Maria Rauch-Kallat – Bildung, Umwelt- & Sozialpolitik und die ökosoziale Marktwirtschaft

Politik

In der Küche bei Alexander Stipsits zu Gast ist Maria Rauch-Kallat, u.a. langjährige österreichische Bundesministerin, ehemalige Generalsekretärin der ÖVP und eine der engagiertesten Frauenpolitikerinnen der österreichischen Volkspartei.

Maria Rauch-Kallat maturierte im Juni 1967 und sie erinnert sich noch gut an die Worte Ihrer Mutter, die Ihr in Ihrer Jugend erklärte, dass Sie erst einen Beruf ergreifen solle, bevor Sie heiratet. Nicht einmal Ihre Mutter konnte wohl erahnen, dass Sie diese Vorgabe bereits wenige Wochen nach Ihrer erfolgreich abgelegten Matura erfüllen würde, denn Sie begann nur 3 Monate nach Ihrer eigenen Matura bereits im September 1967 an einer der beiden verrufendsten  Hauptschulen in Favoriten Englisch zu unterrichten.

Dazu kam es, weil sie bereits als Schülerin der 8. Klasse Gymnasium auf der Uni Englischvorlesungen besucht hatte und Sie von einem Ihrer Uni-Professoren, der Ihre Sprachkenntnisse schätzte, unmittelbar vor Schulbeginn gefragt wurde ob Sie denn nicht gleich ihre erste Arbeitsstelle als Englischlehrerin antreten will. Sie sagte „Ja“ und so betrat Maria Rauch-Kallat vor 52 Jahren mit 18 Jahren als Lehrkraft das Klassenzimmer, ihr ältester Schüler war 16 Jahre alt und das 1. Schuljahr war wenig überraschend sehr hart für Sie. Sie kämpfte sich durch und es folgte eine lange berufliche Laufbahn als Lehrerin, in der Sie zahlreiche Fächer in der Schule unterrichtete. Eines Ihrer Fächer war z.B. auch Russisch, das sie selbst bereits mit 7 Jahren in der Schule erlernt hatte.

Die junge Lehrerin ruhte sich aber nicht auf ihrer Arbeitsstelle aus, sondern absolvierte rasch alle notwendigen Aus- & Fortbildungen um auch regelkonform als Pädagogin unterrichten zu können. Sie erinnert sich dabei u.a. wie sie Ihre 100 Seiten lange Diplomarbeit noch mit der Hand geschrieben hat. Heute ist das sehr schwer vorstellbar, doch sie war mit der Hand einfach schneller als mit einer russischen Schreibmaschine.

Ihre familiären Wurzeln mütterlicherseits liegen im Burgenland, denn ihre Mutter (Jahrgang 1913) war burgenländische Kroatin. Ihre Mutter hat Ihr die kroatische Muttersprache nicht mitgegeben, was Maria Rauch-Kallat heute sehr bedauert. In ihrer eigenen Familie war die junge Mutter bald gefordert, denn eine Ihre beiden Töchter ist im Alter von 4 Jahren weitgehend erblindet. Zu dieser Zeit gab es nur 3 Berufe, die blinde Menschen ergreifen konnten: Bürstenbinder, Stenotypist/Telefonist & Masseur, auf die Uni studieren gehen war z. B. überhaupt nicht vorgesehen. Sie hat sich dann sehr um Ihre Tochter gekümmert und Ihr sehr geholfen mit Ihrer Sehbehinderung umzugehen, so hat sie für sie z. B. alle ihre Schulbücher mit Filzschrift abgeschrieben. Rasch stellte Rauch-Kallat dabei fest, dass das System Schule mit einem sehbehinderten Kind nicht so umging wie sie es sich gewünscht hätte. Als Lehrerin kannte sie das System Schule und konnte sich daher wehren, es war aber immer ein Kampf mit Direktoren, Lehrern und Schulaufsichtsbehörden. Sie erinnert sich z. B. wie sie dem Schulapparat erfolgreich technische Hilfsmittel, die Blinden den Schulbesuch erleichterten, abgerungen hat und sie selbst lernte als Sehende die Blindenschrift Braille, die von Blinden und stark Sehbehinderten benutzt wird.

Der entscheidende Punkt in Ihrem Einsatz für Ihre Tochter war für Maria Rauch-Kallat, dass sie wollte, dass ihr blindes Kind genauso aufwachsen können sollte wie alle sehenden Kinder auch. Sie wollte, dass Ihre Tochter mit anderen Kindern spielen konnte und sie ist stolz darauf, dass sie sich durchgekämpft haben. Die engagierte Mutter und Lehrerin erreichte Ihr Ziel und Ihre Tochter lebt seit vielen Jahren ein selbstbestimmtes und ziemlich normales Leben. Eine Ironie der Geschichte ist wohl, dass Ihre Tochter dann später selbst Lehrerin wurde.

Rauch-Kallat hält fest, dass alles was sie im System Schule erkämpft hat für Ihre Tochter selbst aber zu spät kam. Für sie war in ihrer späteren politischen Arbeit daher immer wichtig, dass sie eine Generation von blinden Menschen sehen wollte, die sich selbst politisch vertreten können. Mit dem Einzug von Dr. Franz-Joseph Huainigg als Behindertenvertreter und Abgeordneter in den ÖVP-Klub sah sie diese Mission 2002 als erfolgreich abgeschlossen an.

Sie bekennt, daß sie selbst in ihren 20ern ein unpolitischer Mensch war. Aus heutiger Sicht sieht sie eine Reise nach Deutschland in den Hartz, die Ihr der legendäre christdemokratische Beamtengewerkschafter Fritz Neugebauer ermöglicht hat, bei der sie u.a. auf Eltern sehbehinderter Kinder aus Deutschland traf, die sich organisiert hatten um gegenüber der Politik für die Anliegen Behinderter zu kämpfen, als Schlüsselerlebnis für ihre eigene Politisierung an.

Maria Rauch-Kallat hat von 1983 bis 1992 als Landesgeschäftsführerin des Sozialen Hilfswerks in Wien gearbeitet und sich dabei stark für soziale Themen engagiert. Die langjährige Politikerin der ÖVP sieht sich selbst als Christdemokratin und für sie ist klar, dass Konservative natürlich sehr wohl sozial sein können und sie erinnert in diesem Zusammenhang an Hildegard Burjan, der Gründerin des allerersten Mutter-Kind-Heimes und der Bahnhofsmission, die auch die erste weibliche Abgeordneten der Christlichsozialen Partei in der Ersten Republik war. Leider war Burjans Partei aber auch antisemitisch, weswegen Sie als konvertiere Jüdin auch nur eine Periode im Parlament war, vom politischen Gegner wurde Burjan das Gewissen des Parlaments genannt.

Zum Aufstieg rechter Kräfte am Beispiel der AfD in Ostdeutschland befragt bekennt sie, dass man im Wissen um die deutsche Geschichte gar nicht genug aufpassen könne. Maria Rauch-Kallat, die einen sehr ähnlichen Karriereverlauf wie Angela Merkel hatte, war zeitgleich mit Merkel Jugendministerin, dann Umweltministerin und Generalsekretärin und hatte stets einen sehr guten Kontakt zur späteren deutschen Kanzlerin.  Sie erklärt, dass sie 2015 sehr stolz auf Angela Merkel war, als diese bereit war die Flüchtlinge vom Bahnhof in Budapest aufzunehmen. Merkels weltberühmter Satz „Wir schaffen das“ wurde aber weltweit als Einladung an Migranten empfunden nach Deutschland zu kommen und dass diese Entwicklung dann nicht politisch geblockt wurde war der historische Fehler, denn damit wurden auch Kräfte ins Land geholt die ganz andere Absichten hatten und das war dann Munition für all jene, die fremdenfeindlich sind, merkt Rauch-Kallat kritisch an.

Auf die Frage was man unternehmen könne, um das Erstarken rechtsextremer Kräfte zu verhindern, erinnert sie an den früheren österreichischen Bundeskanzler Dr. Wolfgang Schüssel, der ihr informell immer wieder gesagt, dass die schlecht ausgebildeten 14 Jährigen Burschen unser gesellschaftliches Problem sind, da sie für Radikalisierung leichter empfänglich sind. Für Rauch-Kallat ist das Erstarken rechtsextremer politischer Kräfte daher damals wie heute auf ein Verlierersyndrom zurückzuführen („Es ist immer noch ein Verlierersyndrom“). Damit beschreibt sie eine Gruppe von Menschen, die das Gefühl haben, dass Sie immer benachteiligt sind und die aus diesem Rad auch nicht herauskommen. Es handelt sich dabei um ein sehr männliches Phänomen. Warum besser gebildete Personen rechtes Gedankengut vertreten ist Ihr schleierhaft und in diesem Zusammenhang erinnert Sie an den 2008 verstorbenen ehemaligen FPÖ-Chef Dr. Jörg Haider, der ein hochbegabter Politiker war, dessen Charakter mit seiner Begabung aber nicht Schritt gehalten hat.  

Wie das konservative Lager mit denen umgehen sollte, die sich unwohl fühlen, beantwortet sie mit: Bildung, Bildung, Bildung. Es ist extrem wichtig die Jugend in den Arbeitsprozess einzubinden und der Jugend zu helfen, dass Sie Ihren Platz in der Gesellschaft findet, denn jede/r will zu einer Gruppe dazugehören. Man darf Jugendliche daher nicht denen überlassen, die Hass schüren, egal ob dies die AfD ist oder der IS, denn es schließen sich jene bei radikalen Gruppen an, weil sie ansonsten in keiner anderen Gruppe unterkommen. Sie erinnert dabei auch an den enormen Bedeutungsverlust der Jugendbewegungen, sie selbst kommt aus der katholischen Jugend und für sie war ein Urlaub mit der katholischen Jugend ein Erlebnis, die jetzige Generation hat aber unzählige andere Angebote und kaum mehr Jugendgruppenangebote. Daher muss man sich auch als Elternteil bemühen zu schauen was die eigenen Kinder machen. Sie selbst hat daher immer sehr genau geschaut in welchen Gruppen sich Ihre Kinder bewegt haben, denn es gibt eine wirklich gefährliche Zeit in der Jugend, in der die Eltern sich um die Jugendlichen kümmern sollten.

Der passende Umgang mit dem allgegenwärtigen Smartphone, das für viele Jugendliche unersetzlich geworden ist, ist eine Gratwanderung. Die ehemalige Familienministerin hofft, dass Jugendliche sich durch allzu intensive Nutzung des Smartphones in der realen Welt nicht in Isolation wiederfinden und sieht auch bei diesem Thema eine große Verantwortung der Eltern. Eine strikte zeitliche Begrenzung bei der Nutzung des Smartphones, die durch die Eltern auch kontrolliert wird, ist eine Form damit umzugehen. Sie selbst ist froh, dass sie in relativ kurzer Zeit über das Smartphone und Social Media viele Menschen erreichen kann, ihr ist aber ebenso wichtig, dass sie sich immer wieder eine digitale Auszeit nimmt und sie bekräftigt, dass es im Leben immer um reale menschliche Beziehungen geht.  

Auf die Frage wie man die Ungleichheiten in der Gesellschaft aus Ihrer Sicht lösen kann erklärt Maria Rauch-Kallat, dass die soziale Marktwirtschaft Österreich einen langen sozialen Frieden und sehr geringe Streikzeiten durch den Ausgleich der Interessen zwischen den Arbeitgebern und den Arbeitnehmern beschert hat, denn alle sitzen in einem Boot und sollten wechselseitig aufeinander schauen. Dieses österreichische Modell hatte lediglich den Nachteil, dass es in der Bevölkerung das Gefühl gab, dass gepackelt wird.

Für Rauch-Kallat ist klar, dass die Marktwirtschaft für sich allein gesehen einen Raubbau der Ressourcen betreibt. Daher war es sehr wichtig, dass neben dem bereits etablierten sozialen Gedanken, der zur sozialen Marktwirtschaft geführt hat, auch der ökologische Gedanke, der in den 80er Jahren dazu gekommen ist und der u.a. darauf achtet ressourcenschonend zu arbeiten, berücksichtigt wird. Sie erinnert in diesem Zusammenhang daher an das Konzept der ökosozialen Marktwirtschaft, dass der ehemalige ÖVP-Bundesparteiobmann Josef Riegler Ende der 1980er Jahre entwickelt hat, in dem es genau darum ging. Das war eine Idee, die damals aber leider niemand verstanden hat, und mit der Riegler zumindest ein Jahrzehnt zu früh dran war und mit dem er 1990 auch die Nationalratswahl verloren hat. Heute aber zeigt sich wie man u.a. an der weltweiten Umweltbewegung sieht, dass die ökosoziale Marktwirtschaft als Idee Ihrer Zeit weit voraus war und sie selbst sieht sich in dieser Tradition stehend.

Die ehemalige Umweltministerin erklärt, dass die beste Entsorgung die Müllvermeidung ist und dass es Jahre gedauert hat der Wirtschaft klar zu machen, dass sie sparen, wenn Sie weniger Abfall produzieren. Das hat man erst gelernt als die Abfallentsorgung kostenpflichtig war, denn je weniger ich einsetze desto weniger muss ich entsorgen. Darauf beruht die Verpackungsverordnung, die Mülltrennung und sie erinnert an die Erfolgsgeschichte von 25 Jahren ARA und dass wir Österreicher Weltmeister im Altpapier und im Altglas sammeln sind.

Politisch gehörte Maria Rauch-Kallat dem grün-liberalen Flügel rund um den ehemaligen Vizekanzler Dr. Erhard Busek an, die man die bunten Vögel nannte, und sie erzählt, dass es beginnend in den späten 70ern über viele Jahre einen Richtungsstreit in der ÖVP gegeben hat zwischen einer erzkonservativen Gruppe, die man die Stahlhelmpartie genannt hat, deren bekanntester Vertreter der ehemalige Verteidigungsminister Dr. Robert Lichal war und eben den bunten Vögeln rund um Erhard Busek. Diese grün-liberale Gruppe ist in der Hainburger Au gesessen und hat die Dissidenten in den kommunistischen Nachbarländern selbst aktiv unterstützt und innerhalb der bunten Vögel gab es vor allem zwischen den Wienern um Dr. Erhard Busek und den Steirern um Dr. Josef Krainer eine Ökoachse.

Ein Bedingungsloses Grundeinkommen (BGE) hält Maria Rauch-Kallat nicht für gut. Sie ist sehr dafür, dass allen, die wirklich in Not sind, geholfen wird, dass es ein soziales Netz gibt, aber das soziale Netz darf keine Hängematte werden, denn ein geregelter Tagesablauf und eine sinnvolle Beschäftigung, die eine Arbeitsstelle mit sich bringt, sind wichtig. Es gibt so viel zu tun, z. B. bei alten Menschen, in der Pflege und im sozialen Bereich und gerade das nichts tun ist noch viel gefährlicher, um in die Radikalisierung zu kommen, als eine geregelte Beschäftigung. Das BGE würde diese gesellschaftliche Situation aus Ihrer Sicht daher verschärfen, da es eben dazu verleitet nicht arbeiten zu gehen.

Für sie sind die obersten Prämissen keine Planwirtschaft, Demokratie und Freiheit und man muss von global wieder auf regional und lokal umsteigen. Mit dem Begriff konservativ hat sie sich nie so ganz anfreunden können, sich selbst sieht sie als christdemokratisch bzw. als Christdemokratin. In ihrer Partei wird sie nach wie vor als kritische Stimme gehört, was sie stört sagt sie aber denen, die es betrifft, und richtet nichts über die Medien aus, denn sie hat sich in ihrer aktiven politischen Zeit sehr über die Balkonmuppets geärgert, die ihr sagen wie es geht und sie hat sich daher vorgenommen kein Muppet zu werden. Immer wenn sie bei einer Interviewanfrage schon spürt das ist eine Muppetsanfrage lehnt sie daher das Interview ab.

Zur neuen Volkspartei befragt erklärt sie, dass sie fasziniert war wie professionell diese Truppe gearbeitet hat. Sie kennt die aktuelle Führung der türkisen ÖVP seit diese 15-16 Jahre alt sind, so wie sie auch viele aktuelle Politiker der NEOS kennt, da einige aus den Reihen der ÖVP kamen. Sie hat 2013 auch verstanden warum diese die NEOS gegründet haben und fand das gar nicht so schlimm. Ihren türkisenen Parteifreunden gegenüber drückt sie Hochachtung dafür aus wie professionell die Machtübernahme in der ÖVP gemanaged wurde. Sie selbst hat sich in Ihrer Zeit als ÖVP-Generalsekretärin oft wie ein Hirtenhund gefühlt, der immer rund um die Herde läuft und alle, die ein bisschen ausgrasen wollen, wieder zurückholt.

Die aktuelle Führungsmannschaft der ÖVP ist für sie eine junge begabte Truppe, die ernsthaft ist und nicht machtgierig sind und die das was sie machen können, denn sie haben eineinhalb Jahre wirklich gut regiert. Aus Ihrer eigenen politischen Erfahrung erzählt sie, dass es wesentlich leichter in der Zusammenarbeit für sie bei schwarz-blauen als in rot-schwarzen Regierungen war, da sich ÖVP und FPÖ ideologisch wesentlich näher sind.  

Zur Rolle des Adels in Österreich befragt erklärt sie, dass die Deutschen den Adeligen den Titel gelassen haben und dass die Adelstitel Teil der österreichischen Geschichte sind, der Tourismus macht gute Geschäfte damit. Es gibt einige wenige reiche Adelige und sehr viele arme Adelige, denn ein Schloss ist zwar ein Besitz, aber auch eine Riesenbelastung, denn wenn nicht ausreichend Grund dabei ist kann man das Schloss wirtschaftlich kaum erhalten.

Maria Rauch ist wahnsinnig dankbar in eine Zeit geboren worden zu sein in der es immer bergauf gegangen ist. Jetzt hat sie das Gefühl, dass es uns sehr gut geht und dass wir auf sehr hohem Niveau jammern, sie ist sich aber nicht sicher ob es Ihren Enkelkindern auch noch so gut gehen wird. Sie hat aufgrund Ihrer Arbeit für das soziale Hilfswerk in den 90er Jahren die allerersten Flüchtlinge aus Kroatien übernommen und für sie hat die Haltung des Friedens oberste Priorität. Man muss dankbar sein, dass wir das nicht erleben mussten und sie will daher mit aller Kraft am Friedensprojekt Europa weiterarbeiten, damit der Friede auch in Zukunft gewahrt bleibt.

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Maria Rauch-Kallat Wolfgang Müller CC BY SA 4.0
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