Der Weisheit letzter Schluss – Was Menschen brauchen

Meinung

Ein kommentierender Wochenrückblick – KW 16/23

Der Biologe und Philosoph Andreas Weber formuliert in seinem Buch „Warum Kompromisse schließen“ die für die Menschheit existenziellen Bereiche wie folgt:

das Menschsein mit der Frage „Was sind unsere zentralen Bedürfnisse“

die Ethik mit der Frage „Wie lassen sich diese Bedürfnisse so erfüllen, dass andere nicht geschädigt werden?“

die Politik mit der Frage „Wie lässt sich eine produktive Bedürfniserfüllung organisieren?“

die Wirtschaft mit der Frage „Wie lässt sich das zum Leben Nötige unter den Teilnehmern an diesen Beziehungen verteilen?“

und die Ökologie, „das System der Systeme, das Gesamtnetz der Beziehungen, das alle Wesen verbindet“ mit der Frage „Wie kann ich so leben und sterben, dass Leben weiter möglich bleibt?“

Ausgehend von Webers Weltbild, dass alle und alles mit allen und allem in Beziehung stehen und der Mensch daher nicht über die Natur herrscht, sondern ein Teil derselben ist, stehen die Bedürfnisse aller „Beteiligten“ im Mittelpunkt des (politischen) Handelns. Demzufolge ist es nicht verwunderlich, dass es ein Sehnen der Menschen nach politischen Gruppierungen gibt, die den zentralen Bedürfnissen des Menschseins Rechnung tragen. Es ist auch nicht verwunderlich, dass das parteipolitische Establishment solche Gruppierungen zu verunglimpfen und sogar im Keim zu ersticken versucht, weil sie die bestehende Ordnung, die bloß den Mächtigen dient, zumindest verändern, wenn nicht so gar auf den Kopf stellen wollen.

Der Wunsch nach Veränderung, der nicht immer ein Widerstand gegen das Bestehende sein muss, kann sich aber auch auf andere Weise zeigen, als eine neue Gruppierung in der Parteienlandschaft zu unterstützen oder gar zu gründen. Die am Sonntag abgehaltene Wahl zum Landtag in Salzburg zeigt durchaus beide Phänomene, wie ich meine.

Bei diesem Urnengang haben sich zwei neue Parteien der Wahl gestellt, nämlich die MFG und die Liste WIRS, die aus der MFG hervorgegangen ist. Beide Gruppen haben die für den Einzug in das Landesparlament erforderliche 5%-Quote nicht erreicht und können daher den Willen ihrer Wähler in diesem Gremium nicht vertreten, sich aber durchaus weiterhin außerparlamentarisch mit den Mitteln, die unsere repräsentative Demokratie ermöglicht, einbringen. Zwei schon länger bestehende Parteien, nämlich die FPÖ und die KPÖ, haben die Gunst der Stunde genutzt und wurden von ihren Wählern massiv gestärkt, wobei die KPÖ erstmals seit 1949 den Einzug in den Salzburger Landtag geschafft hat. Die Kommunistische Partei Österreichs hat sich im Lauf der letzten Jahre einen neuen Anstrich, der sich auch im Namenszusatz „plus“ ausdrückt, verpasst, um sich – ausgehend vom Grazer Gemeinderat, in dem sie ja sogar den ersten Platz errungen hat und damit seit kurzem auch die Bürgermeisterin stellt – um die Grundbedürfnisse der Menschen zu kümmern.

Das, was für die meisten bis vor nicht all zu langer Zeit noch als selbstverständlich galt und damit ein „Minderheitenproblem“ war, nämlich leistbares Wohnen und leistbare Energieversorgung, finanzierbare Grundversorgung mit dem täglichen Bedarf an Lebensmitteln, und basale Beteiligung an Angeboten aus dem Kunst- und Kulturbereich, ist in den letzten drei Jahren zunehmend unmöglich geworden. KPÖ plus dürfte hier eine Antwort gefunden haben, die immer mehr Menschen anspricht.

Zu bedenken ist dabei aber immer auch eins: Wenn eine immer stärker wachsende Gruppe von Menschen im Lauf der Jahre in die Abhängigkeit der „öffentlichen Hand“ geraten ist, muss sie erkennen, dass es diese „Unterstützung“ nicht so ganz freiwillig und bedingungslos gibt, wie es nötig wäre. Zudem wurden wir durch das herrschende Gesellschaftssystem von Kindesbeinen an dazu „erzogen“, dass wir unseres eigenen Glückes Schmied sind. Das hat zur Folge, dass wir als „Versager“ oder „Verlierer“ stigmatisiert werden, wenn wir Unterstützungsbedarf haben, oft also gar nicht auf die Idee kommen, diese Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Zudem gibt es ja die eine oder andere Zugangshürde – wie weiter oben bereits angeführt. Und, was nicht zu vernachlässigen ist, hat die Abhängigkeit von staatlichen Unterstützungsmaßnahmen durch die dadurch geforderte Lebensweise oft auch eine zunehmende Einschränkung der persönlichen Entscheidungsfreiheit zur Folge.

Die FPÖ wiederum betont durchaus dieses „Glück des Einzelnen“ und baut, um es sicher zu stellen, auf Feindbilder; nämlich jene, die das bestehende System ausnutzen, ohne eine entsprechende „(Vor-)Leistung“ erbracht zu haben, die zumindest in der österreichischen Staatsbürgerschaft, noch besser aber in der Einzahlung ins Sozialsystem besteht. Auch hier gibt es eine Verbesserung nicht ohne Konsequenzen, nämlich deren ideologische Sichtweise auf die Zugereisten zu teilen, zumindest aber zur Kenntnis zu nehmen.

Die ehemaligen großen Volksparteien ÖVP und SPÖ, aber auch die Grünen und die NEOS, denen offenbar die Antwort auf die bedeutendsten Fragen des Lebens immer weniger zugetraut wird, verlieren laufend Wähler an diese beiden Gruppen oder an die Gruppe der Nicht- oder Weißwähler, die auch in Salzburg wieder die eigentliche Mehrheit der Wahlberechtigten ausmachen. Letztere kamen bei einer Wahlbeteiligung von 70,9% mit 29,1 % an erster Stelle zu liegen. Die „siegreiche“ ÖVP bekam nur die Stimmen von 21,3% der zur Wahl berechtigten Salzburger, die FPÖ 18,3%, die SPÖ 12,7%, die KPÖ 8,3% und die Grünen 5,8%. Zusammen kommen die im Landtag vertretenen Parteien damit auf knappe 66%. 1/3 der Salzburger Wahlberechtigten ist damit in der politischen Vertretung ihres Bundeslandes nicht berücksichtigt. Das zeigt einen der größten Mängel unseres demokratischen Systems.

Solche Mängel hat auch die Partei Vision Österreich (VÖ) geortet, die kürzlich „zwei Sachverhaltsdarstellungen bei der Staatsanwaltschaft wegen vorsätzlicher Wahlbeeinflussung aufgrund unwahrer Behauptungen, eine Beschwerde gegen den ORF bei der KommAustria wegen mehrfacher Verstöße gegen das Objektivitäts- und Unparteilichkeitsgebot sowie eine Wahlanfechtung beim VfGH zur Überprüfung diverser formeller und materieller Rechtswidrigkeiten eingebracht hat. Der Vorsitzende von VÖ, Alexander Todor-Kostic, begründet dies wie folgt: „Wenn man in Österreich mit dem Grundrecht auf freie und unbeeinflusste Wahlen sanktionslos so umgehen darf, ist es kein Wunder, dass sich immer nur die Altparteien letztlich durchsetzen, wodurch die Politikverdrossenheit und die geringe Wahlbeteiligung nur noch weiter ansteigen wird“, und weiter:„Wir würden dem eigenen programmatischen Auftrag nicht nachkommen, wenn wir es jetzt mit diesen schweren Fouls der Medien einfach bewenden lassen und nichts mehr im Interesse der Absicherung der Wahlfreiheit unternehmen.“

Nicht nur durch diese Ausführungen zeigt sich die Bedeutung einer objektiven und umfassenden Berichterstattung durch die Medien, in der alle wichtigen Informationen transportiert werden müssten, damit sich die Bürger ein Bild machen und entsprechende Entscheidungen treffen können. Um die Demokratie am Leben zu erhalten, braucht es Menschen, die nicht für dumm verkauft werden wollen, wie das Propaganda, Werbung und der Boulevard – und mittlerweile auch durchaus ein (Groß-)Teil der Qualitätsmedien – gerne machen und damit den Herrschenden zu Diensten sind. Entlarvend in diesem Zusammenhang ist auch das derzeit in Begutachtung befindliche Medienpaket, dessen einer Teil ja die Einstellung der Wiener Zeitung als Printmedium ist. Ersetzen soll die älteste Tageszeitung der Welt eine bloße Onlinepräsenz, die von einer Lehrredaktion gestaltet wird, die Teil eines Medien-Hubs ist, der gleichzeitig Journalisten und zukünftige PR-Menschen wie die Pressesprecher von Politikern ausbilden soll. Noch klarer lässt sich die Regierungssicht auf Journalismus nicht ausdrücken, Berichterstattung wird also offensichtlich mit Informationen aus dem Bundeskanzleramt bzw. den Ministerien gleichgesetzt.

Logisch daher auch, dass der ORF zukünftig von der gesamten Bevölkerung bzw. den Unternehmen in Form einer Haushaltsabgabe finanziert werden muss. Dass dabei mehr Geld als durch die davon ersetzte GIS-Gebühr in die Kassen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks fließt, hat sich – wie ich vor einigen Wochen an dieser Stelle schon vermutet habe – nun doch bewahrheitet. Das in der Schweiz produzierte „Untergrundblättle“ hat in einem durchaus ansprechenden Beitrag mit dem Titel „Dein Fernseher lügt – zur Rekonstruktion medialer Blödmaschinen“ dargestellt, dass die ORF-Haushaltssteuer wie ein Instrument wirkt, „mithilfe dessen die Erreichbarkeit der unwilligen Subalternen sichergestellt werden soll, geht man doch davon aus, dass die Mehrheit, wo sie denn schon gezahlt hat, auch konsumieren wird.“ Möge sich diese Prognose bitte nicht bewahrheiten. Dieser Beitrag mit der von mir zitierten Einleitung ist dort nicht mehr zu finden, der Text des Autors aber an anderer Stelle.

Noch einmal zurück zur Wiener Zeitung: Die drei seit diesem Montag um den Parteivorsitz ritternden SPÖ-Kandidaten haben sich anlässlich des von der Regierung gegen die Stimmen der Oppositionsparteien im Verfassungsausschuss beschlossenen Aus des Mediums allesamt für ein Beibehalten der Printausgabe ausgesprochen – allerdings mit dem Zusatz „wenn ich die Möglichkeit dazu bekomme.“ Das ist insofern bemerkenswert, als zumindest die aktuelle Vorsitzende, die ja auch Klubobfrau ihrer Fraktion im Parlament ist, durchaus schon jetzt die Möglichkeit hätte, in diesem Sinne einzugreifen. Denn die Regierungsparteien brauchen zum Beschluss der Medienförderung, die ein weiterer Teil des Medienpakets ist, eine Verfassungsmehrheit von zumindest zwei Drittel. Das wäre doch die Chance, diese nötige Zustimmung an den Erhalt der Wiener Zeitung als Tageszeitung zu knüpfen. Es gab schon schlechtere Junktims.

Apropos Wahlen: In rund eineinhalb Jahren, am 5.11.2024, wird in den USA der nächste Präsident auserkoren. Der Wahlkampf hat aber jetzt schon begonnen – und zwar in erster Linie innerhalb der zwei großen Parteien: der Demokraten und der Republikaner. Während bei Letzteren der ehemalige Präsident wieder ins Rennen gehen will, versucht sich bei Ersteren der Neffe des „legendären“ John F. Kennedy gegen das amtierende Staatsoberhaupt zu positionieren. Das hat auch in Österreichs Boulevardmedium Nr. 1 zu einem geframten Bericht geführt, der davon spricht, dass seine Chancen nur sehr gering seien und er „Zuspruch … vor allem von konservativen Kreisen, in denen er sich als Impfgegner einen Namen gemacht hat“ erhielte. Laut dem Blog für Science & Politik tkp.at gilt er tatsächlich als einer der bekanntesten Kritiker der Covid-Maßnahmen. Bei seiner ersten Rede sprach er sich gegen den US-Imperialismus aus, er will die unzähligen US-Militärbasen im Ausland schließen, zudem die „CIA in tausend Stücke zerschlagen“, russische Sicherheitsinteressen anerkennen und die Überwachungsgesetze aus der Bush-Ära zurücknehmen. USA Today stimmt in das allgemeine Framing ein und attestiert ihm „eine überraschende Stärke für einen Kandidaten, der einen berühmten politischen Namen hat, aber jetzt vor allem als Verfechter einer entlarvten Verschwörungstheorie bekannt ist, die Impfstoffe für Kinder für Autismus verantwortlich macht“.

Ob er mit den von ihm bislang angesprochenen Themen tatsächlich die Bedürfnisse der Amerikaner aufgreift, ist fraglich: zu wirtschafts- und sozialpolitischen Themen hat er sich noch nicht positioniert.

Und damit schließt sich der Kreis zum von mir gewählten Titel meines Wochenkommentars. Von authentischen und nachvollziehbaren Antworten darauf, die unsere Welt und Wirklichkeit ganzheitlich im Sinne des Biologen und Philosophen Andreas Weber betrachten, hängt aus meiner Sicht die Glaubwürdigkeit und Attraktivität der Politik und damit nicht weniger als die Zukunft unseres demokratischen Systems ab. Allerdings dürfen wir nicht davon ausgehen, dass diese geänderte Sichtweise „von oben“ kommen wird. Sie braucht die Einzelnen, die sich mit anderen Gleichgesinnten zusammenschließen, sich dem Diskurs mit anders Gesinnten stellen, und auf diese Weise eine geänderte zukunftsträchtige Dynamik erzeugen. Dadurch werden Entscheidungen für unser Zusammenleben in Gemeinschaft mit allem Lebendigen auf neue tragfähige Beine gestellt. Es geht letztlich darum, die zentralen Bedürfnisse aller Beteiligten wirklich zu berücksichtigen, deren Erfüllung produktiv und nachhaltig zum Wohle aller zu organisieren und das zum Leben Nötige auf alle „Mitspieler“ gerecht zu verteilen.

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WG – 2023 KW16-YOUTUBE Wolfgang Müller CC BY-SA 4.0