Wie denken Babys?

Lebenswelten

Für mich ist die Welt der Babys einer der spannendsten Forschungsbereiche und jedes tiefere Wissen darüber ermöglicht es uns, besser auf eine natürliche, gesunde Entwicklung unserer Kinder einzugehen. Einen Teil dessen, was wir wissen, können wir als bestätigt ansehen, anderes sind leider nach wie vor Mutmaßungen.

Wir wissen beispielsweise, dass Babys mit etwa drei Wochen die Stimme ihrer Mutter von anderen weiblichen Stimmen unterscheiden können. Dazu wurden Mütter gebeten, ein und denselben Text aufzusprechen, der später den Babys vorgespielt wurde. Die Babys erhielten vor dem Anhören einen speziellen Schnuller, der mit einer Zählfunktion ausgestattet war. Über diese Funktion wurde erhoben, wie schnell ein Baby saugt. Im erfreuten Zustand saugt das interessierte Kind stärker am Schnuller als in einer weniger anregenden Atmosphäre. Als im Versuch die Stimmen der Mütter den Babys vorgespielt wurden, erhöhte sich das Saugen bei jedem Baby immer nur bei der Stimme der eigenen Mutter.

Bei einem anderen Versuch, der ebenfalls mit dem oben geschilderten Schnuller durchgeführt wurde, sollte herausgefunden werden, ob Babys im Alter von ca. einem Monat ihre Muttersprache bereits erkennen. Diesmal wurden Texte in verschiedenen Sprachen mit ein und derselben Frauenstimme aufgenommen. Das verstärkte Saugen wurde diesmal in der jeweiligen Muttersprache des Babys festgestellt.

Daraus kann man ableiten, dass Babys Stimmen und Sprache bereits spätestens am Ende des ersten Lebensmonats erkennen und zuordnen können. Vermutlich wissen sie nur wenige Wochen später bereits, wie sie heißen und können bald darauf Wörter oder Wortgruppen, vielleicht sogar einfache Sätze verstehen, die sie häufig hören, etwa wie „baden“, „einkaufen gehen“, „Papa geht arbeiten“ oder „Oma kommt uns besuchen“. Nun können Babys offenbar schon bald verstehen, aber bis zu den ersten selbst gesprochenen Worten ist es noch ein weiter Weg.

Die neurobiologischen Verbindungen im menschlichen Gehirn sind sehr komplex. Vereinfacht gesagt, scheint es so, dass die Sprachentwicklung, die nicht nur in den bereits relativ gut bekannten Arealen Wernicke und Broca, sondern auch in korrespondierenden Bereichen im Großhirn verteilt stattfindet, unterschiedlich schnell voranschreitet. Alle diese Bereiche entwickeln sich nicht zeitgleich bzw. parallel. Während das Verstehen der Sprache deutlich schneller vor sich geht, scheint die Entwicklung des Sprechens zum einen um vieles langsamer zu sein, zum anderen müssen für erfolgreiches Artikulieren etwa hundert Muskeln im Mund/Hals-Bereich trainiert werden, damit das Zusammenspiel aus Mund, Lippen und Zunge verständliche Worte bildet.

Wenn Babys noch nicht selbst sprechen können, können sie dann aber denken? Die meisten Menschen denken auf eine Weise, in der sie ihre Gedanken im Kopf formulieren. Ich halte es für unwahrscheinlich, dass Babys auf dieselbe Art kombinieren und lernen, weil Worte und Grammatik sich erst ganz rudimentär zu entwickeln begonnen haben. Andererseits bin ich überzeugt davon, dass sie denken. Eine nachvollziehbare Möglichkeit ist das Denken in bewegten Bildern, das man sich ähnlich vorstellen kann wie träumen.

Was in Babys Köpfchen sonst schon so alles vor sich geht, untersucht die Psycholgoin Stefanie Höhl von der Universität Wien am Institut der Entwicklung und Bildung. Durch ihre Arbeit kann sie aufzeigen, dass Babys beim ersten Kontakt mit der Mutter nach der Geburt bereits sozial interagieren. Neugeborene betrachten deren Gesicht länger und intensiver als jenes von anderen Personen. Höhl leitet daraus ab, dass Kinder sich Gesichter schnell merken können und an gesellschaftlichen Informationen wie Sprache oder Bewegung interessiert sind.

Durch Messung von Gehirnströmen kann die Gehirnaktivität beobachtet werden. Erwachsene, die sich gut miteinander verstehen, stimmen diese – natürlich unbewusst – aufeinander ab. Die Gehirne interagierender Erwachsener spiegeln einander, erkennen und vereinen Rhythmen von Sprache und Gesten, wie wenn man Frequenzen aufeinander abstimmt. Auch Höhl kann noch nicht mit Sicherheit sagen, ob das bei Kindern in der Interaktion mit ihren Eltern ebenso funktioniert. Fakt ist allerdings, dass sich Kinder auf Verhaltensebene mit der Mutter abstimmen, nachweisen lässt sich das beispielsweise durch eine synchronisierte Herzrate. Sollte es der Fall sein, dass sich auch die Gehirnaktivität anpasst, würde das die Kinder bei Lernprozessen unterstützen.

Dass nicht alles neu gelernt werden muss, sondern es eine Prädisposition für manches Wissen gibt, haben Forscher aus Uppsala in Schweden bereits in den 70er Jahren herausgefunden. Babys, die nie eine schlechte Erfahrung mit Spinnen oder Schlangen hatten, reagierten mit vergrößerten Pupillen trotz gleichbleibender Lichtverhältnisse, wenn man ihnen Bilder von diesen Tieren zeigte, während sich ihre Augen nicht veränderten, wenn sie sich Abbildungen von Blumen oder Fischen ansahen.

Meine Überlegungen dazu ergeben, dass jegliche Interaktion mit einem Baby kognitive Reaktionen auslöst, ob durch angeborenes Wissen oder individuelle Vorerfahrungen. Darunter verstehe ich persönlich tatsächliche Denkprozesse. Aus meiner eigenen Arbeit mit bereits größeren Kindern weiß ich, dass viele von ihnen, obwohl sie Sprache altersgerecht benutzen, bei genauerem Hinterfragen berichten, dass sie in Bildern denken, wenn sie spielen, Geschichten erfinden, aber auch beim Lernen oder beim Abrufen von Erinnerungen. Andere Kinder wiederum bestätigen, dass sie die Worte gedanklich im Kopf bilden und auf diese Weise reflektieren, wie wenn sie laut mit jemand anderem sprechen würden.

Selbst wenn ich mich hier nicht auf konkrete wissenschaftliche Studien beziehen kann, so bin ich durch die Erfahrungen im Rahmen meiner praktischen Arbeit davon überzeugt, dass es zwei Arten von Denkern gibt und dass das bis ins Erwachsenenalter so bleibt: Sprachdenker und Bilderdenker.

Sprachdenker sind langsamer im Denken, dafür genauer. Sie haben, so wie ich es bei den Kindern beobachte, nur selten Probleme mit Lesen und Rechtschreibung, weil sie die im Kopf gebildeten Worte als Grapheme zweidimensional aufs Papier bringen können, unterstützt durch das innere Vorsprechen. Häufig werden die Wortbilder gut abgespeichert und sind schnell vom Präfrontalen Cortex wieder abrufbar. Müsste ich ihnen eine bevorzugte Gehirnhälfte zuteilen, würde ich auf die linke Hälfte tippen.

Die Bilderdenker, die mit Lesen und Schreiben häufig auf Kriegsfuß stehen, sind ungemein kreativ und erfinderisch, haben häufig ein fotografisches Gedächtnis oder können Erinnerungen mit Situationen so verknüpfen, als hätten sie eine Ansichtskarte abgespeichert. Das Denken in gedanklichen Kurzfilmen ist deutlich schneller, deshalb entstehen in kurzer Zeit viel mehr Ideen und Eindrücke. Besonders im Kindesalter fällt es sehr schwer, die Situationen vor dem inneren Auge zu erfassen und auf Papier zu bringen. Sie sehen keine Worte vor sich, sondern Situationen. Sätze wie beispielsweise „Auf der roten Blume sitzt ein bunter Schmetterling“ können ein fast unüberwindbares Problem darstellen, weil in Gedanken aus dem Satz sofort ein Bild entsteht, das für Bilderdenker keinerlei Zusammenhang mit jenen Worten hat, die in Form von aneinandergereihten Symbolen niedergeschrieben werden sollen.

Wenn meine Vermutung richtig ist, finden Denkprozesse bei Kleinkindern vorerst in Bildern statt und mit der zunehmenden Erweiterung des Wortschatzes setzt im Laufe der kindlichen Entwicklung bei den Sprachdenkern ein Denken in Worten ein. Selbst wenn diese Denkweise das Erfüllen schulischer Leistungen erleichtert und somit scheinbar die bevorzugte sein sollte, so ermöglicht Bilderdenken das Schaffen von Neuem und das Verknüpfen scheinbar unabhängiger Wissensbereiche. Beide Denkarten sind gleich wichtig und gleich wertvoll und ihre zuordenbaren Fähigkeiten können sich besonders bei gegenseitiger Wertschätzung im Team optimal entfalten.

 

Buchtipp: Was Babys denken. Eine Geschichte des ersten Lebensjahres von Sabine Pauen.

Dr. Pauen ist Professorin an der Universität Heidelberg und leitet dort das Institut für Entwicklungspsychologie und Biologische Psychologie.

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PNG – 006-YOUTUBE Wolfgang Müller CC BY-SA 4.0