Spiritualität und Rationalität – eine erste Näherung

Armenisches Unendlichkeitszeichen
Gesellschaft

Spiritualität ist ein weites Thema, ein Menschheitsthema, das eigentlich uns alle ohne Ausnahme angeht. Denn es handelt sich um den je individuellen Umgang des Menschen mit dem Unbedingten/Unendlichen, das alle seine konkreten Lebensvollzüge fundiert – dennoch scheint sie heutzutage oft als ein gesellschaftliches Randphänomen disqualifiziert zu werden: als ‚Esoterik‘ in pejorativem (herabsetzendem) Sinne.

Dies hat auch damit zu tun, dass die modernen – tendenziell positivistischen – Vorstellungen von ‚exakter‘ Wissenschaft die ‚geistigen‘ Dinge zunehmend ausklammern, wobei selbst den Geisteswissenschaften oft eine gewisse ‚Objektversessenheit‘ zu eigen ist – z.B. im Bezug auf die Sprache und das Sprachvermögen des Menschen. Paradigmatisch ist Ludwig Wittgensteins Bekundung in seinem 1921 erschienenen logisch-philosophischem Traktat, dass „die richtige Methode der Philosophie […] eigentlich die [wäre]: Nichts zu sagen, als was sich zu sagen lässt, also Sätze der Naturwissenschaft […].1

Insofern lässt sich ohne jedes Pauschalurteil die Tendenz einer gewiss bedenklichen „Gleichgültigkeit und Resignation bezüglich ‚letzter‘ und grundlegender Wahrheitsfragen2 diagnostizieren, gerade auch in den Geisteswissenschaften, die dem Exaktheitsideal der modernen Naturwissenschaften nacheifern. Der Aufstieg der modernen Wissenschaft überhaupt begann mit der ausdrücklichen methodologischen Ausklammerung letzter Fragen. Mustergültig hierfür ist Isaac Newtons allbekannte Formel: „Hypotheses non fingo“ (‚Ich mache keine Unterstellungen‘). Die Entstehung des modernen abendländischen Materialismus ist geistesgeschichtlich zu verorten mit der Herausbildung eines dualistischen Weltbildes seit der frühen Neuzeit.3

Und wie Materie und Geist dem modernen Bewusstsein nun entgegengesetzt scheinen, so entwickelte sich eine gesellschaftliche Mentalität, in der auch Rationalität und Spiritualität einander zunehmend gegenüberstanden. Letzte Fragen seien eben Glaubensangelegenheit, mehr nicht. Gerade aber bei einigen der größten Dichter deutscher Sprache zeigen sich Rationalität und individuelle Spiritualität auf herausragende Weise vereint. Sie alle haben sich ihren individuellen Bezug zum Unbedingten bzw. Unendlichen auf eine je eigene und ganzheitlich-vernünftige, d.h. nicht einseitig rationalistisch verkürzte Weise zu erschließen versucht.

Ohnehin werden die sogenannten ‚Klassiker‘ gerne zitiert, weil sie ihre Lebenseinsichten, in so ausdrucksstarker Sprache verdichtet, mitzuteilen vermochten, dass ihre Sätze und Verse den Menschen über Generationen hinweg zu Lebensbegleitern werden konnten – und dies immer noch können. In dieser kleinen Reihe zu Spiritualität und Dichtung möchte ich in diesem Sinne einige große Klassikerworte hinsichtlich des großen Menschheitsthemas der Spiritualität aufweisen, behutsam annähernd einordnen und in aller Kürze dem Wesen nach erläutern:

Auf dass sie dem einen oder anderen zu einem Begleiter im Leben werden mögen – bei Fragen, die uns so wesentlich sind wie das Atmen. Zuvor aber sei noch abschließend für den ersten Teil unserer kleinen ’spirituell-dichterischen‘ Reise das dieser zugrundeliegende Verständnis von Spiritualität möglichst rational erläutert, um alles mögliche Missverständnis von Beginn an zu vermeiden und die Zugänglichkeit der nachfolgenden Porträts größtmöglich zu maximieren.

Im Grunde ist dies ganz leicht zu verstehen, insofern man nur offen ist für den Begriff der Spiritualität überhaupt. Wenn man das Phänomen der Religion ernstzunehmen gewillt ist – und die verschiedenen Religionen nicht nur in pseudo-aufgeklärter Toleranz auf atheistische Weise als bloße Kultur, Folklore sozusagen, disqualifiziert -, dann hat man im Grunde zwei Möglichkeiten. Entweder es hat eine einzige Religion den Anspruch auf alleinige Wahrheit und die anderen irren, oder es gibt etwas Allgemeinmenschliches, das dem Phänomen der Religion überhaupt erst zugrunde liegt und das alle einzelnen Religionen der Welt in ihrer Verschiedenheit miteinander verbindet. Die erste Variante ist aber rational schlechthin nicht zu rechtfertigen und schließlich nicht mehr als ein Rückfall in die Dogmatik. Dagegen ist die zweite Variante, nämlich dass es so etwas wie einen allgemeinmenschlichen Wesenskern aller Religionen gebe, weitaus wahrscheinlicher. Um mit Eugen Drewermann zu sprechen:

Erstaunlicherweise […] gibt es in allen Religionen, so beargwöhnt, verfolgt, unterdrückt und verketzert auch immer, eine Form der Frömmigkeit und der Gottsuche, die zu allen Zeiten und Zonen ohne kirchliches Dogma, ohne theologische Gelehrsamkeit und ohne die beamtete Aufsicht kirchlicher „Oberer“ auskommt – die Mystik, und es kann kein Zufall sein, daß ihre Erfahrungen sich außerordentlich gleichen […].4

Dies lässt sich auch tiefenphilosophisch bekräftigen: Denn aufgrund der Reflektionsstruktur des menschlichen Selbstbewusstseins, in dem sich die ganze unendliche Welt sozusagen spiegelt, hat der Mensch im Umkehrschluss nämlich bereits in seinem wesentlichen Menschsein Anteil an der Unendlichkeit des Kosmos: Er ist, um den bedeutenden Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel zu zitieren, zu verstehen „als Abglanz der ewigen Schönheit, als geistiger Fokus des Universums.5

Damit ist nicht allein die erste Kränkung der Menschheit nach Sigmund Freud, die kosmologische Kränkung, nach welcher der Mensch mit der kopernikanischen Wende einsehen musste, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Weltalls sei, bewusstseinstheoretisch aufgehoben. Diese Tiefeneinsicht in den Unendlichkeitscharakter des menschlichen Bewusstseins begründet die Unabschließbarkeit aller menschlichen Individualität und damit die unantastbare Würde des Menschen. Denn „dieser Unendlichkeitssinn macht von Anfang an die Tiefe menschlichen Selbstseins aus.6

Im Folgenden werden wir diesen Unendlichkeitsbezug des Menschen als das allen Religionen gemeinsame allgemeinmenschliche Phänomen verstehen.

Wir können nun verstehen, dass Religionen sowohl einen kulturhistorisch bedingten Anteil haben, „d.h. alles was an kultureller Überlieferung und Brauchtum unmittelbar zu einer überlieferten Religion gehört7, als auch eine transreligiöse, spirituelle und unbedingte Essenz, nämlich den Bezug zum Unendlichen selbst. Mit dem Religionsphilosophen Paul Tillich lässt sich hier von ‚dem Heiligen‘ sprechen, „das uns unbedingt angeht8.

Diese Essenz also verstehen wir als den „in allen Religionen […] lebenden gemeinsamen Geist9. Die jeweilig verschiedene Form der kulturellen Vermittlung kann dagegen als eine Stiftung von je konkretem Ausdruck für diesen abstrakten Kern verstanden werden. Die jeweiligen religiösen Riten und Konventionen dienen so im besten Fall zur Vermittlung der je individuellen Erfahrung des eigenen Unendlichkeitsbezugs, den wir spirituell nennen wollen. Ob ausdrücklich um diese Unterscheidung von den Gläubigen gewusst wird oder nicht, das sei für die individuelle Erlebnisqualität dahingestellt.

Wo aber der kulturhistorisch bedingte Ausdruck in Form von Riten und Brauchtum für den eigentlichen unbedingten Kern genommen wird, das sei abschließend bemerkt, handelt es sich im Grunde um Fundamentalismus:

[Dieser] karikier[t] die Stufen der inneren und gemeinsamen Erhebung der Gemeinde zum Göttlichen. Die mangelnde Unterscheidung des wesentlich religiösen, im Kern mystischen Erlebnisses von seinen jeweiligen kulturellen Einkleidungen, somit das Kleben an Brauchtum und Buchstaben, ihre Verwechslung mit dem Wesentlich-Religiösen, macht den Fundamentalismus aus.10

Spiritualität ist dagegen die je individuelle Form der Kultivierung des je individuellen Unendlichkeitsbezugs.

1 Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus, 6.53.
2 Johannes Heinrichs: Integrale Philosophie. Sankt Augustin 2014, S. 20.
3 Noch immer ohne Konkurrenz hierzu: Vgl. Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus.
4 Eugen Drewermann: Der sechste Tag. Die Herkunft des Menschen und die Frage nach Gott. Glauben in Freiheit, Bd. 3. Düsseldorf 1998, S. 301.
5 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjektivität in der Vollständigkeit ihrer Formen als Kantische, Jacobinische und Fichtesche Philosophie.
6 Heinrichs (2014, Philosophie). S. 181.
7 Johannes Heinrichs: Revolution der Demokratie. Sankt Augustin 2014, S. 128.
8 Paul Tillich: Die religiöse Substanz der Kultur. Gesammelte Werke Band IX. Stuttgart 1967, S. 85. Vgl. ferner Heinrichs (2014, Revolution), S. 128ff.
9 Heinrichs (2014, Revolution), S. 128.
10 Heinrichs (2014, Philosophie), S. 177.

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Armenisches Unendlichkeitszeichen Armenisches Unendlichkeitszeichen Vahram Mekhitarian CC BY-SA 3.0

Diskussion (2 Kommentare)

  1. Hi,

    sehr inspirierender Artikel – danke dafür! Ich bin selbst ein spirituell interessierter Mensch, bin jetzt jedoch seit kurzem in einer Psychotherapie, weil ich entdeckt habe, dass ich teilweis „Spiritual Bypassing“ (Buch v. V. Rationi) betrieben habe: ich habe da wohl einige Kindheitsthemen verdrängt, indem ich immer nur über Spiritualität geredet und nachgedacht habe …

    Vielleicht könnte auf diesem Blog dieses Thema auch einmal aufgegriffen werden?

    Mit sonnigen Grüßen, Ida

  2. […] dem im ersten Artikel unserer kleinen Reihe „Spiritualität und Rationalität – eine Näherung“ erläuterten reflektierten Verständnis von Religiosität und Spiritualität wollen wir […]