Die Alchemie des Lesens

Die Alchemie des Lesens
Gesellschaft

Die Alchemie des Lesens ist etwas ganz Besonderes. Die Verschmelzung der Welten. Das Zulassen, dass der neue Inhalt durch die Ritzen unseres Wahrnehmungspanzers eindringt, unsere Schutzmechanismen überlistet und uns aufknackt, aufwühlt, verstört, tief bewegt, in uns zu brodeln anfängt und, wenn alles gut geht, haben sich dann unsere inneren Grenzen ein klein wenig geweitet; wir sind um einen Deut offener geworden, haben diese oder jene Vorstellung fallengelassen – zugunsten eines Hauchs von Freiheit.

Doch wie wird eigentlich ein Mensch zum Leser? Wieso lesen manche Menschen und manche eben nicht?

Ich habe dazu so eine ganz einfache Theorie anhand der eigenen Erfahrung und vieler Gespräche mit allerlei Menschen entwickelt, die lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Menschen, die nicht lesen, haben noch nicht ihr erstes Buch gelesen. Was nicht bedeutet, dass sie noch nie ein Buch gelesen haben, es bedeutet nur, dass noch kein alchemistischer Prozess stattgefunden hat. Dass sie also immer noch ungetriggerte „Schläfer“ sind.

Sobald sie jedoch mit dem richtigen (in diesem Fall textuellen) Inhalt in Berührung kommen und einen bis dahin nicht gekannten, aber sehr wohl vermissten Teil ihres Selbst in ihm wiederentdeckt haben (gleich einem sehr lieben Freund, den man nach einer Ewigkeit zufällig auf der Straße trifft), wird ein zumeist lebenslanger magischer Prozess eingeleitet. Den nennen wir dann vereinfacht „lesen“. Und die sich in diesem Prozess befindende Person ist „der Leser“.

Mit anderen Worten, ohne diese zutiefst existentielle Erfahrung gibt es auch keinen Leser.

Wie kommt aber eine solche alchemistische Leseerfahrung überhaupt zustande?

Na ganz klar: Sie ist die Folge einer durch Magnetismus zutage geförderten Angelegenheit. Das richtige Buch kommt mit der das Buch lesenden Person in Berührung, wie durch Zufall … Allerdings, wie so oft der Fall, können auch hier bestimmte Voraussetzungen sehr vorteilhaft sein. Am einfachsten funktioniert es, wenn dieser Leser folgende Eigenschaften besitzt: unbändige Neugier, Abenteuer- und Wissensdurst, ein Bedürfnis nach Ästhetik und vor allem das Verlangen nach Verständnis. Aus dieser Perspektive ist der Leser aber vor allem ein Suchender.

Darum ist auch dieser leidenschaftliche Leser, dem das Lesen zutiefst Spaß macht, obwohl der wählerischste von allen, doch ungebunden an ein bestimmtes Genre; ungeachtet der Tatsache, dass er ganz natürlich seine wesensspezifischen Vorlieben hat, verschlingt er trotzdem gleich begierig ein Sachbuch und Belletristik, Philosophie und Kinderbücher … ähnlich einem Musikfreak, der gleich gern guten Jazz, Rap, Rock, Weltmusik, elektronischen Sound oder Klassik hört …

O ja, ich erinnere mich noch sehr gut an mein erstes Buch. Ich erinnere mich daran – gleich gut wie an meine erste Liebe, an meinen ersten Kuss oder an den ersten Schultag oder andere Dinge, die sich tief in das Gedächtnis einritzen, um für immer da zu bleiben. Und hierbei meine ich nicht das erste Buch, das ich in den Händen gehalten habe, oder den ersten Buchumschlag, der meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, und auch nicht buchstäblich das erste Buch, das ich im Leben gelesen habe.

Nein, ich rede von dem Buch, das einen noch immer währenden Wandlungsprozess eingeleitet hat. Von jenem Buch, nach dem nichts mehr gleich war; von jenem Buch, das mich auf eine besondere Art und Weise inspiriert und meine Liebe zum Lesen entfacht hat:

Ich war dreizehn Jahre alt, und vielleicht war die Veranlagung schon längst in mir. Der Samen also schon weit zurück in meiner Vergangenheit gesät worden; wie auch immer, meine richtige Leselaufbahn hat mit Fjodor Michailowitsch Dostojewskis Der Spieler angefangen. Für diesen Text ist die Handlung dieses Buches unerheblich, wichtig wäre vielleicht zu erwähnen, dass es sich bei Dostojewskis Büchern um tiefe und sehr lebendige psychologische Romane handelt, die eindringlich die Abgründe der menschlichen Seele und die Beweggründe menschlichen Handelns beschreiben. So auch Der Spieler.

Man könnte sagen, dass sich da für mich so einiges genau richtig gefügt hat; ein Bedürfnis in mir wurde treffsicher im richtigen Augenblick gestillt. Heute würde man sagen, dass eine Resonanz zwischen verschiedenen Welten stattgefunden hat. Diesen tiefgreifenden Einschnitt, den ein Buch im Leben eines Menschen verursachen kann, habe ich später wahrlich noch oft erlebt. Über viele dieser Bücher werde ich noch schreiben …

Und es ist ja wohl richtig: Bei einem solchen „Leser“ treten alle Symptome des klassischen Suchtverhaltens in Erscheinung. Eine tiefgreifende biochemische Reaktion wurde in ihm ausgelöst, und jetzt jagt er ständig diesem Etwas nach. Allerdings ist in diesem Fall die Suchtsubstanz der Drang nach Verständnis und Sinn.

Manche Bücher wirken und inspirieren ein Leben lang, egal wie oft man sie liest. Und manche sind Meteoriten, die unsere innere tektonische Lage gründlich und kompromisslos umgestalten, aber eben „nur“ einmalig, abhängig von Zeit und Befinden.

Und ganz im Sinne von allem bisher Gesagten möchte ich Euch dieses Mal ein unlängst erschienenes Büchlein ans Herz legen, das mich ganz schön zum Nachdenken gebracht hat. Es handelt sich um Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist, Adam? von Michael Köhlmeier und Konrad Paul Liessmann. Dieses Buch beinhaltet, wie der Untertitel so schön sagt, „Mythologisch-philosophische Verführungen“.

Es ist ein Zusammenspiel von literarischer Nacherzählung spannender Märchen und Mythen (Michael Köhlmeier) und jeweils einem darauffolgenden philosophischen Diskurs (Konrad Paul Liessmann), der sich mit dem vorgegebenen Hauptthema der jeweiligen Geschichte beschäftigt. Dabei berücksichtigt er immer den Bezug des Einzelnen zur behandelten Materie, aber das Tolle ist, dass auch der gesellschaftliche Aspekt mit all seinen aktuellen politisch-sozialen Herausforderungen bei seinen philosophischen Erörterungen nicht außer Acht gelassen wird.

Es handelt sich um zwölf essenzielle Fragestellungen, über die es sich nachzudenken lohnt: Neugier, Arbeit, Gewalt, Rache, Lust, Geheimnis, Ich, Schönheit, Meisterschaft, Macht, Grenze, Schicksal. Da mir das ganze Buch so nahegegangen ist, wäre es fast unfair, etwas daraus besonders hervorzuheben. Und dennoch möchte ich es tun.

Das Kapitel über Gewalt hat mich wirklich erschüttert (lest es selbst, und dann werdet Ihr sehen, wieso!) und einen heftigen Hinterfragungsprozess in mir ausgelöst. Und dafür bedanke ich mich bei den Autoren.

Danke für Eure Aufmerksamkeit und – wir lesen uns!

Credits

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Die Alchemie des Lesens Die Alchemie des Lesens Bianca Traxler CC BY-SA 4.0