Antisemitismus in Österreich-Ungarn und seinen Nachfolgestaaten – Thomas Zechner

Gesellschaft

Der Historiker Thomas Zechner geht in seinen Ausführungen auf den schon lange vor der Zeit des Nationalsozialismus aufgetauchten Antisemitismus in der K.u.K.-Monarchie und deren Nachfolgestaaten ein.

Zechner bezieht sich auf August Bebel und Karl Lueger, die beide bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert antisemitische Sichtweisen in die Gesellschaft einbrachten. Dabei ging es immer auch darum, von gesellschaftlichen Konflikten und konkreten Themen abzulenken und diese auf einen Kulturkampf zu verschieben. „Je absurder die Situation ist, desto wichtiger ist es, sich mit ihr zu beschäftigen“, meint Zechner und zieht den Vergleich zur Gegenwart, in der während der Corona-Maßnahmen kritische Menschen mit Antisemiten gleichgesetzt wurden.

Im Weiteren geht er auf die jüdische Bauernschaft im Nordosten der Habsburgermonarchie und jene „großbürgerlichen“ Juden ein, die im Westen und auch in Städten lebten – wie Viktor Adler und Karl Kraus.

Durch das Toleranzpatent Josef‘s II., so Zechner, gingen Emanzipation und Liberalisierung Hand in Hand. Damit wurde aber auch jeder Selbstverwaltung die Berechtigung abgesprochen, was auch das jüdische G’stettl bzw. das Ghetto betraf. Damit wurden seiner Ansicht nach die Juden als soziale Gemeinschaft „komplett ruiniert“.

Nachdem Juden vom Grundbesitz ausgeschlossen waren, konzentrierten sie sich nach dem Zusammenbruch des Kleinbauerntums in den Großstädten. In Wien und Prag waren 10% der Bevölkerung jüdisch, in Budapest 25 % und in Czernowitz 30%. Auch innerhalb des Judentums kam es zu Spannungen zwischen den „armen Ostjuden“ und dem jüdischen Großbürgertum.

Neben einem antimodernistischen, bäuerlichen Antisemitismus, der sich auch gegen die Großstadt generell wandte, bewirkte der Wiener Börsenkrach von 1873 eine Wende zum Antisemitismus auch im städtischen Bürgertum: dem so genannten völkischen Antisemitismus. Den Juden wurde vorgeworfen, sowohl im Advokatenstand als auch im Journalismus schlechte Sitten eingeführt zu haben. Es kam in Folge zu antisemitischer Gewalt. 1885 forderte Georg von Schönerer einen Arierparagraphen, der nach seiner Einführung dazu führte, dass nach dem 1. Weltkrieg Juden aus Militär und Beamtenapparat und ebenso aus Universitäten entfernt wurden. Schönerer betonte den christlichen Charakter des österreichischen Staatswesens. Er stellte einem schaffenden Kapitalismus ein transnationales Handels- und Bankkapital gegenüber, das in der Hand einiger jüdischer Familien sei.

Eine kolportierte jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung und die Dolchstoßlegende führten 1919 zu einem neuen Kulturkampf zwischen christlichem Idealismus und nicht christlichem Materialismus, dessen gemeinsame Feindbilder Marxismus, klassischer Liberalismus, Sozialismus und Judentum waren.

In Ungarn wurde nach dem 1. Weltkrieg eine Räterepublik gegründet, die bürgerliche Konterrevolution, die faschistisch-antisemitisch fundiert war, gab den Linken und den Juden die Schuld am Zusammenbruch der aristokratisch-bürgerlichen Macht. Nach der Zerstörung der Budapester Räterepublik durch die rumänische Armee kam es zu antisozialistischer und antisemitischer Gewalt, der sich auch der ländliche Mittelstand anschloss, der um seine Aufstiegsperspektive fürchtete.

Durch seinen Vortrag hofft Thomas Zechner, zu einer veränderten Sichtweise auf die Entstehung des Antisemitismus beitragen zu können, der nicht erst durch die Finanzkrise von 1929 entstanden ist, sondern schon die von ihm dargestellten früher auftretenden Wurzeln aufweist.

 

Anmerkungen/Klarstellungen des Vortragenden Thomas Zechner (uneditiert):

1. August Bebel wird im blog artikel – in einem satz mit Karl Lueger – als jemand genannt der antisemitische sichtweisen in die gesellschaft eingebracht hätte. Das ist falsch. Bebel war ein deutscher sozialdemokrat der sich gegen den antisemitismus ausgesprochen hat. er verlangte allerdings – wie die meisten sozialisten – eine ernsthafte auseinandersetzung mit dem
antiseitismus als ein gesellschaftliches phänomen bzw. eine sozioökonomische analyse desselben. Was allerdings nicht heißen soll das alle argumente die im sozialistischen disskurs damals gemacht wurden gut oder richtig waren. das er, wie ich im video behaupte selbst jüdischer herkunft war ist soweit ich das jetzt noch nachvollziehen kann das ergebnis schlampiger recherche und eher unwarscheinlich.

2. Das zitat „Je absurder die Situation ist, desto wichtiger ist es, sich mit ihr zu beschäftigen“ bezieht sich wohl auf die formulierung „Je absurder die Zusammenhänge, desto mehr sind wir moralisch dazu verplichtet das Thema ernst zunehmen“. Hier pflichte ich allerdings bebel bei, das Hirngespenste an sich garnicht berücksichtigt werden muss. der antisemitismus muss nur da strategische beachtung finden wo er sich aus nachvollziehbaren sozioökonomischen Konflikten speißt bzw. eine politische organisationsform hat die effektiv konfrontiert werden kann.

3. Das die Juden durch die liberale moderne als soziale gemeinschaft angegriffen wurden ist richtig und in meinem sinn. Ohne die ergänzung, das die liberale moderne systematisch jede ständische gemeinschaft – bzw. wie zuletzt während corona deutlich spürbar jeden sozialen zusammenhang auflöst und den menschen von marktbeziehungen abgesehen in die vollkommene vereinzelung treibt – ist die aussage jedoch sehr verkürtzt und einseitig.

4. Die rede von „einem neuen Kulturkampf zwischen christlichem Idealismus und nicht christlichem Materialismus, dessen gemeinsame Feindbilder Marxismus, klassischer Liberalismus, Sozialismus und Judentum waren“ klingt meines erachtens etwas missverständlich. Es ließe sich so interpretieren als würden nicht-christlicher Materialismus und
Marxismus in einem gegensatz zueinander stehen. In diesem zusammenhang sind sie jedoch mehr oder weniger synonom. Ich möchte deshalb herausstreichen das dieser Kulturkampf – ob er neu war sei da hingestellt – von der rechten bzw. nationalkonservativer seite, die sich selbst als idealistisch und (mehr oder weniger explizit) christlich identifizierte, geführt wurde. Er richtet sich im Kern gegen eine linke die sich im philosopischen sinn explizit als materialistisch verstand und damit auf kollektiv geführte Klassenkämpfe hinaus wollte. Das die begriffe idealismus und materialismus heute umgangssprachlich eine andere bedeutung haben ist mir klar, da es aber hier um einen explizit ausgeführten historischen Konflikt geht muss ich da leider streng sein.

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