Der Weisheit letzter Schluss – Gnadenfrist & Gnadenbrot

Meinung

Ein kommentierender Wochenrückblick – KW 45/23

„Wohltätigkeit ist das Ersäufen des Rechts im Mistloch der Gnade“ – Worte die dem Sozialreformer Heinrich Pestalozzi in den Mund gelegt wurden und die ich immer wieder gerne zitiere, weil sie so viel Wahrheit enthalten. Sie weisen auf eine unhaltbare Situation im System unserer Gesellschaft hin, die es dringend zu verändern gilt. Wie komme ich zu diesem Schluss – gleich am Anfang meiner wöchentlichen Schlussfolgerungen zum Weltgeschehen?

Da las ich kürzlich eine Mini-Meldung in den Oberösterreichischen Nachrichten (OÖN)über ein Pressegespräch von Verbund-Vorstandschef Michael Strugl, der auch Präsident von „Österreichs Energie“ ist, dass man beabsichtige, im Zeitraum von 1.12.23 bis 31.3.24 keine Abschaltung von Strom- und Gasanlagen wegen Zahlungsverzugs durchzuführen. Auch die Verrechnung von Zinsen bei Ratenzahlungen werde in diesem Zeitraum ausgesetzt. Erwähnt wurde auch ein Hilfsfonds seines Unternehmens, der mit 10 Millionen Euro dotiert ist. Abschließend appellierte Strugl an die zahlungsunfähigen Kunden: „Melden Sie sich bei den Unternehmen, auch bei den Sozialeinrichtungen“, denn diese Möglichkeit würde viel zu wenig in Anspruch genommen.

In derselben Ausgabe der OÖN wurde berichtet, dass die Energiepreise im September im zweiten Monat in Folge gestiegen seien, nämlich um 1,9% gegenüber dem August. Als Grund für die Steigerung wurde die Teuerung im Bereich von Treibstoffen und Heizöl angegeben. Erhellend auch eine Grafik im Beitrag, die die Veränderungen der Preise im Vergleich zum September des Vorjahres zeigt, dass Erdgas um 38,6 % und Fernwärme um 22,3 % teurer geworden ist. Erklärt werden diese Preissteigerungen allerdings nicht, man weiß es ja eh – der von Russland entfachte Krieg ist schuld. Da kann man natürlich nichts machen – außer eben Gnade vor Recht ergehen lassen, wie Michael Strugl es dargestellt hat. Recht ist in diesem Verständnis, das Recht des Energieunternehmens, Geld für seine Leistungen zu verlangen und ausbleibende Zahlungen auf dem Rechtsweg geltend zu machen. Das Recht des Menschen auf Heizung und Warmwasser steht dabei nicht im Mittelpunkt; vielmehr gibt man jenen, die finanziell klamm sind, eine Gnadenfrist, ihren Zahlungsrückstand in Raten abzutragen bzw. ein Gnadenbrot, in dem man die eine oder andere Zahlung für’s erste mal für sie übernimmt. Das kann aber natürlich nicht zum Dauerzustand werden: schließlich ist jeder seines Glückes Schmied und sollte dies auch ernst nehmen, indem er sich in eine ausreichend entlohnte Beschäftigung – laut AMS gibt es eine Menge offener Stellen, die keiner übernehmen will – begibt. Was jene Kunden, die sich in Zahlungsverzug befinden nach dem 31.3.24 erwartet, darüber braucht man nicht spekulieren. Ab 1.4. ist eine beheizte und mit Warmwasser versorgte Wohnung ja nicht mehr notwendig, immerhin ist der Frühling dann schon mehr als zehn Tage alt.

Mit diesen Maßnahmen wird man der Situation der Betroffenen niemals gerecht; vielmehr bringt man sie damit entweder in weitere Schwierigkeiten oder in eine ungute Abhängigkeit von der öffentlichen Hand oder einem Unternehmen. Das ist alles andere als menschenwürdig. Ebenso menschenunwürdig sind die Bedingungen so manches Jobs, in dem trotz 40-Stundenwoche nicht einmal das nötige Auskommen (von einem Einkommen kann man ja erst sprechen, wenn etwas übrig bleibt, um zur Seite gelegt werden zu können oder um Ausgaben, die über den täglichen Grundbedarf hinausgehen wie Urlaub, kulturelle Veranstaltungen oder nötige Neuanschaffungen, zu tätigen) erzielt werden kann. Und wer auf diese Weisen in seiner Würde verletzt wird, der fühlt sich nicht mehr würdig, dem fehlt letztlich auch der Antrieb, etwas zu leisten. Ein Teufelskreis, den man nur präventiv bewältigen kann, in dem man nämlich für Lebensbedingungen sorgt, die menschenwürdig sind und die ein Existenz gesichertes Dasein anstatt eines bloßen Überlebens ermöglichen. Dazu hat noch keine der im Nationalrat vertretenen Parteien eine schlüssige und tragfähige Lösung vorgeschlagen, obwohl sie mit einigem Bemühen sicher zu finden ist. Stattdessen wird gesudert und gejammert und der Slogan „Wir müssen alle den Gürtel enger schnallen“ feiert fröhliche Urständ’. Immerhin hat ein Großteil der Politiker ja auf die seit Kurzem gesetzlich geregelte automatische Anpassung der Entlohnung an die Inflationsrate verzichtet, das Jammern in diesen Kreisen erfolgt aber auf einem sehr hohen Niveau und spiegelt nicht einmal die Situation des Durchschnittsbürgers wider.

Mit dem Geldausgeben ist das ja auch staatlicherseits so eine Sache. Wem gibt man wann was und zu welchen Bedingungen. Den Vogel abgeschossen haben jene Verantwortlichen, die in der „Corona-Hochphase“ auf die Schnelle eine Agentur zur Ausschüttung von Förderungen an aufgrund der Maßnahmen der Regierung zur „Pandemiebekämpfung“ notleidende Unternehmen (darunter etwa auch Unternehmen der nunmehr in die Krise geschlitterten SIGNA-Holding wie Kaufhof oder Kika/Leiner) gegründet hatten – und das noch dazu an der Kontrolle des Parlaments vorbei. Die so genannte COFAG wurde ja kürzlich vom Verfassungsgerichtshof (VfGH) in weiten Teilen als verfassungswidrig eingestuft. Tatsache ist aber auch – und das wiegt bei genauer Betrachtung noch einmal um einiges schwerer, dass dem Gesetzgeber zur Reparatur des diesbezüglichen Gesetzes bzw. der daraus resultierenden Verordnungen und einer eventuell notwendigen Abwicklung der COFAG bis zum 31.10.2024 Zeit gegeben wurde. Bis dahin darf die Agentur ihrer als illegal eingestuften Tätigkeit weiter ungehindert nachgehen; offene Förderansuchen können erledigt werden und Rückzahlungsforderungen müssen nicht vorgenommen werden. Wenn dem nämlich so wäre, wäre realpolitisch nicht nur Feuer am Dach, sondern das ganze Haus stünde in lodernden Flammen, denn eine Pleitewelle in nicht geahntem Ausmaß wäre die Folge. Mit dem Erkenntnis ist somit zwar eine österreichische Lösung gefunden, die aber leider zum Himmel stinkt und aus meiner Sicht auch keinen schlanken Fuß für unseren Rechtsstaat macht. Denn hier messen die auf die Beseitigung von möglichen Gleichheitswidrigkeiten erpichten Verfassungsrichter letztlich doch mit zweierlei Maß – oder sie ermöglichen, ja legitimieren eine solche Sichtweise auf der einen Seite sogar. Auf der anderen Seite wurde Bürgern, die wegen Verstößen gegen dann durch den VfGH aufgehobene Verordnungen im Hinblick auf die Coronamaßnahmen zu einer Strafe verurteilt wurden, diese nicht mehr zurückgezahlt. Das ist der eigentliche Skandal hinter dem Skandal. Und mediale Aufregung ist in diesem Zusammenhang nicht einmal entstanden: man staunt vielleicht (ein wenig) und schweigt geflissentlich. Nicht Wenige sagten sich: „Geschieht den Schwurblern schon recht.“

Keine Gnade finden seit Kurzem jene Menschen, die sich der Zwangsbeschulung entziehen, indem sie einen selbstbestimmten Bildungsweg in Angriff nehmen. Die wegen einer so genannten Schulpflichtverletzung (die ja eigentlich eine Unterrichtsverpflichtung ist, die auch im häuslichen Unterricht absolviert werden kann – aber diese Diskussion führt jetzt zu weit) angezeigten Familien dürfen einerseits „brennen wie ein Luster“ und bekommen von der staatlichen Kinder- und Jugendhilfe Probleme wegen mutmaßlicher Kindeswohlgefährdung. So werden beide obsorgeberechtigte Elternteile in regelmäßigen Abständen – auch mehrmals innerhalb eines Schuljahres – mit Verwaltungsstrafen belegt und das „Jugendamt“ ermittelt, um den zuständigen Familiengerichten Bericht zu erstatten. Gedroht wird mit dem Entzug der Obsorge, zumindest in Bildungsangelegenheiten. Einen jungen Menschen gegen seinen Willen in die Schule zu zwingen bleibt den Eltern glücklicherweise versagt – dass verstieße nämlich gegen das Gewaltverbot in der Erziehung, was wiederum strafrechtlich relevant wäre – , für die Staatsgewalt aber ist es legitim. Ich möchte hier keines der im Netz kursierenden Horrorszenarien an die Wand malen; die Tatsache, das dies möglich ist, ist grausam genug.

Dass Zwang im Bildungsbereich kaum, wenn nicht sogar keinerlei Wirkung hat, beweist die Erfassung der jungen Bildungsabbrecher. 120.000 Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 15 und 24 Jahren sollen trotz Bildungspflicht bis 18 und der im Falle der Verletzung derselben drohenden saftigen Verwaltungsstrafen alljährlich Schule bzw. Ausbildung abbrechen. Deshalb hat die Pädagogische Hochschule (PH) Oberösterreich gemeinsam mit der JKU Linz und der PH Vorarlberg das Bildungsforschungsprojekt „Promoting Life Skills (ProLiSk)“ gestartet. Dabei sollen bestehende Förderprogramme für junge Leute analysiert und ausgewertet werden, um sie in den Lehrplänen zu berücksichtigen. Auf diese Weise will man die Zahl frühzeitiger Abbrüche verringern und Jugendliche im Bildungssystem halten, wurde bei einem diesbezüglichen Pressegespräch betont. Bildungsminister Martin Polaschek stellt dafür 8,8 Millionen Euro zur Verfügung; denn „eine unzureichende Ausbildung habe nicht nur negative Folgen für den Arbeitsmarkt, sondern wirke sich auch auf Wohlstand, Lebenszufriedenheit und Gesundheit der Menschen aus.“ Dass dies durchaus auch der Fall sein kann, wenn das Recht auf Bildung durch einen Bildungszwang ermöglicht wird, darüber haben die zuständigen Verantwortlichen kaum noch nachgedacht. Die Ergebnisse einer diesbezüglichen Studie wären durchaus spannend.

Wie lange die Gnadenfrist für den ukrainischen Präsidenten seitens seiner Unterstützer noch währt, darüber scheiden sich die Geister. Kolportiert werden interne Querelen zwischen ihm und seinem Heerführer sowie seinem ehemaligen Berater, der nun auch Ambitionen auf das Amt des ukrainischen Präsidenten geltend macht. Selenskyj selbst hat die für kommendes Jahr vorgesehenen Präsidentenwahlen zunächst verschoben, weil „nicht der richtige Zeitpunkt“ sei. Die USA allerdings sehen durchaus eine Notwendigkeit, diese trotz des Krieges durchzuführen. Man wird sehen, wer sich letztlich wie durchsetzen wird. Auch ob das Angebot der EU-Kommission – dem von den Mitgliedsstaaten noch zugestimmt werden muss -, Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine aufzunehmen als Gnadenbrot bezeichnet werden kann, wird sich erst weisen. Bevor diese formal aufgenommen werden können, muss es nämlich eine Friedenslösung zwischen den Konfliktparteien geben – und die könnte nicht ganz nach dem Geschmack von Selenskyj ausfallen. Andererseits wurde die Beitrittsperspektive mit 2030 datiert, was noch eine Menge Zeit bedeutet. Da sind aber auch noch die anderen Beitrittskandidaten, die schon jahrelang auf die (Wieder-)Aufnahme von Gesprächen warten und die immer wieder vertröstet wurden. Zudem hat die EU auch ihre internen Hausaufgaben zu machen, gehen Sachkundige doch davon aus, dass die Union in ihrer derzeitigen Verfassung nicht fit für eine solche Erweiterung ist.

Ein glühender Europäer, der prominent auch transatlantische Position bezog, ist dieser Tage verstorben. Als schönste Zeit seines Lebens bezeichnete Karel Schwarzenberg jene Periode vom Fall des Eisernen Vorhangs bis zum Zerfall der Tschechoslowakei, in der der aus dem Exil nach Prag Zurückgekehrte Büroleiter an der Seite von Vaclav Havel war. Er war ein Mann mit Ecken und Kanten, was ihm aber im Vergleich zu anderen aktuell im Amt befindlichen Politikern Profil verlieh. Und Profil steht einem Staatsmann ausgezeichnet.

Gnadenfrist für die Tories und Gnadenbrot für David Cameron? Fast könnte man zu dieser provokanten Schlussfolgerung kommen, wenn man die wegen der horrenden Umfragewerte der konservativen Regierung in Großbritannien von Premier Rishi Sunak vorgenommene Regierungsumbildung betrachtet. Die für ihn wegen ihrer fremdenfeindlich wahrgenommenen Aussagen untragbar gewordene Innenministerin Braverman wurde durch den bisherigen Außenminister ersetzt, womit dessen Posten frei wurde. Dieser wurde dem ehemaligen Premier David Cameron angeboten, der dankend annahm und sich nun wieder im medialen und politischen Rampenlicht sonnen darf. Beachtenswert ist die Tatsache, dass kein britischer Ex-Regierungschef seit mehr als 50 Jahren einen „Kabinetts-Job“ angenommen hat. Der letzte war Alec Douglas-Home, der 1970 von Edward Heath zum Außenminister ernannt wurde, sechs Jahre nachdem er eine Parlamentswahl verloren hatte.

Und wenn wir uns nun schon in Großbritannien befinden, dann sollten wir auch an die menschenverachtende Umgangsweise mit dem Investigativjournalisten und Wiki Leaks Gründer Julian Assange denken, dessen Begnadigung immer noch nicht bevorsteht. Wie lange er unter den schwierigen Bedingungen in Einzelhaft im Hochsicherheitsgefängnis durchzuhalten im Stande ist, lässt sich nicht wirklich sagen. Die Situation soll jedenfalls sehr ernst sein. Nun haben in den USA die Republikanerin und glühende Trump-Unterstützerin Marjorie Taylor Greene und die linke Demokratin Alexandria Ocasio-Cortez gemeinsam mit 14 anderen Mitgliedern des US-Kongresse eine gemeinsame Initiative für die Freilassung des australischen WikiLeaks-Gründers gestartet. Präsident Joe Biden wird darin aufgefordert, die Auslieferungsversuche der Vereinigten Staaten gegen Assange fallen zu lassen und alle Strafverfolgungsmaßnahmen sofort einzustellen. Die Gruppe warnt, dass die weitere Verfolgung von Assange die bilateralen Beziehungen der USA zu Australien gefährden könne. Die Gruppe hoffte auf die Unterstützung weiterer Abgeordneter, um die Verfolgung von Assange noch vor dem offiziellen Besuch des australischen Regierungschefs Anthony Albanese, in Washington im Oktober einzustellen. Dieser hat sich mit seiner Regierung zum Ziel gesetzt, die Freilassung von Assange zu bewirken; seine Forderungen wurden aber wiederholt, so auch beim letzten Treffen, zurückgewiesen. Assanges Bruder Gabriel Shipton forderte den australischen Premier auf, seine Bemühungen zu verstärken.

Angesichts der zahllosen Ungerechtigkeiten und so manches bahnbrechenden Unrechts in der Welt, verliert man durchaus – zumindest von Zeit zu Zeit – jegliche Hoffnung, dass sich Recht und Gerechtigkeit ihren Weg bahnen können. Und die Geschichte lehrt, dass dies durchaus im Bereich des Möglichen liegt. Die Geschichte lehrt aber auch, dass sich Menschen und sogar ganze Gesellschaften nicht auf Dauer durch Gnade regieren lassen. Und das ist die Chance, die wir unbedingt im Augen behalten sollten und für die es sich da und dort, im Kleinen wie im Großen mit ganzem Herzen und aller Kraft einzusetzen lohnt.

Bildrechtelink zu David Cameron: https://fr.m.wikipedia.org/wiki/Fichier:David_Cameron_announces_resignation.jpg

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