Prometheus‘ Trost

Soziales

Oder: Warum wir Menschen trotz allem eine Zukunft verdienen …

Prometheus, Titan, der Vorausdenkende, Freund und Kulturbringer der Menschen – wofür ihn Göttervater Zeus grausamst leiden lässt …

Auch wenn einem trotz aller Widrigkeiten die Menschen noch lieb sind, mag es schon vorkommen, dass man im täglichen Umgang mit ihnen den Mut und die Hoffnung verliert. In solchen Momenten kann es hilfreich sein, Inspiration und Kraft bei jenen zu finden, die trotz schwierigster Umstände unbeirrt voranschreiten – eine helfende Hand ausgestreckt, mit einem Lächeln auf den Lippen. Es gibt sie überall. Hier möchte ich mich an einige erinnern, denen ich begegnen durfte, und meine Dankbarkeit mit Euch teilen.

Erinnerung an einen meiner Helden

In den Resten Roms und in den Kolonien seiner Kinder schrieb man das Jahr 1990. Der Sommermonsun war in der Phase des Rückzugs, und der Rest unserer kleinen Gruppe hatte erst unlängst das besetzte Lhasa in einer Regierungsmaschine Richtung Südosten verlassen. Es war, bis auf den epileptischen Anfall eines Mitreisenden (just über der Spitze des Chomolungma) und das sonore Singen der Rotoren, komplett still in der Maschine. Wohl hatte die lange Reise von einem zum anderen Ende des unter Kriegsrecht stehenden Tibet seinen Tribut gefordert.

Wo Mönche brennen, schläft man schlecht – und über 5000 Metern ohnehin.

Ich hatte mir schon Monate vor der Abreise in London gewünscht, auf unserem Weg zu den Andamanen einen Zwischenstopp in Kalkutta einlegen zu können, und jetzt, nachdem ich in einem von den Chinesen noch nicht infiltrierten Bergkloster die unverhüllte Kalika sehen durfte, musste ich einfach hin, in ihre Stadt. Alan, mein Reisekamerad, war 1964 auf dem Weg nach Burma schon einmal dort gewesen, und von der Idee, ‚Urlaub‘ in Kalkutta zu machen, wenig begeistert.

Doch Alan, die gute Seele, ergab sich meinem naiven Enthusiasmus, und nach den üblichen Hürden die der improvisierend Reisende zu lösen hat, landeten wir um fünf Uhr morgens in Kalikata, in der Stadt, deren Namen das ‚Schwarze Tor‘ bedeutet. Alan hatte unterwegs auf seine mir oft rätselhafte Art und Weise ein Zimmer im kolonialen Fairlawn Hotel gebucht. Er war offensichtlich des Schlafens auf lehmigen Böden, der dreckigen Waschschüsseln, und der Hock-Toiletten müde … und nun mussten wir nur noch vom Flughafen in die Sudder Street kommen.

Als wir mehr oder minder allein aus dem Gebäude traten, stockte mir völlig der Atem. Nach den ersten Tagen in Delhi, der endlosen Reise in öffentlichen Bussen durch den Norden nach Pokhara, und darüber hinaus kreuz und quer durch Nordindien, zu Fuß über die Grenze nach Tibet usw., hatte ich gedacht, der Kontinent könnte mich nicht mehr erschüttern.

Aber da war … die Luft, zusammengebraut aus allen organischen Materialien dieser, und anderer, ganz unbekannter Welten, in der ich mit den Armen rudernd glaubte schwimmen zu müssen.

Das rotorange Morgenlicht, diffus in Schlieren wabernd, stach in den Augen, und durch Tränen sah ich vage, und doch viel zu klar dunkle Silhouetten … unzählige Gestalten auf Krücken, nutzlose Glieder nachschleifend, auf dem Boden kriechend, Hände in unsere Richtung gestreckt, auf Bauzäunen hängend, einer auf den Schultern des anderen, und auf dessen Schultern wieder einer, und wieder, die hohen Zäune sich biegend unter der Menschenlast …

… riesige, dunkle, flehende Augen in ausgezehrten Gesichtern, stöhnendes Murmeln … und doch war es so frühmorgendlich still.

Ein geschäftstüchtiger Taxifahrer boxte seine Kollegen und Scharen des restlichen Willkommens Komitees zur Seite, stieß uns in sein schon damals historisch wertvolles Gefährt, und fuhr ohne Rücksicht mitten durch die gegen das Fahrzeug brandende Masse. Alan hatte sein Gesicht in den Händen vergraben und verblieb die gesamte schmerzvoll langsame Fahrt schwer atmend und zusammengekrümmt sitzen.

Am offenen Fenster zog die Stadt meiner Träume vorbei. Mensch an Mensch an den Rändern und in den Gräben der Straße, winzige Feuer alle paar Meter, einige mit zerbeulten Kesseln auf mit Dung gefütterter Glut, Familien mit vielen kleinen Kindern, Babys, direkt am Asphalt liegend, wilde Hunde, auf Kilometern dicht gedrängt, manche eben erwachend, andere in ihren Lumpen noch ausgestreckt im Schlaf.

In der Mitte einer Kreuzung irgendwo entlang des Weges in die innere Stadt erhob sich ein verrottender Haufen Müll. Darauf stand eine Kuh, die fraß, und auf ihr eine Krähe, die mit dem Schnabel aus dem knochendürren Rücken des heiligen Tiers Stücke riss … mir war, als sähen sie mich alle an.

… Die Teiche, versteckte Gärten, Blumenmärkte, Straßen ausschließlich für den Verkauf von Tee, buntes Spielzeug, Geschirr, grün und schwarz bemalte Huren, Götterbildhauer, koloniale Architektur, der Hafen, Fahrräder und bei Hand gezogene Rikschas, Saris, Räucherwerk, Hupen, Klingeln, Jute, Tempel, der Fluss, Tagore, die Avantgarde, die Züge, das Delta … Tage des Wanderns, Äonen des Staunens, und irgendwie Zuhause.

Eines Tages hatten uns ein aus dem British Raj übriggebliebener General und seine Entourage zum Brunch geladen. Gang für Gang, Glas für Glas beobachtete ich in schwebendem Rausch den lautlosen Tanz der Diener in ihren strahlend weißen Uniformen, Handschuhen, Turbanen (mit kleiner Pfauenfeder über der Stirn), wie sie die tatsächlich silbernen Teller elegant durch den lauschigen Innenhof jonglierten, und es wurde mir übel.

Ich lief hinaus, und als ich vor dem Haus stand, nicht wissend wohin, traf mich der Blick eines Mannes. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite lag er, auf dem Spanholzboden einer Obstkiste, an deren vier Ecken die Rollen eines Einkaufswagens angebracht waren. Es fehlten dem Mann beide Beine bis zum Becken, es fehlten ihm beide Arme bis zum Schlüsselbein, in seinem zahnlosen Mund hielt er eine hölzerne Bettelschale fest.

In Panik drehte ich nach rechts und ging schnellen Schrittes mitten ins Gewusel der geschäftigen Massen, um eine Ecke, um noch eine, und … da lag er jetzt direkt vor mir, unter mir. Unsere Augen hielten sich fest, ich überwand irgendwie die Schockstarre, und drehte instinktiv die Taschen meines Kurta um, ich hatte nichts bei mir. Keine Rupie, kein Krümel Essbares, kein Stück von irgendetwas, nichts.

Er erkannte klar, wie ich mich entschuldigend herumwand und mich schämte. Da ließ er die Bettelschale auf die Brust fallen, zog die Stummelschultern zu einem lässigen Zucken hoch und schenkte mir ein Lächeln so breit und offen, dass ich mit ihm lachen musste. Dann nahm er die Schale wieder auf, lehnte sich auf die Seite, stieß sich mit Schulterblatt und Rücken vom Asphalt ab, und rollte auf seiner Obstkiste pfeilschnell durch die Beine der Passanten davon …

Credits

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kumbh_mela2001 Yosarian CC BY 3.0

Diskussion (3 Kommentare)

  1. Für ein paar stickige Atemzüge lang war ich selbst wieder in Kalkutta, danke 😉 Schön geschrieben, ich freue mich auf mehr!

    1. danke, amigo!

  2. Wunderschõn.