Ein frischer Wind weht

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Lebenswelten

Hugo, Harti und ich übernahmen die Bar, und obwohl es rammelvoll war jenseits aller Kapazitäten, floss alles in einer perfekten Trance dahin. Die Leute sangen die indianischen Texte zu Jims Songs. Einmal stoppte er mitten in einem Song aus dem Album ,’Comin‘ and Going‘, aber das Publikum sang einfach weiter. Jims tränenerfüllte Augen und sein Lächeln waren hinter dem langen Haar versteckt, das in der rauchgefüllten Luft hin und her schwang, als er schweigend ein wenig tanzte.

Jim setzte seine Tour fort und spielte seine Musik, bis er ein Jahr später starb.

(aus: Begrabt mein Herz an der Biegung des Flusses)

Zurück in London, konzentrierte ich mich auf mein Studium und darauf, so viel wie möglich von dem auszuprobieren, was eine multikulturelle Gesellschaft zu bieten hat. Mein Interesse lag auf den asiatischen Kulturen, und hier besonders auf dem alten Indien und der Himalaya-Region.

Nachdem ich eine Reihe von Vorlesungen an der Theosophischen Gesellschaft in der Baker Street besucht hatte, wurden auch die Kelten (… und noch vieles mehr) zu einem Teil meines Bewusstseinshorizonts, und dank Rupert Sheldrakes Arbeit (… und der vieler anderer) begann ich mich zu fragen, wie die Dinge in einem größeren Zusammenhang miteinander verbunden sein könnten.

Darüber hinaus unterstützten meine Gastgeber, Alan und Michelle Newman, meine Ausbildung mit der Erlaubnis zur großzügigen Benutzung ihrer Bibliothek, mit Zeit für endlose nächtliche Debatten sowie mit der Einbindung in ihre jüdischen Familientraditionen – von Bagels mit Lachs am Sonntag bis zu traditionellen hebräischen Begräbnissen.

Alans Großvater war vor dem Zweiten Weltkrieg Oberrabbiner in Budapest; der Großvater von Michelle war aus Russland geflohen und barfuß bis nach Nizza gegangen. Michelle und Alan waren in keinster Weise orthodox, sie waren vielmehr Repräsentanten der klassischen Liberalen mit einer guten Dosis Hippietum, aber doch ohne Zweifel in ihrer Kultur verwurzelt. Für mich, der ich in Österreich geboren und aufgewachsen war, waren die Einsichten, die ich erhielt, von unschätzbarem Wert für das Verständnis meines eigenen kulturellen Erbes. Sie ließen mich dankbar für diese Lektionen zurück und allergisch gegen jegliche Form von hirnlosem Antisemitismus – oder besser: gegen jede Form von generalisiertem Anti-Irgendwen.

Alan hatte während seiner Jugend in den späten Fünfzigern und frühen Sechzigern intensiv den Fernen Osten bereist. Indien, Burma, Laos … nicht aber den Himalaya. Als er also mein Interesse bemerkte, machten wir es zu unserem Hobby, eine lange Expedition „mit dem Finger auf der Landkarte“ zu unternehmen. Da Tibet 1990 vollkommen unbereisbar war, planten wir, von Delhi aus mit dem Bus nach Bhutan zu fahren und weiter nach Nepal, dann südwärts nach Kalkutta und schließlich noch weiter in den Süden zu den Andamanen-Inseln.

Um die lange Geschichte zu verkürzen: Wir machten es. Mit dem Unterschied, dass uns die „Winde des Schicksals“ schließlich auch auf eine lange Reise durch Tibet führten. Es gäbe so viel zu erzählen, aber hier und jetzt soll das genügen: die Berge, riesige Ebenen und endlose Himmel, die Türkise, die Sandbilder, die Stille, die Gesichter, das „Anderssein“, das mit der Spiritualität untrennbar verwobene Alltagsleben … ja, es muss uralte Verbindungen zwischen diesen „Eingeborenenkulturen“ gegeben haben.

Oder ,wie mir ein Mönch in gebrochenem Englisch in einem versteckten Innenhof des Gyan Tse-Klosters zuflüsterte: „Wir halten den männlichen Punkt der Erde und sie den weiblichen.“ – Worte, die keinen Sinn für mich ergaben, bis ich viele Jahre später im Wüstenland zwischen den vier heiligen Bergen war, zwischen dem Grand Canyon, dem Monument Valley und Mesa Verde. Ich überlasse es den Experten, das „Wer, Was, Wann und Wo“ zu diskutieren.

Es gibt viele und grundlegende Unterschiede zwischen den indigenen Kulturen, aber ihnen ist sicherlich gemeinsam, dass sie missverstanden, fehlinterpretiert und als Projektionsfläche benutzt wurden für die desorientierte Suche der westlichen Gesellschaften nach ursprünglicher Spiritualität. Die schwachsinnige „Esoterikindustrie“ wäre ernsthaft dezimiert, nähme man die Tibeter und die Indianer aus ihrem Sortiment.

Das Leben setzte sich lebhaft fort zwischen Studium, Arbeit und intensiven sozialen Kontakten. Ich begann, selbst zu unterrichten und reiste weiterhin so viel als möglich. Australien ergab sich zwischendurch, und die Qualität des Lebens dort war fast zu gut für mich, um mich wieder wegzubegeben. Aber nach mehreren Monaten und einem Weihnachten am Strand fühlte ich mich völlig verloren. Der Balkankrieg war in vollem Gange, und in Perth konnte ich keinerlei Nachrichten bekommen.

Das Heimweh schlug mit unnachgiebiger Kraft zu und wurde zu einem ständigen Stachel im Fleisch. Es war also Zeit, heimzukehren nach Österreich. Doch manchmal scheint man aus der Spur zu fallen oder eine Stufe zu verfehlen, und ich konnte nicht aufhören. Ich blieb eine Weile zu Hause, um wieder zu Geld zu kommen, doch als sich die Möglichkeit zu einem Praktikum an einem experimentellen Theater im New Yorker Stadtteil Queens bot, war ich sofort wieder weg. Nun, die USA schienen der offensichtlich weitere Weg zu sein. Doch was für ein Desaster!

New York stellte sich 1992 als mein persönlicher Höllenritt heraus: Drogengeschichten, Obdachlosigkeit. Ich war damals nicht stark genug und zu naiv, um der Kraft dieses Ortes zu widerstehen. Es war auch sehr lehrreich, doch ich war froh, in einem Stück da wieder rauszukommen. Mit der Hilfe eines alten sizilianischen Taxifahrers – aber das ist eine andere Geschichte.

Das schien das Ende der Straße zu sein. Ich zog mich in das Haus meiner Eltern in dem kleinen österreichischen Dorf zurück und leckte meine Wunden. Meine Gesellschaft waren Bücher, Menschen mied ich. Es dauerte einige Monate, bis ein alter Freund aus Kindheitstagen, Andi Bär, entschied, dass ich mich lächerlich aufführe und mich in sein Auto zerrte. Er sagte, er würde mich an einen Ort bringen, wo er mit einem Freund immer angeln ging, und das sei gut für mich.

Ich schlief ein und wachte wieder auf, als wir an einem Teich vorüberfuhren, an dem Vogelschwärme landeten und wieder aufflogen. Schwäne glitten über das dunkle Wasser an das von Birken gesäumte Ufer. Das alles war umgeben von kleinen Feldern und Wald und einem weiten, weiten Himmel.

Wir waren gerade an Geras vorbeigefahren auf dem Weg nach Schloss Primmersdorf an der Thaya. Dort fand ich in der Künstlerkommune von Vesna und Jon Arbeit, ein Zuhause, eine Bibliothek sowie einen Trittstein über die Grenze zu meinen Nachbarn und Vorfahren in Böhmen. Es wurde die Heimatbasis meines „grünen Reservats“.

Weiter ging’s zu den Diné, bei uns besser bekannt als Navajo

(Fortsetzung folgt.)

Übersetzung Englisch-Deutsch: Martin Krake

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