Solidarität – Befunde und Visionen

Lebenswelten

In der BSA-Diskussionsrunde mit der Soziologin Carina Altreiter, der Politikwissenschafterin Barbara Prainsack und der Politikwissenchafterin und Autorin Natascha Strobl unter Leitung des Politikwissenschafters Mag. Andreas Holzer geht es um aktuelle Befunde und Visionen für eine solidarische Zukunft.

Zu Beginn definiert Barbara Prainsack auf Basis westlicher Forschungsergebnisse den Solidaritätsbegriff. Dieser ist durch drei Faktoren gekennzeichnet, nämlich durch eine pro-soziale Praxis in Form von Unterstützung und Beistand, durch ein „followship of equal“, also eine Form von Gemeinsamkeit mit einem Innen und Außen und Solidarität erschöpft sich nicht in einzelnen Interaktionen sondern ist immer bezogen auf die Gemeinschaft.

Carina Altreiter ergänzt, dass dabei zumindest hypothetisch der Gedanke da ist, dass man einander auf Augenhöhe unterstützt, was wichtig im Bezug auf eine Abgrenzung zu Charity ist. Solidarität muss nicht immer emanzipatorisch-links sein, sie kann auch völkisch bzw. exkludierend sein.

Im Rahmen ihrer und anderer Forschungen hat sich herausgestellt, dass es im Zusammenhang mit Krisen bestimmte Muster gibt. Anfangs zum Beispiel die Unterstützung für die Machthabenden bzw. ein generelles engeres Zusammenrücken, also einen Anstieg der Solidaritätsbereitschaft, die man auch inklusive Solidarität nennt. Bei längeren Krisen folgt augenscheinlich ein „Solidaritätsschwund“, allerdings verschwindet Solidarität nicht wirklich, sondern sie verändert nur Form und Gesicht und entwickelt sich hin zu einer Solidarität in kleineren Gruppen, einer exklusiven Solidarität. Für Österreich hat sich in der Corona-Krise der Wunsch nach institutionalisierter Solidarität ergeben. Gewünscht wurden ökonomische Ressourcen, um anderen zu helfen und eine gerechtere Verteilung von Lasten und Pflichten, etwa durch vermögensbezogene Steuern oder ein bedingunsloses Grundeinkommen. Dieser Wunsch wurde auch von jenen geäußert, die nicht unmittelbar davon profitieren. Scham ist ein Instrument des Neoliberalismus und wird als politisches Mittel eingesetzt, das vereinzelt und entsolidarisiert. In das dadurch entstehende Vakuum tritt eine völkisch rechtspopulistische Sichtweise ein, die nichts mit Solidarität zu tun hat.

In der Betrachtung der letzten 40 Jahre im Hinblick auf Politik und Gesellschaft erkennt Natascha Strobl, dass Solidarität aus der Mode gekommen ist und die Eigenverantwortung stark betont wird. Jeder schafft sich sein eigenes Glück, es herrscht ein permanenter Konkurrenzkampf nicht nur beruflich, sondern auch privat und im Hinblick auf soziale Kontakte. Das bildet sich gut in den sozialen Medien ab, die ein Instrument der Selbstvermarktung sind. Begründet ist dies in der Durchsetzung des Neoliberalismus, dessen Ideen auch in den Bildungsbereich eingedrungen sind. Durch den Backlash von rechts mit Ende der 80er-Jahre wird eine Form von kollektivem Zusammensein geboten, das sie aber nicht als Solidarität bezeichnen würde. Aktuell fehlt ein dritter Pol, der wirkliche Solidarität ausdrückt, dieser muss sich aber erst bilden.

Natascha Strobl betont, dass man in den aktuellen Krisen zwei Richtungen der Bewältigung erkennen kann: die eine, die davon ausgeht, dass alles wieder so gut wird wie früher, die andere, die meint, dass es anders werden wird. Diese Spaltungslinie ist nicht nur zwischen Parteien sondern auch innerhalb der Parteien zu sehen. Linke Parteien haben ein strukturkonservatives Element, daher sind sie nicht dabei, solidarische Zukunftsmodelle zu entwickeln. Diese politischen Antworten fehlen, der Begriff wird inhaltsleer vor sich hergetragen, es ist nicht klar, wer und was gemeint ist.

Carina Altreiter sieht eine Entsolidarisierung der herrschenden Klassen mit dem Solidarsystem der Gesellschaft, das zeigt sich etwa bei sozial- und arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen und im Diskurs, dass Menschen, die das Sozialsystem in Anspruch nehmen, stigmatisiert werden. Damit werden Sozialleistungen nicht mehr in Anspruch genommen und unsolidarisches Verhalten gefördert, das ist dem sozialen Zusammenhalt abträglich.

Im Weiteren wird darauf eingegangen, welche Diskurse, Maßnahmen und Rahmenbedingungen notwendig sind, um Solidarität zu fördern.

Für Carina Altreiter geht es um eine Umdefinierung des Leistungsbegriffs und eine Stärkung des Bedarfsprinzips. Zudem muss die Gleichheitsperspektive gestärkt, und das Verbindende in den Vordergrund gestellt werden, es braucht Begegnungsräume zwischen den Klassen.

Barbara Prainsack wünscht sich ein Vorverteilen, so dass sich bestimmte Ungleichheiten gar nicht erst manifestieren.

Natascha Strobl hält eine Stärkung des universellen Solidaritätsgedanken in allen Lebensbereichen für wesentlich.

Im Anschluss folgt eine Publikumsdiskussion zu den angesprochenen Themen und den Sichtweisen der Podiumsteilnehmerinnen.

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BSA – Solidarität-YOUTUBE-IPHP Wolfgang Müller CC BY SA 4.0