Barfuß oder doch Schuhe und Socken?

LebensweltenPädagogik neu gedacht

Im Sommer, wenn’s warm ist und trocken dazu
da spar ich der Mutti die Strümpf und die Schuh.
Die Strümpf und die Schuh, die kosten viel Geld
d’rum lauf ich, wenn’s warm ist wie’s Ganserl durchs Feld
.

Das ist ein Kindergedicht, das meine Mutter Ende der 50er Jahre anlässlich des Muttertags auswendig lernte. Was mich daran fasziniert ist der veränderte Blickwinkel in der Bevölkerung auf Schuhe. Schuhe waren etwas Teures, das man schonen sollte, während man heute auch zwei oder drei Paare gleichzeitig kauft, weil man sich nicht entscheiden kann, welche hübscher sind.

Offenbar konnte man sie damals im Sommer problemlos weglassen, weil sie in erster Linie ein Schutz vor Kälte und Nässe waren. Was würden Menschen heute denken, wenn ihnen im Sommer auf der Straße Kinder barfuß entgegenkämen? Ein Symbol von Armut? Auf Bildern aus Afrika oder Asien sieht man Kinder häufig ohne Schuhe. Waren unsere Eltern oder Großeltern genau so arm? Ist Barfuß-Sein überhaupt ein Zeichen von Armut?

Aus heutiger Sicht vermutlich schon. Aber auch früher wollte niemand als arm gelten. Und von meinen Großeltern weiß ich, dass sie sich die Schuhe für meine Mutter und meinen Onkel problemlos leisten konnten. Was, wenn andere als finanzielle Gründe eine Rolle spielten, dass Kinder früher im Sommer barfuß gingen? Was, wenn wir verlernt haben zu erkennen, welche Fähigkeiten von Natur aus in unserem Körper angelegt sind und wie wir sie fördern? Wenn die vorgeformten Fußbetten und der Memory-Foam in unseren Schuhen das Non-Plus-Ultra sind, warum hat dann einer Studie zufolge die barfuß lebende Volksgruppe der Zulu aus Südafrika die gesündesten Füße?

Ein einleuchtendes Argument, dass wir uns mehr auf die Geschenke der Natur verlassen sollten, ist wohl, dass wir von Geburt an im Großen und Ganzen mit den wichtigsten Dingen ausgestattet sind, die wir fürs Überleben brauchen. Muss sich aufgrund veränderter Verhältnisse der Körper anpassen, so tut er das ganz einfach. Im Fall der Füße ist die logische körperliche Reaktion die Produktion einer dickeren Hornhaut.

Lebewesen können sich dermaßen stark an die Natur anpassen, dass sie sogar Form oder Farbe ändern können, wie das Beispiel der Birkenspanner rund um Manchester im frühen 19. Jahrhundert zeigt. Ursprünglich waren 99,9% der Birkenspanner weiß mit grauer bzw. schwarzer Maserung, sodass sie dem Stamm einer Birke ähnelten und darauf sitzend kaum gesehen werden konnten. Die 0,1% restliche Falter waren dunkel. Knappe 100 Jahre später aber waren in der Industrieregion etwa 95% der Falter dunkel. Warum? Weil der Ruß der Kohlekraftwerke in dem Industriegebiet sich auf die Birken legte, deren Stamm nun nicht mehr hell, sondern dunkel war und damit die weißen Falter auf dunklen Stämmen leicht zu sehen waren. Die Tiere passten sich an. Übrigens: heute sind die Falter wieder weiß, weil die Filteranlagen der Rauchfänge die Luft säuberten, die Birken wieder weiß wurden du somit auch die Falter wieder zu ihrer ursprünglichen Farbe zurückkehrten.

Wenn Schmetterlinge das tun, warum nicht auch wir Menschen? Dass wir uns im Westen sehr weit von der den Menschen angestammten Lebensform weg entwickelt haben, ist diskussionslos. Natürlich wirkt es angenehm. Ich sitze auch lieber in der zentralgeheizten Wohnung als in einer Höhle, wo ich Steine aneinanderschlagen muss bis ein Feuerfunken entsteht. Dennoch scheint es viele Indizien dafür zu geben, dass besonders Kinder mehr Natur und weniger Komfort und Schutz benötigen, um sich gesund zu entwickeln.

Wie ich auf so eine Idee komme? Nun, die Lernschwächen und -störungen nehmen zu; drastisch sogar! Ist es in dem Zusammenhang verwunderlich, sich zu fragen, ob eine mögliche Ursache dafür die Überbehütung in der Erziehung und die veränderte Sozialisation sind? Denn von einer gesunden Entwicklung und einem artgerechten Großwerden sind unsere Kinder sehr weit entfernt.

Was können wir dagegen tun?
Nun ja, da gibt es zwei Herangehensweisen. Die deutlich häufigere ist, abzuwarten, bis die Lernschwäche so stark wird, dass man sie nicht mehr ignorieren kann. Die andere, viel weniger verbreitete Vorgehensweise – eine, die meistens nur Eltern mit einer entsprechenden Familiengeschichte wählen, ist, schon im Vorfeld unterschiedliche Anzeichen von Aufmerksamkeitsschwäche und Lernwiderstand wahrzunehmen und gegenzusteuern.

Unter gut informierten Eltern hat sich die Bedeutung der sensorischen Integration herumgesprochen, also der Aufnahme und Verarbeitung von Sinnesreizen. Alle äußeren und inneren Reize, optische, haptische, akustische, taktile und olfaktorische müssen gut trainiert und aufeinander abgestimmt sein, als zentraler Bestandteil der kindlichen Entwicklung – nicht erst ab der Geburt, sondern auch schon pränatal. Gut entwickelte sensorische Integration ist die Grundvoraussetzung für Handlungs- und Lernfähigkeit, soziales Verhalten, Bewegung und für motorische und emotionale Steuerung. Das Internet ist voll von Empfehlungen, wie Eltern die sensorische Integration ihres Kinds fördern können.

Es gibt sicherlich Kinder, die förderbedürftig sind. Es gibt sicher Kinder, die mit innerfamiliärer Förderung nicht das Auslangen finden und noch vor der Schule ergotherapeutische Unterstützung benötigen. Gut, dass es entsprechende Spezialisten gibt!

Dennoch bin ich überzeugt, dass ein Weg von modernen Errungenschaften und dafür ein Zurück zu unseren Wurzeln bei vielen Kindern Defizite ausgleichen kann. Und eine Möglichkeit des Ausgleichs ist das Barfußgehen.

Auf unseren Sohlen gibt es Reflexzonen, die Organen oder Körperteilen entsprechen, deren Nervenleitung an diesen Punkten im Fuß enden. Werden sie stimuliert, wird das Organ oder der Körperteil mit aktiviert, weil es sensible Nervenpunkte sind, die durch die Meridiane, also spezielle Energiepunkte, mit dem gesamten Körper verbunden sind. Aktivierte Reflexzonen können sogar Entgiftungen und Blockaden auflösen, wovon unser gesamtes Nervensystem profitiert.

Wer barfuß geht, kurbelt sein Herz-Kreislauf-System an und steigert aufgrund verbesserter Durchblutung und Sauerstoffversorgung seine Gehirnleistung. Wer öfter mal die Schuhe weglässt, wird auch merken, dass er ruhiger, tiefer und entspannter schläft, was unter anderem darauf zurückzuführen ist, dass erholsame Ruhezeiten den Hormonhaushalt stabilisieren.

Und schließlich sollten wir den Einfluss der Erde oder des Grases unter unseren Füßen nicht unterschätzen. Der Kontakt mit Elementen aus der Natur gleicht negative Energien aus und kann sogar Strahlung von Mobiltelefonen, Modems und Elektrosmog neutralisieren. Schließlich spricht man nicht umsonst vom „Erden“.

Während des Gehens werden Muskeln, Bänder, die Haut und die Sehnen darunter wechselseitig gedehnt, gespannt und gestärkt. Das unterstützt einen stabilen Gleichgewichtssinn, der sich auf unsre Gelenke auswirkt und Schiefstellungen reduziert. Das wiederum wirkt sich positiv auf verspannte Muskeln und schmerzende Wirbel aus.

Übrigens schneiden die Europäer bei der oben genannten Studie zu gesunden Füßen am schlechtesten ab. Wer die gesunde orthopädische Entwicklung seines Kindes fördern möchte, sorgt für Fußfreiheit bei jeder Gelegenheit. Außerdem fördern bloße Füße das Verständnis des Babys für Mengenlehre. Wieso das? Weil ein Baby, das keine Socken oder gar Schuhe trägt, sein natürliches Bedürfnis nach dem Hand-Mund-Fuß Kontakt ausleben darf. Etwa im vierten Monat entdeckt es seine Zehen. Es kann mit den Händchen nach einem Fuß greifen, ihn betrachten und in den Mund stecken. Damit erfüllt es ein wichtiges Bedürfnis des Großhirns, das diesen Kontakt zur Nachreifung benötigt. Zu Zehen und Fingern gibt es in allen Kulturen verschiedene Spiele und Reime, die oft unbewusst daher gesagt das kindliche Verständnis von gleichen und ungleichen Dingen und ihrer Anzahl fördern. So sind Zehen etwas anderes als Finger. Aber von jedem gibt es zehn, bzw. fünf pro Seite.

Dass Kinder sehr früh Mengen wahrnehmen können, fand man in sogenannten Habituationsexperimenten heraus. Dabei wurde Säuglingen anfangs nur eine Puppe gezeigt, die hinter einem Vorhang verschwand. Wurde der Vorhang wieder hochgezogen und die Anzahl der Puppen blieb gleich, konnte man an der Mimik des Kindes keine Reaktion ablesen. Veränderte sich allerdings die Anzahl der Puppen hinter dem Vorhang, so waren Gefühle wie Freude oder Überraschung im kindlichen Gesicht zu erkennen. Somit kann man daraus schließen, dass es für das zukünftige mathematische Verständnis von Kindern relevant ist, ob es immer nur einen besockten Fuß sieht, oder ob es einen nackten Fuß mit fünf individuell bewegbaren Zehen sieht. Auch das logische Unterscheiden von Kategorien wird dabei automatisch unterstützt, weil ein Fuß, ohne auch nur das Wort zu kennen, rein durch das bloße Betrachten etwas anderes als die einzelnen Zehen ist. Zu weit hergeholt? Nein, aus meiner Sicht nicht.

Wer die frühkindliche Mengenlehre nicht nachvollziehen kann, der versteht dennoch bestimmt, dass Socken und Schuhe dazu beitragen, den Fußgreifreflex oder auch Plantargreifreflex oder Robinson-Reflex genannt, auszulösen. Sobald Druck auf die Fußsohle ausgeübt wird, antwortet der Fuß, indem er sich dem Reflex folgend krümmt. Nun wissen wir aber, dass es der natürlichen Integration der Reflexe in den Körper förderlich ist, wenn diese möglichst selten ausgelöst werden – aber auch der Stoff der Socken kann die zarte Babyhaut so stimulieren, dass der Reflex ausgelöst wird. Ganz zu schweigen davon, dass in Socken deutlich schwerer ersichtlich ist, ob der Fuß gebeugt ist, also der Reiz ausgelöst ist, oder nicht. Bis spätestens Ende des ersten Lebensjahres sollte der Fuß nicht mehr reflexartig auf Berührung reagieren. Nicht integrierte Reflexe funken beim reibungslosen Durchlaufen der kindlichen Meilensteine dazwischen und können im schlimmsten Fall bis ins Erwachsenenalter Bewegungsabläufe beeinträchtigen.

Macht barfuß gehen also schlau?
Wir wissen zumindest, dass Albert Einstein sich vehement weigerte, Socken zu tragen. Wir wissen auch, dass taktile Reize, also jene, die über die Oberflächensensibilität der Haut wahrgenommen werden, über die Füße ähnlich gut funktioniert wie über die Hände. Die unterschiedlichen Rezeptoren der Haut lassen uns Reize wie Hitze, Berührung, Schmerz und Druck empfinden. Die von den Rezeptoren wahrgenommenen Reize werden von einer Nervenfaser zum Zentralnervensystem weitergeleitet und von dort aus ins Gehirn. Lassen wir also nicht nur die Hände, sondern auch die Füße frei spüren, wie sich die Umgebung anfühlt, so können sich deutlich mehr Synapsen im Großhirn bilden. Dabei ist es faszinierend zu sehen, was unsere Füße theoretisch schaffen können, wenn wir wollen.

Verschiedene Künstler haben sich aus unterschiedlichen Gründen auf das Malen mit den Füßen verlegt. Thomas Bajog begann aufgrund seiner spastischen Probleme, Katzenbilder mit den Füßen zu malen

Der Film „Eine Hymne auf den Fuß“ verfilmte die Geschichte von Antje Kratz. Ein absolut sehenswerter Film über eine Künstlerin, die von Geburt an aufgrund einer Conterganschädigung ihre Hände nicht einsetzen konnte. Und schließlich gibt es Künstler, die ihre Füße nicht als Kompensation einsetzen, weil ihre Hände sie im Stich lassen, sondern absichtlich. In ihrem Atelier in Rotterdam malt Rajacenna Van Dam mit ihren Händen und Füßen mehrere Porträts gleichzeitig.

Auch wenn nicht jeder Mensch seine Füße auf diese Weise kontrollieren bzw. einsetzen kann oder können muss – ein Mehr an Sensomotorik über die Sohlen ist viel förderlicher als man erwarten würde. Wenn Schuhe eine Schutzfunktion erfüllen müssen, weil sie die Füße vor scharfen Gegenständen, zu heißem oder zu kaltem Boden bewahren müssen, leisten sie einen wichtigen Beitrag. Eine passende Alternative zu regulärem Schuhwerk können die sogenannte Barfußschuhe sein, die es mittlerweile von unterschiedlicher Marken gibt. Aber wann immer die Schutzfunktion nicht nötig ist, ist es wohl das beste, „wie’s Ganserl durchs Feld“ zu laufen.

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