Der Weisheit letzter Schluss – Die Würde des Menschen

Meinung

Ein kommentierender Wochenrückblick KW 8/23

Ist sie tatsächlich unantastbar? Wurde sie in den letzten drei Jahren wirklich mit Füßen getreten? Darf ich jemandem anderen seine Würde absprechen? Verliere ich meine Würde, wenn ich mich würdelos verhalte?

Fragen über Fragen, die mir da in den letzten Stunden durch den Kopf gegangen sind. Auslöser, mich intensiv mit der Würde des Menschen zu befassen, war die mich erschütternde Nachricht vom Tod des bekannten Biologen Clemens G. Arvay und die daraufhin grassierenden Postings in den (A-)Sozialen Medien sowie die zum Teil unwürdigen medialen Nachrufe.

Dort wird ja auch zu anderen Themen nicht erst seit heute der Würde des Andersdenkenden kaum bis keine Beachtung geschenkt – und schnell ist man in eine Ecke gestellt oder eine Schublade gepackt, in der man sich noch niemals zuhause gefühlt hat.

Das beginnt schon beim Mobbing im Kindergarten oder der Schule, bei dem sich die verantwortlichen Pädagogen mitunter unbedacht oder zum Teil sogar willentlich auf die Seite der „Täter“ schlagen und das „Opfer“ verantwortlich für die Situation machen.

Und – wenn ich noch genauer hinschaue – erkenne ich sogar eine generelle gesellschaftliche Sichtweise, in der junge Menschen abgewertet werden. Althergebrachte und tradierte Erziehungs- und Bildungssysteme tragen das ihre dazu bei, dass man den Heranwachsenden die Würde abspricht, in dem man sie zu Objekten degradiert. In der deutschen Sprache manifestiert sich das auch durch die grammatikalische Versächlichung des Kindes. Erhellend dazu sind u.a. die Gedanken des freischaffenden Philosophen Bertrand Stern, der in seinen Ausführungen betont, dass Menschen von Geburt an (und womöglich auch schon davor) Subjekte sind, was ihnen niemals abgesprochen werden darf; auch der leider schon verstorbene Familientherapeut Jesper Juul spricht vom „kompetenten Kind“ und von einer diesem gegenüber notwendigen gleichwürdigen Begegnung.

Aber, was halt in dieser Phase des Lebens schon schief geht, prägt unsere Haltung mitunter ein ganzes Dasein lang. Das soll keine Entschuldigung sein, denn Menschen haben das Potential, sich zu verändern, aber es dient mir zumindest zur Erklärung, warum so vieles so falsch läuft. Und selbst bereits über diese Kindheitstraumata hinausgewachsene Menschen laufen Gefahr, in Krisensituationen wieder auf die alten Muster zurückzugreifen. Und derer haben wir ja aktuell auch in der Gesellschaft, also im Großen, mehr als genug. Mit dieser Tatsache lassen sich Woche für Woche meine Kommentare füllen, wobei ich ja nur eine kleine Auswahl von all dem, was passiert, berücksichtige.

Was also hat sich in dieser Woche in mein Blickfeld gedrängt?

Im Blog für Science und Politik „tkp.at“ des Publizisten Peter F. Mayer hat der Religionskritiker Ronald Bilek auf die Darstellung der Covid-Maßnahmenkritiker im aktuellen Sektenbericht reagiert. Dort werden diese nämlich als Sektierer bezeichnet und vor ihnen gewarnt. Der Zusammenhang wird so zu erklären versucht: „Verschwörungstheorien in Zusammenhang mit dem Coronavirus haben nur sichtbarer gemacht, was schon zuvor in dieser Szene verbreitet war: Wissenschaftsskepsis, kritische bis feindliche Haltung gegenüber der Medizin und die Tendenz, sich aus der komplexen, fordernden Postmoderne zurückzuziehen und eine Parallelwelt aufzubauen, die einfache Antworten bietet und Zugehörigkeit in scheinbar elitären Zirkeln verspricht.“ So weit, so pauschal – und damit die Realität verzerrend und die Würde des andersdenkenden Menschen vergessend.

Der Herausgeber jenes Blogs lehnt sich in einem von ihm selbst verfassten Beitrag – im oben beschriebenen Sinn – auch wieder einmal sehr weit aus dem Fenster. In einem sehr umfassenden Beitrag beschreibt er, warum er zum Schluss kommt, dass sowohl Pandemie als auch der seit einem Jahr laufende Ukraine-Krieg geplant waren. Man muss seinen Schlüssen nicht folgen, man kann aber seiner Darstellung und Argumentation durchaus etwas abgewinnen. Jedenfalls gilt es, seinen Gedanken den nötigen Respekt zu zollen, auch wenn man die Ereignisse von einer völlig anderen Seite her betrachtet. Er selbst ist ja – gemeinsam mit Raphael Bonelli und Clemens Arvay – von der Tageszeitung „Der Standard“ im August 2021 zum Impfangstmacher erkoren worden. Im diesbezüglichen Beitrag mit dem Übertitel „Geschäftsmodell Verunsicherung“ schreibt der Journalist Klaus Taschwer „wie Sachbuchautor Clemens Arvay, Psychiater Raphael Bonelli und Blogger Peter F. Mayer, drei Wortführer der Impfskeptiker, zu Österreichs schlechter Impfquote beitragen.“ Das Problem des Artikels besteht nicht in seiner Unzulässigkeit, sondern in der Tatsache, dass den drei Protagonisten Seriosität und Wissenschaftlichkeit ab- und Geschäftemacherei mit der Angst zugesprochen wird, also eine Pauschalverurteilung erfolgt, die deren menschliche Würde unberücksichtigt lässt.

In seinem Kommentar zur geplanten Haushaltsabgabe für den ORF wagt sich Bernhard Baumgartner in der Wiener Zeitung auch über die „Würde-Grenze“. Er attestiert darin nämlich jenen, die bisher keine oder nur eingeschränkt GIS-Gebühren bezahlt haben, dass sich diese bislang unter allen möglichen Argumenten davor gedrückt hätten und nun fairerweise auf ihren Freifahrtschein verzichten müssten. Abschließend argumentiert er gegen jene, die meinen, „es solle doch für den ORF zahlen, wer ihn sehen wolle.“ Seiner Meinung nach ist dies aber zu kurz gegriffen, denn: „ Qualitätsvoller, neutraler, informativer und – ja – auch manchmal unbequemer Journalismus ist für das Funktionieren des Staates eine Überlebensfrage.“ Man könne ja gerne freiwillig darauf verzichten, „aber sich auch der Finanzierung dieser wichtigen Dienstleistung zu entziehen … richtet mehr Schaden an als eine monatliche Gebühr, die zudem sozial abgefedert ist.“ Über das, was die Qualität der Berichterstattung des Staatsfunks betrifft, lässt sich trefflich streiten, zuletzt gab es ja mehrere Beschwerden wegen der mutmaßlichen Verletzung des Objektivitätsgebotes in C-Zeiten.

Auf andere hinzuhauen ist offenbar schon längere Zeit eine beliebte Methode so mancher Politker und Journalisten.

Noch einmal zu den „Fakten“:

Interessant sind in Bezug auf die Einführung der Haushaltsabgabe auch die unterschiedlichen Berechnungen. Offiziell erklärt man ja der Bevölkerung, dass der ORF durch die Umstellung der GIS-Gebühr weniger Zuwendungen seitens der Konsumenten erhalten würde und damit zu drastischen Einsparungen gezwungen wäre. Das bedeute die Auflösung des Radio-Symphonieorchsters (RSO), die Einstellung des Spartenkanals „Sport+“ und der Streamingportale „Flimmit“ und „Fidelio“. Letztere waren aber schon jetzt zumindest zum Teil kostenpflichtig. Andererseits gibt es an dieser Aussage auch berechtigte Zweifel, da durch die Haushaltsabgabe, die zwar billiger als die GIS-Gebühr sein soll, ja wesentlich mehr Menschen zahlungspflichtig werden. Aber soweit sollte man lieber nicht denken, wenn man sich seine Würde wahren will, in einer Zeit, in der man sie schon wegen einer kritischen Sichtweise zu verlieren droht.

Auch die Würde des Arbeitnehmers, der ja in manchen Kreisen als der eigentliche Arbeit-Geber bezeichnet wird, steht wieder einmal in Frage. Eigentlich ein aufgelegter Elfer für die schwächelnde Sozialdemokratie, die sich aber derzeit oft auf anderen, auch inneren Kampfplätzen verzettelt und regelmäßig an den Bedürfnissen der Menschen vorbeiproduziert. Zuletzt hatte der ÖVP-Arbeitsminister ja eine Kürzung der Sozialleistungen für Teilzeitarbeitende ins Spiel gebracht, um – wie er euphemistisch anmerkte – die Vollzeitarbeit zu stärken. Nun stellt sich – wenig überraschend – heraus, dass eine Viertagewoche, also eine generelle Arbeitszeitverkürzung, die Zufriedenheit der erwerbstätigen Bevölkerung und damit gleichzeitig ihre Leistungsfähigkeit steigert, wie eine britische Studie folgert.

Aber wo wird die Würde des Menschen mehr getreten als in Kriegen, deren es ja viele, auch unbeachtete gibt. Der Focus der (europäischen) Öffentlichkeit liegt derzeit eindeutig beim seit einem Jahr auch bewaffnet geführten Russland-Ukraine-Konflikt. Immer empfehlenswert und immer auch würdig ist der Blick von Gerhard Mangott auf die Geschehnisse, wo wie er dies auch in seinem „Ein-Jahres-Resümee“ auf Einladung von Idealism Prevails gemacht hat.

An anderen Stellen wird der Propaganda und Gegenpropaganda gehuldigt und jene, die sich für einen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen stark machen, schnell mit würdelosen Titeln verunglimpft, wie „selbstbesoffene Friedensschwurbler“ oder gar „Vulgärpazifisten“.

Die Soziologin Eva Illouz wünscht sich in einem Gastkommentar in der Wochenzeitung „Die Zeit“ einen totalen und vernichtenden Sieg der Ukraine, denn „vielleicht kann nur eine vernichtende Niederlage Russland helfen, aus seiner diktatorischen Geschichte herauszufinden.“ Das hat Tobias Riegel auf den Nachdenkseiten zu einer kritischen Replik herausgefordert. Abschließend stellt er sich die Frage, ob die Veröffentlichung des Beitrages just am 80. Jahrestag der Rede von Joseph Goebbels, in der den totalen Krieg forderte, als eine Art der Schock-Propaganda zu verstehen sei oder „nur“ ein Beispiel der Geschichtsvergessenheit sei? „Beides wäre inakzeptabel“, schließt er seine Ausführungen.

Derweilen sucht man seitens der NATO und der EU nicht nach Frieden sondern nach Munition. US-Außenminister Blinken hat anlässlich des medial als überraschend bezeichneten Besuch des US-Präsidenten in Kiew in der Vorwoche bestätigt, dass es darum gehe, die Verteidigungsfähigkeit der Ukraine langfristig zu stärken. Gleichzeitig teilte er mit, dass man jeden Winkel der Welt nach Munition absuche, denn die Produktion käme den Anforderungen so schnell nicht hinterher. In Deutschland arbeite man bereits, so die dortige Außenministerin, am Aufbau neuer Produktionsstätten. Da das aber dauere, unterstütze sie den Aufruf ihres US-Amtskollegen.

Unterdessen und Angesichts der „Bedrohung durch Russland“ haben 90 Persönlichkeiten in einem offenen Brief die Adaptierung der österreichischen Sicherheitsdoktrin gefordert. Als Beispiel genannt wird Schweden, das sich nach einem jahrzehntelangem Bekenntnis zur Bündnisfreiheit nun zu einem NATO-Beitritt entschlossen hat. Auch der Nationalrat hat sich am vergangenen Freitag im Rahmen einer von den NEOS beantragten Sondersitzung mit dem Thema beschäftigt. In dieser machte der österreichische Bundeskanzler mit folgenden Worten eine Zusage: „Sie haben recht, die muss überarbeitet werden. Wir haben das Verteidigungsbudget nachhaltig erhöht. Es handelt sich aber um kein Aufrüsten, sondern ein Nachrüsten. Wichtig ist: Die militärische Landesverteidigung muss wieder zu einer glaubwürdigen werden.“ Apropos NATO-Beitritt: die österreichische Verfassungsministerin erteilte in einem ZiB2-Interview dem dafür nötigen Ende der Neutralität eine Absage. Das Interview war zumindest in manchen Momenten von gegenseitiger Entwürdigung geprägt.

Der Wahlkampf in Kärnten neigt sich dem Ende zu, am kommenden Sonntag, 5.3.2023, wird dort ein neuer Landtag gewählt. In den öffentlichen Debatten kamen die kleinen wahlwerbenden Gruppen meist unter die Räder: geladen waren nur Vertreter von in Landtag bzw. Nationalrat vertretenen Parteien. Auch das zeigt, dass „Gleichwürdigkeit“ nicht das Maß der Dinge ist. Um sich ein Bild über die Ansichten aller dort kandidierenden Parteien zu machen, hat die Plattform RESPEKT den Spitzenkandidaten je 10 Fragen gestellt. Antworten kamen von SPÖ, FPÖ, Team Kärnten (das aus dem Team Stronach hervorgegangen ist), Grünen, Vision Österreich und KPÖplus. ÖVP, NEOS, das Bündnis für Kärnten (ein Zusammenschluss aus Bündnis Zukunft Österreich, Gemeinsam für Friesach, Eine Gute Option, Freistaat Kärnten sowie Liste Jörg) und die Liste Stark haben auf eine Beantwortung verzichtet.

Noch einmal zurück zum tragischen Tod von Clemens G. Arvay und damit zu meinen Schlussfolgerungen in Bezug auf die Würde des Menschen.

Es muss möglich sein, dass ein Mensch seinem Leben selbstbestimmt ein Ende setzt ohne dass die Gerüchteküche zu brodeln beginnt und auch ohne dass dieser Mensch noch einmal durch den – in seinem Fall Corona- – Kakao gezogen wird. Es ist eine Frage der Anerkennung der Würde jedes Menschen, deren Bestehen auch in der Menschenrechtsdeklaration ausdrücklich zu Papier gebracht wurde, ihn in seiner Individualität und seinen Entscheidungen zu respektieren. Ich muss diese nicht akzeptieren, aber ich werde sie anerkennen, um meine eigene Würde zu wahren und sie auch gewahrt zu wissen.

Nun weiß ich aber auch, dass es eine menschliche Eigenschaft ist, sich in Zweifelsfällen alles mögliche auszudenken und diese Gedanken auch mit der kleinen und bisweilen sogar großen Öffentlichkeit zu teilen. Diese Eigenschaft tendiert aber dazu, unmenschlich und damit auch würdelos zu werden. Und damit betreten wir auch gefährliches und uns und andere gefährdendes Terrain.

Auch in Sachen Covid-Aufarbeitung werden bereits Buße- und Vergeltungsmaßnahmen gefordert, Tribunale sollen abgehalten werden, um die „Schuldigen“ zu bestrafen. „Niemals vergessen, niemals vergeben!“, lautet das Motto. Auch damit betreten wir das oben angeführte Terrain – zum Schaden für alle Beteiligten. „Auge und Auge, Zahn und Zahn“ war noch nie eine gute Vorgangsweise, wenn es um die Aufarbeitung von Fehlern und die mitunter notwendigen Konsequenzen dafür geht.

Es ist unzweifelhaft wichtig, jene in die Verantwortung zu nehmen, die sich auch verantwortlich gemacht haben. Diese kann aber auch – und viel besser – unter Wahrung des menschlichen Umgangs und der Menschenwürde geschehen. Jeder Mensch – also auch du und ich – trägt den Keim unmenschlichen Verhaltens in sich. Es ist also möglich, sich in die Schuhe des anderen zu stellen und dessen Weg als einen möglichen zu erkennen – auch wenn er nicht der eigene (geworden) ist.

Ereignisse wie der mutmaßliche Selbstmord eines Menschen, der nicht nur auf seine öffentliche Person und seine fundierte und ermutigende Kritik an zahlreichen Maßnahmen in der C-Zeit zu reduzieren ist, sondern auch als private Person mit seinen sehr persönlichen Geschichten wahrgenommen werden muss, geben uns die Möglichkeit, innere Einkehr zu halten und uns zu fragen, wo wir die Würde eines Mitmenschen verletzt und ihn womöglich so sehr gekränkt haben, dass er nicht unbeschadet daraus hervorgegangen ist. Ebenso können wir uns dadurch darauf besinnen, den würdevollen Umgang miteinander ins Zentrum unseres weiteren Menschseins zu stellen.

Das – nicht mehr und nicht weniger – ist die wichtigste Lehre aus tragischen Ereignissen wie diesem. Denn auch so wird die Unantastbarkeit der Würde des Menschen bestätigt.

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WG – 2023 KW08-YOUTUBE Wolfgnag Müller CC BY-SA 4.0