabei um die Nag-Hammadi-Schriften, auch bekannt als die Nag-Hammadi-Bibliothek. Sie besteht aus dreizehn in Leder gebundenen Kodizes mit insgesamt 52 Texten, bei denen es sich um einzigartige literarische Artefakte handelt.

John Lamb Lash, der Autor des Buches „Not in His Image“, wurde im selben Jahr geboren, in dem diese Schriften entdeckt wurden. Im Vergleich zu anderen Wissenschaftlern, die sich mit den gnostischen Texten von Nag Hammadi beschäftigten, hat Lash keinen theologischen Hintergrund. Da es sich bei den Gnostikern um Kritiker monotheistischer Religionen handelte, wurden die religionskritischen Inhalte dieser Aufzeichnungen von Wissenschaftlern ignoriert.

Mit seinem faszinierenden Werk „Not in His Image“ bringt John Lamb Lash Licht auf die Lehren und Weisheiten der Gnostiker.

The Gnostic vision of life is not an alternative religion. It is an alternative to all religions.
(Die gnostische Vision des Lebens ist keine alternative Religion. Sie ist eine Alternative zu allen Religionen.*)

(John Lamb Lash)

Vernichtung heidnischer Kultur

Vor der Christianisierung existierten in Europa diverse indigene Kulturen, die in der heutigen Zeit als „heidnische Völker“ zusammengefasst werden. In diesem Sinne zählten Gnostiker auch zu den Heiden, da sie gemäß der Definition keiner monotheistischen Religion angehörten.

Bei Gnostikern handelte es sich nicht um eine bestimmte Völkergruppe, sondern um Menschen, die in Besitz der sogenannten „Gnosis“ waren. Das englische Wort „knowledge“ für „Wissen“ leitet sich von „Gnosis“ ab. Dabei geht es nicht unbedingt um intellektuelles Wissen, sondern vielmehr um tiefgründig esoterische Weisheiten.

The practice of Gnosis was a way of apprehending directly the existential reality of the cosmos, and participating in how the cosmos acts within the human psyche.
(Die Anwendung der Gnosis war ein Weg, die existenzielle Realität des Kosmos direkt wahrzunehmen und daran teilzuhaben, wie der Kosmos innerhalb der menschlichen Psyche wirkt.*)

(p.187)

Bei Gnostizismus handelte es sich nicht um einen Glauben, sondern vielmehr um ein Verständnis von Realität. Diese Weisheiten wurden in den antiken Mysterienschulen weitergegeben, an denen bekannte griechische Wissenschaftler und Philosophen wie Platon und Pythagoras ihren Wissenshorizont erweiterten. Ebenso eine Stätte der Gnosis war die Bibliothek von Alexandria, die über eine atemberaubende Ansammlung von esoterischen Texten und Wissen verfügte.

Mit der Institutionalisierung des Christentums und dessen Ernennung zur wichtigsten Religion im Imperium Romanum durch Kaiser Konstantin 325 n. Chr. begann dessen weltweite Ausbreitung. Dabei wurde der christliche Glaube auf gewaltsame Art und Weise aufgezwungen und die diversen heidnischen Kulturen, die davor existierten, systematisch zerstört, da man bei Verweigerung zur Konversion getötet wurde. Kaiser Theodosius persönliche Mission im 4. Jahrhundert n. Chr. war es, alle gnostischen und heidnischen Schriften zu vernichten.

The brutal suppression of the Mysteries, the destruction of Gnostic writings, and the wholesale genocide of Pagan culture in Europe belong to the untold story of ‚Western civilization‘ and ‚the triumph of Christianity‘.“
(Die brutale Unterdrückung der Mysterien, die Vernichtung gnostischer Schriften und der umfassende Genozid an der heidnischen Kultur in Europa gehört zur nicht erzählten Geschichte der ‚westlichen Zivilisation‘ und des ‚Triumphs des Christentums‘.*)

(p.16)

Diesem Triumph der christlichen Religion in Europa ging ein Völkermord an indigenen Völkern voraus, die Geschichte wurde von den Siegern geschrieben und deren Verhalten im Namen Gottes legitimiert.

Das Wissen über die Mysterienschulen und der Ideologie der Gnostiker galt lange Zeit als verloren – bis zum Fund von 1945 in Nag Hammadi.

Der „Erlöser-Komplex“

In herkömmlichen Diskursen wird ein Mythos oftmals als eine Lüge missverstanden. Bei einem Mythos, unabhängig ob Tatsache oder erfunden, handelt es sich jedoch lediglich um eine Geschichte. Da Geschichten für Menschen bedeutungsvoll sind, sollte der Glaube an eine Geschichte jedem selbst überlassen sein.

Der von den monotheistischen Religionen vertretene Mythos von Gott als liebevollem, allmächtigem Vater, dessen Wille der Mensch zu gehorchen hat, ist nach wie vor die dominanteste Geschichte in der Psyche der Menschheit. Dabei würde bei Gehorsam gegenüber seinen irdischen Vertretern, den kirchlichen Autoritäten, am Lebensende die Erlösung warten.

Aus Sicht der Gnostiker entsprach diese Auffassung eines übermächtigen Gottes, dem die Menschen zum Zweck ihrer Erlösung gehorchen sollten, einer Pathologie der menschlichen Psyche. Für sie war dieser „Erlöser-Komplex“ eine Täuschung, da sich ihrer Ansicht nach der Mensch nur mit seinem eigenen Willen und Geist befreien könne. Im Gegensatz zur Unterwerfung einer Gottheit sollte der Mensch zur Selbstermächtigung unterstützt werden.

They posited an ongoing educational process for the enlightenment of humanity, a system of cultivating human potential and the awakening the genius innate to our species, but no plan of salvation as such.
(Sie postulierten einen kontinuierlichen Bildungsprozess zur Erleuchtung der Menschheit, ein System zur Kultivierung menschlichen Potenzials und die Erweckung des Genius, der unserer Spezies angeboren ist, jedoch keinen Rettungsplan an sich.*)

(p.111)

Aus der Perspektive der Gnostiker besitzt die menschliche Spezies eine angeborene Intelligenz, die sie „Nous“ nannten. Des Weiteren sei der Mensch mit einem speziellen Talent, genannt „Epinoa“ (soviel wie Vorstellungskraft, Kreativität) ausgestattet, mit dem der individuelle Mensch einen erheblichen Machteinfluss auf seine erlebte Realität besitzt.

Statt der Indoktrination eines Weltbildes, in dem die Allgemeinheit ihre Macht an einen übermenschlichen Erlöser abgibt, bestand die Bestimmung der Gnostiker in der spirituellen Führung der Menschheit zu ihrer Selbstermächtigung. Ist denn die Einsicht, dass man als Individuum selbst die Macht zur Änderung von Realität besitzt, ein Aspekt der Gnosis?

Mythos der Göttin Sophia

Mit seiner Analyse der Nag-Hammadi-Bibliothek rekonstruierte John Lamb Lash den Mythos der Göttin Sophia, der einen der zentralen Aspekte des Weltbildes der Gnostiker ausmachte. Sophia, die Weisheit, ist Mutter Natur selbst. Auch bekannt als Gaia, ist die Göttin Sophia im Planeten Erde verkörpert. Im Gegensatz zum Mythos einer düsteren Endzeit, die von einer verheerenden Apokalypse gefolgt wird, besteht beim Sophia-Mythos ein offenes Ende.

Wenn dabei ein bestimmter Anteil der Menschheit in Verbundenheit mit Mutter Erde sich seine angeborene Intelligenz zunutze macht, anstatt eine Erlösung von außen zu erwarten, wird der Planet geheilt und die Evolution kann fortschreiten. Falls sich die Entfaltung des einzigartigen Potenzials der Menschheit nicht ausreichend realisieren lassen sollte, seien die Konsequenzen verheerend.

Failing to own and evolve the intelligence innate to our species, we risk being deviated by another kind of mind, an artificial intelligence through which we become unreal to ourselves.
(Scheitern wir daran, die unserer Spezies eigene Intelligenz zu erkennen und fortzuentwickeln, dann riskieren wir, von einer anderen Art von Geist überflügelt zu werden, einer künstlichen intelligenz, durch die wir zu uns selbst irreal werden.*)

(p.117)

Welche Zukunft unserer Spezies bevorsteht, hängt laut den Gnostikern davon ab, ob wir uns als Spezies wieder mit unserer Mutter Natur verbinden und wieder selbst Verantwortung für unseren Planeten übernehmen.

* Das Buch „Not in His Image“ von John Lamb Lash ist bislang nur in der englischen Originalausgabe erhältlich. Die Zitate wurden übersetzt von Martin Krake.

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