Was schenken wir unseren Kindern ?

LebensweltenPädagogik neu gedacht

„Was schenken wir unseren Kindern?“ ist der Titel eines Buchs von Gerald Hüther, der mir mehrmals täglich ins Auge sticht, weil das Buch in meinem Regal an einer markanten Stelle steht und ich im Vorbeigehen immer wieder darauf aufmerksam werde. Insofern stelle ich mir diese Frage häufig, wobei ich in meinen Gedankengängen unterscheide, wie Eltern diese Frage vermutlich beantworten und wie die Gesellschaft im Gesamten.

Eltern sind wahrscheinlich der Meinung, ihren Kindern in erster Linie Liebe, Verständnis, Geduld und Unterstützung, natürlich auch ein Dach über dem Kopf und Nahrung zu „schenken“. Wenn ich näher hinsehe oder über Gespräche mit Eltern oder Kindern reflektiere und verbale und nonverbale Kommunikation auf mich wirken lasse, so habe ich den Eindruck, dass Liebe, Verständnis, Geduld und Unterstützung in den unterschiedlichen Familien ganz unterschiedlich vorhanden sind.

Einige Eltern scheinen mir diese Werte wirklich gut weitergeben zu können und somit ein Zuhause zu schaffen, in dem sich ihre Kinder wohl und geborgen fühlen, völlig egal wie alt sie sind. Im näheren Gespräch mit diesen Eltern stellt sich häufig heraus, dass sie unter dem einen oder anderen in ihrer Kindheit oder Jugend sehr gelitten haben und sich vorgenommen haben, es bei ihrem eigenen Kind anders, in ihrem Sinn „besser“ zu machen.

Das komplette Gegenteil sind Familien, die noch sehr in den Erziehungsmustern vorheriger Generationen verhaftet sind. Sie haben oft den Denkansatz: „Ich habe es auch nicht besser gehabt, bin aber trotzdem groß und stark geworden.“ Dass Menschen auch mit zahlreichen Wunden auf der Seele „groß und stark“ werden können, bezweifle ich nicht. Aber welche Lebensqualität haben sie dabei?

Und schließlich scheint es mir eine Mischform dieser beiden Elterngruppen zu geben, die vom Bauchgefühl her gerne viel Liebe, Verständnis, Geduld und Unterstützung geben möchten, aber deren Kopf immer wieder dazwischenfunkt und die zu härteren Erziehungsformen greifen als sie es im Inneren selbst wollen, weil man das ja so macht.

Warum macht „man“ das so? Warum erhalten frisch gebackene Familien noch immer den Ratschlag, ihr Kind zumindest eine Zeit lang weinen zu lassen und nicht sofort auf jeden Laut zu reagieren? Warum glauben noch immer so viele Erwachsene, dass ein Baby ihnen nur auf der Nase herumtanzen will, wenn es schreit? Warum ist in der Wortwahl so vieler Familien noch immer so viel Gewalt, wenn doch Marshall B. Rosenberg schon in den 1960er Jahren sein Konzept der Gewaltfreien Kommunikation entwickelt hat. Warum gibt es noch immer so viele Menschen, die von einer „g’sunden Watschen“ sprechen, wenn wir doch wissen, wie entwürdigend Schläge sind?

Ich vermute, dass jene Erziehungsmethoden, die sich durch Strafe, Angst, Bloßstellen, Erniedrigungen, Distanz und sogar Schlägen auszeichnen – auch als schwarze Pädagogik bekannt – leider nicht nur in manchen Familien, sondern weiterhin auch in Institutionen angewendet werden. Möglicherweise sind sie deshalb deutlich fester in unserer Gesellschaft verankert, als das für unsere Kinder gut ist, weil die letzten Generationen von einer Erziehungsideologie geprägt wurden, die in einer sehr dunklen Zeit unserer Vergangenheit entstanden ist.

Dr. Johanna Haarer, geborene Barsch – nomen est omen – war eine 1900 in Böhmen geborene Ärztin und zur Zeit des Nationalsozialismus Gausachbearbeiterin für rassenpolitische Fragen der NS-Frauenschaft in München. Außerdem galt sie als Erziehungsexpertin und schrieb den auflagenstarken Elternratgeber „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“, in dem sie Mittel und Wege beschrieb, Kinder an die Ideologie angelehnt zu erziehen.

Das Werk hat die Mütter der Kriegsgeneration nachhaltig beeinflusst. Aber nicht nur diese, sondern auch nachfolgende Generationen, denn das Buch wurde nach 1945 überarbeitet und unter dem Titel „Die Mutter und ihr erstes Kind“ neu aufgelegt. Haarer selbst hatte fünf Kinder, die einstimmig berichten, dass die Erziehung ihrer Mutter von Gefühlskälte gekennzeichnet war, unter der alle Kinder sogar noch als Erwachsene gelitten haben. Tochter Anna bestätigte in einem Interview im Jahr 2000, dass ihre Mutter ihre nationalsozialistische Einstellung bis zu ihrem Tod nicht überdacht oder gemildert habe.

Somit darf die Frage erlaubt sein, wie weit sich die Überarbeitung des Werks von den in der ursprünglichen Fassung vertretenen nationalsozialistischen Erziehungsidealen entfernt hat. Vermutlich gerade mal so weit, dass es veröffentlicht werden durfte. Ich habe ein Exemplar der milderen Variante selbst zu Hause, um mir einen Eindruck machen zu können. Ich kann nur davon abraten, nach den Empfehlungen darin vorzugehen. Aus meiner Sicht sollte man es nur dann lesen, wenn man eine Orientierungshilfe benötigt, wie Erziehung nicht sein sollte.

Ich bin davon überzeugt, dass es Johanna Haarer leider gelungen ist, ihr ideologisches Gedankengut weiterzugeben, weil sich ihre Empfehlungen noch immer hartnäckig in vielen Familien und Institutionen halten. Eine bewusste Abkehr davon ist mehr als nötig, denn Angst, Druck und Strafe führen nicht zur Bildung einer sicheren Eltern-Kind-Bindung, führen nicht zu einer vertrauensvollen Lehrer-Schüler-Beziehung und führen somit auch nicht zur Entwicklung glücklicher, erfolgreicher und selbstbestimmter Erwachsener.

Oder sind glückliche, erfolgreiche und selbstbestimmte Erwachsene gar nicht das Ziel? Was wollen wir für die nächste Generation? Ich kann für niemand sonst sprechen, aber ich weiß, was ich für sie will: Ich will, dass Kinder in Würde erwachsen werden. „Würde“ definiert sich laut Duden

  1. als „Achtung gebietender Wert, der einem Menschen (hier steht nicht „Erwachsenen“) innewohnt, und die ihm deswegen zukommende Bedeutung“ und
  2. als Bewusstsein des eigenen Werts und dadurch bestimmte Haltung.

Würde macht also etwas mit der Person selbst und Würde macht auch etwas mit den Personen untereinander. Aus dem Wort Würde leiten sich die Adjektive würdevoll und würdelos ab.

Wie sieht würdevolle Erziehung aus?
Sie orientiert sich an den Bedürfnissen des Kindes und vice versa an jenen seiner Umwelt. Es ist eine Erziehung, in der auf das Kind eingegangen wird, um seine größtmögliche individuelle Entfaltung zu ermöglichen, ihm aber gleichzeitig beigebracht wird, dass sein Handeln dort eine Grenze hat, wo die Würde eines anderen Menschen gestört oder beeinträchtigt wird. Würdevolle Erziehung erklärt, anstatt zu strafen.

Würdelose Erziehung hingegen orientiert sich an den Bedürfnissen der Erwachsenen und geht von einem Gefälle aus, bei dem der Erwachsene Recht hat und das Kind Unrecht. Es ist eine Erziehung, in der Kinder konditioniert werden, ohne auf ihre individuellen Bedürfnisse, Wünsche und Ziele einzugehen. Würdelose Erziehung straft, anstatt zu erklären. Und würdelose Erziehung presst Menschen in eine Schablone mit dem Ziel von Gleichmacherei.

Natürlich war das das Ziel einer Erziehungsideologie im Dritten Reich, denn nichts könnte totalitären Bestrebungen mehr widersprechen als der Wunsch nach persönlicher Freiheit. Gleich getaktete Menschen sind leichter zu kontrollieren, zu manipulieren und zu führen.

Wieso sind diese Methoden nach achtzig Jahren noch immer in unseren Schulen zu finden? Warum werden Kinder noch immer gegen ihre individuelle Entwicklung und persönliche Freiheit in Beurteilungsschablonen gezwängt? Warum fragt niemand danach, warum fast jedes Kind sich zuerst auf die Schule freut und nach spätestens einem Monat ernüchtert zu der Erkenntnis kommt, dass Schule keinen Spaß macht? Und das obwohl Lernen an sich faszinierend und erfüllend ist, denn sonst würden Kinder es nicht ab dem ersten Tag des Lebens so begierig tun.

Weil es dort an Würde fehlt!

Es ist nämlich würdelos, auf den Schwächsten einer Gesellschaft herumzutreten, ihnen Ge- und Verbote aufzuerlegen, die Erwachsenen gegenüber niemals in Erwägung gezogen werden würden. Sie können sich noch nicht wehren. Sie können nur reagieren, meistens mit Wut, Zorn, Ohnmacht oder – vielleicht noch schlimmer – Resignation.

Es ist würdelos, jemanden jeden Tag darauf hinzuweisen, was er nicht gut kann und zu verlangen, das auch noch stetig zu üben, während wir alle wissen, dass ab dem letzten Schultag jeder Mensch, der über sich selbst bestimmen darf, alles vermeidet, was er nicht gut kann und einen Beruf wählen wird, der seinen Fähigkeiten entspricht.

Es ist würdelos, wenn wir vor lauter Political Correctness weiterhin viel zu wenig Wert darauf legen, dass Kinder, die in Familien mit anderer Muttersprache aufwachsen, so früh wie möglich Deutsch lernen und nicht erst ab dem verpflichtenden Kindergartenjahr. Mit dieser Haltung verwehren wir Kindern die Chance auf guten Zukunftsmöglichkeiten. Wir ermöglichen ihnen keine ihrem Intellekt entsprechende Ausbildung, sondern verdammen sie zu einfachen und damit schlecht bezahlten Tätigkeiten, weil die Sprachkenntnisse weder in der Muttersprache noch in Deutsch ausreichend sind für gut dotierte Positionen.

Es ist würdelos, wenn das Unterrichtsministerium nicht fähig ist, ein paar Jahre im Voraus zu erkennen, dass eine Pensionierungswelle des Lehrkörpers ansteht. Die Folge dieser ineffizienten Politik ist das Versäumnis, rechtzeitig für gut ausgebildete Lehrer zu sorgen. Stattdessen werden nun Vertreter des Militärs oder aus anderen völlig pädagogikfernen Berufen in einem Schnell-Schnell-Verfahren eingeschult. Beispielsweise bedeutet das für eine Schule im Norden Wiens, dass von 30 neu eingestellten „Lehrern“ 30, also alle, keine pädagogische Ausbildung haben.

Es ist würdelos, wenn unser Rechtssystem Kinder nicht schützt, und erwachsene Täter, die visuell, verbal oder brachial Gewalt gegen Kinder anwenden, aus dubiosen und völlig unverständlichen Gründen mit einem Urteil davonkommen, bei dem das gesamte Land aufschreit.

Es ist würdelos, wenn ein Journalist solch ein Urteil, bei dem es um kinderpornographisches Material in Form von 76.000 Dateien geht, auch noch mit den Worten „ein guter Tag für die Justiz“ kommentiert.

Es ist würdelos, wenn ein Gerichtspsychiater nach einem Missbrauchsverfahren gegen Kirchenvertreter schreibt „Kinder können mit pädophilen Übergriffen gut umgehen“, wenn ich als erwachsene Frau noch immer nicht vollständig mit sexuellen Übergriffen, die mir einmal im Alter von etwa 20 bzw. ein zweites Mal mit etwa 45 Jahren widerfahren sind, abgeschlossen habe.

Aus diesen und noch vielen, vielen weiteren Gründen müssen wir endlich alle Spuren einer Erziehungsideologie, die aus der NS-Zeit kommt, abstreifen, damit Kinder nachfolgender Generationen erleben, was Würde ist. Kein Kind darf anders behandelt werden, als man einen Erwachsenen behandeln würde, denn sie sind nur kleiner, aber nicht dümmer und schon gar nicht weniger wert.

Es würde uns gut tun, unsere Erziehung deutlich mehr an der Natur auszurichten und uns daran zu orientieren, wie andere Säugetierarten mit ihrem Nachwuchs umgehen. Dort findet man kein Muttertier, das sein Kleines vergebens schreien lässt. Kein Tierbaby schläft fern der Mutter in einem anderen Busch oder Nest. Und das Lernen wichtiger Fähigkeiten und Fertigkeiten funktioniert völlig natürlich durch Abschauen, Nachmachen, Selbst-Probieren, aus Fehlern und Erfolgen – eben in Würde, sogar bei Tieren.

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