Rezension: „Die Geschichte der Demokratie“ von Luciano Canfora

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Ich habe mich in letzter Zeit mit einem Buch befasst, dessen Titel „Die Geschichte der Demokratie“ lautet. Der italienische Altphilologe Luciano Canfora machte sich mit diesem Buch zu einem interdisziplinären Ausflug auf. Los geht’s!

Dargestellt wird auf fast 400 Seiten eine Katastrophe: Demokratie wurde in der Menschheitsgeschichte noch nie in einer authentischen Form umgesetzt. Als Regierungsform und als Verfassungstyp sei Demokratie nicht aufzufassen, andeutungsweise wird von einer politisch und wirtschaftlich komplexen Gesellschaft gesprochen oder auch von einer Umsetzung konkreter antifaschistischer Überzeugungen in Verfassungsnormen. Die besitzlosen Klassen müssten dabei durch Erringung stets neuer Rechte ihre Interessen durchsetzen können.

Das anscheinende Fehlschlagen der Demokratie führt der Autor mithilfe eines Exkurses durch die letzten tausend Jahre und die Darbringung unterschiedlicher Ursachen aus. Zum einen seien es intrinsische Neigungen, etwa die verwirrende Verwandtschaft der Demokratie zum Bonapartismus und Faschismus oder das verhängnisvolle Bündnis  im 5. Jahrhundert vor Christus zwischen Proletariern und Kapitalisten mit dem Ziel, eine imperialistische Außenpolitik Athens zu betreiben.

Zum anderen gab es auch Angriffe von außen: Aufgrund von Restriktionen des Wähler-Rechts in den 200 Jahren nach der Französischen Revolution sei es nach und nach dazu gekommen, das Paradigma, dass sich der Volkswille artikulieren müsse, in eine Fata Morgana für Gutgläubige zu verwandeln. Nachdem im 20. Jahrhundert die liberalen Demokratien im Endeffekt den Triumph davongetragen hatten, habe sich eine kapitalstarke Elite, bestehend aus Ober- und Mittelschicht, durchgesetzt, die ihre Freiheit immer rückhaltloser ausübe.

Die gewählten Organe seien laut diesem Buch nur noch schmückende Ornamente dieser Minderheit. Wahlen seien zur Farce verkümmert, Grundlegendes würde woanders entschieden. Das allgemeine Wahlrecht sei heutzutage nahezu verschwunden. Trotz dieser Entwicklungen habe es das westliche Lager verstanden, den Begriff Demokratie völlig für sich in Anspruch zu nehmen, während man gleichzeitig im Kampf gegen den Kommunismus zu allem bereit gewesen sei, auch zum Einsatz illegaler staatlicher Apparate.

Dass wir Athens Demokratie gelegentlich als Ursprung der modernen Demokratie bezeichnen, hält der Verfasser für eine Verblendung. Diskrepanzen würden dadurch überdeckt. Das zeige schon der gewalthaltige Charakter des antiken Demokratie-Begriffs: „kratos“ wird als Übermacht verstanden. Eine Ausübung von Macht, welche auf Gewalt gestützt ist, leite sich schon vom Wort her ab. Freiheit stehe in der Realität im Gegensatz zur Demokratie; daneben sei dann allerdings eine ideologische Vorstellung mit lange nachwirkenden Konsequenzen entwickelt worden, das antike Griechenland setzte Freiheit und Demokratie gleich.

Canfora rückt die Verbindung zwischen Wehrfähigkeit und Bürgeridentität in den altgriechischen Stadtstaaten ins Licht. Nur die Gemeinschaft bewaffneter männlicher Bürger besaß die politischen Rechte, und damit konnte nur eine Minderheit als frei und gleich verstanden werden, nur sie herrschte. Die altgriechische Demokratie könne daher nicht als Regentschaft für die Masse angesehen werden, vielmehr sei hier die Führung durch ein Konglomerat finanziell Begünstigter übernommen worden, die dieses System unter sich akzeptierten.

Diese Wohlhabenden hätten dann zu jedem beliebigen Zeitpunkt einen Teil des Prekariats auf ihre Seite bringen können, um in der Volksversammlung die Mehrheit zu gewinnen. Eine Grundfeste der Stabilisierung in diesem Bündnis zwischen den Armen und den Reichen hätten die Leiturgien gebildet. Wenn die Herren sich großen, sozialen Ballast aufpacken ließen, durften sie reich bleiben. Die Beziehungen zwischen den Schichten bei den alten Griechen seien aber nie völlig ohne Konflikte und Unbeständigkeit gewesen.

In Canforas Darlegungen folgt ein radikaler Bruch, in zweifacher Hinsicht. Zum einen zeitlich: Nachdem er die Revolutionen in England und die Gründung der USA sehr kurz abgehandelt hat, wendet er sich der Französischen Revolution zu. Dieser Sprung über zweitausend Jahre ist schade. Gab es in der ganzen Zeit nichts, was man heute als demokratisch ansehen kann? Keine Auseinandersetzungen in der Römischen Republik, die Canfora als Althistoriker interessieren könnten?

Einen Bruch bedeutet dies auch für die Betrachtungsweise.

Bezogen auf Athen war Demokratie ein deskriptiver Begriff. Für die letzten gut zweihundert Jahre hingegen wandelt Canfora Demokratie zum normativen Begriff um.

Dieser Perspektivwechsel lässt sich inhaltlich begründen. Im har 1794 schaffte der jakobinisch dominierte französische Nationalkonvent die Sklaverei ab, woran die liberalen angelsächsischen Revolutionäre nie interessiert waren. Napoleon sollte als Exponent des Großbürgertums die Entscheidung rückgängig machen. Das Wahlrecht im 19. Jahrhundert wirkte insofern illusionsfördernd, als durch Geschlecht und Besitz fast überall die Mehrheit der Bewohner ausgeschlossen war.

Breiten Raum widmet Canfora der Niederlage der demokratischen Kräfte Anfang des Ersten Weltkriegs. In Deutschland misslang 1918 der Versuch, daraus Konsequenzen zu ziehen, die Mehrheits-SPD zerschlug im Bündnis mit liberalen und präfaschistischen Kräften die revolutionären Ansätze. Besser vorbereitet waren die russischen Sozialisten, die ohnehin durch die gröbere zaristische Herrschaft die Versuchungen parlamentarischer Teilhabe nicht kannten. Sie führten erfolgreich eine Revolution durch, die, der geläufigen totalitären Sicht entgegen, für Canfora auch da noch Orientierungspunkt demokratischer Kräfte bleibt, wo Stalin und seine Nachfolger entscheidende Fehler begingen.

Canfora kann nicht nur nachweisen, welche Sympathie und Unterstützung Mussolini und Hitler bei liberalen Politikern fanden, deren Namen heute einen guten Klang haben. Er zeigt auch auf, dass das formale allgemeine Wahlrecht allein keine demokratische Entwicklung garantiert. Faschistische Parteien konnten mit Unterstützung der Besitzenden politisch stark werden, linke Gruppierungen gegen die Reichen aber kaum.

Die westlich-sowjetische Allianz von 1941 an erscheint Canfora dagegen als Chance zum Besseren, wie auch der politische Neuanfang in manchen europäischen Ländern 1945, insbesondere in Italien und Frankreich. Deutlich wird aber auch, wie demokratische Ansätze wieder zurückgedrängt wurden. Insgesamt sieht Canfora Europa auf dem Weg zu einem gemischten System:

Einerseits steht weiterhin ein Parlamentarismus, wobei durch die Ausgestaltung des Wahlrechts Teilen der Bevölkerung eine Vertretung verwehrt wird – am offensichtlichsten durch ein Mehrheitswahlrecht, aber auch bei einem Verhältniswahlrecht wie in Deutschland z.B. durch die Fünf-Prozent-Klausel. Dazu kommt, dass immer mehr Regelungskompetenzen an übernationale, liberal dominierte Organisationen abgegeben werden, mit all den Vertragswerken, die mittlerweile als naturgegeben und nicht als von Menschen gemacht erscheinen. Auf der anderen Seite steht die Propagandamacht der Elite, besonders der Eigentümer von Fernsehsendern. Hier spielt die unmittelbare politische Beeinflussung noch die geringere Rolle, verglichen mit dem Lob der Warenwelt.

Das Buch schließt hier mit der Hoffnung, dass die Demokratie sich in Europa weiterentwickeln wird und man dies nicht anderen Ländern überlässt. Ein sehr europäischer Schlusssatz.

Insgesamt bewerte ich dieses Buch als sehr wichtig, da man sieht, aus welchen Einflüssen unser derzeitiges politisches System sich im Groben zusammensetzt. Mit der Perspektive des Autors bin ich nicht immer d’accord, und doch hat der Altphilologe solides Fachwissen sinnvoll aufbereitet und mir Neues über unsere politische Kultur vermittelt. Um etwas konstruktiv zu verändern, muss man zuerst feststellen, was bisher nicht funktioniert hat, und hier kann uns die Geschichte wertvolle Lehrstunden erteilen.

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