Der Weisheit letzter Schluss – Mehr als alles

Meinung

Ein kommentierender Wochenrückblick – KW 43/23

Es muss im Leben mehr als alles geben“ lautet der Titel eines Buches des 2012 im Alter von 83 Jahren verstorbenen US-amerikanischen Autors und Illustrators Maurice Sendak, der im deutschen Sprachraum vor allem für seine Geschichte von den wilden Kerlen bekannt wurde. Darin schildert er die Erlebnisse eines Terriers namens Jennie, der eines Tages Hals über Kopf und ohne erkennbaren Grund sein wohlbehütetes Zuhause verlässt, um sich ins Leben zu stürzen. Die plötzliche Erkenntnis, die der titelgebende Satz ausdrückt, ist Anlass genug.

Tatsächlich gibt es auch im Leben eines Menschen Phasen, in denen das, was da ist bzw. was erreicht wurde, nicht mehr genügt – und zwar nicht, weil man noch mehr vom selben will, sondern etwas ganz anderes, ja, sogar ein ganz anderes Leben, ein lebendiges Sein. Stillstand und das Ewig-Gleiche gemahnen zu sehr an den Tod, der uns alle einmal ereilen wird, von dem wir nichts wissen (wollen) und der uns dazu (ver)führt, die wildesten Ablenkungsmanöver zu veranstalten, die uns und anderen mitunter sogar schaden.

Die Ereignisse, die diese Welt aktuell bewegen und die sie dazu bringen, sich gefühlt (noch) schneller zu drehen, sind ein beredtes Zeugnis dafür. Wir rennen und rennen und versuchen, deren Schrecken zu entfliehen, müssen aber feststellen, dass wir uns bloß im eigenen Hamsterrad bewegen und eigentlich nicht vom Fleck kommen.

Im Hamsterrad der weltpolitischen Logik, die neutral betrachtet eigentlich eine Unlogik ist, bewegen sich auch jene Politiker, die sich im aktuellen Nahost-Konflikt zu Wort melden. Da wurde kürzlich eine Resolution für eine sofortige humanitäre Waffenruhe im Gaza-Streifen, die von 22 arabischen Staaten ausgearbeitet worden war, zwar von 120 (darunter Frankreich) der 193 UNO-Mitgliedsstaaten angenommen, 45 Staaten aber enthielten sich der Stimme (wie Deutschland und Finnland), 14 Staaten (u.a. die USA und auch Österreich) stimmten sogar dagegen. Von denen, die sich der Stimme enthielten, hieß es, dass die Resolution, den Terrorangriff der Hamas nicht ausreichend berücksichtige. Aus Österreich verlautete es dazu, dass eine Resolution, „die nicht einmal in der Lage ist, die Terrororganisation Hamas beim Namen zu nennen, … von Österreich nicht unterstützt werden“ kann. Beide Seiten, wenn man sie so nennen will, vergessen bei ihrer Betrachtung jene, um die es wirklich geht, nämlich die palästinensische Zivilbevölkerung. Die einen, nämlich die Initiatoren der Resolution und deren Unterstützer, sind nicht einmal bereit, die Hamas zu erwähnen, geschweige denn deren Angriff auf Israel als brutalen Terrorakt anzuerkennen. Damit machen sie es der anderen Seite leicht, diese Resolution abzulehnen. Die anderen sind nicht bereit, ernsthaft dafür zu kämpfen, dass ihre Sichtweise in der Resolution berücksichtigt wird. Diese Ignoranz der Beteiligten macht einen Friedensschluss, der ohnehin denkbar schwierig ist, unmöglich; ja, sie fördert sogar die Kriegshandlungen, weil sie es Israel ermöglicht, seiner militärischen und politischen Linie treu zu bleiben und weil sie den Terrormilizen auf der anderen Seite weiter Zündstoff für ihre unsäglichen Attacken auf Israels Bevölkerung liefert.

Gefangen in der von ihnen selbst erzeugten Polarität der Welt sind auch die Machtblöcke auf unserem Globus, deren Vertreter gar nicht daran denken, ihre Sichtweise zu hinterfragen bzw. sogar zu verändern. Der Profit daraus dürfte nach wie vor höher sein als die dadurch verursachten Verluste, die letztlich viele Menschen in den Tod stürzen, sei es direkt oder indirekt.

Die NATO hat den vom russischen Präsidenten aus politischem Kalkül scharf gemachten Konflikt mit der Ukraine zu ihren Gunsten zu nutzen gewusst. Die Verhandlungen zwischen den USA und Finnland, dem jüngsten Partner des Transatlantik-Bündnisses, bezüglich der Bedingungen für deren Kooperation sind auf diplomatischer Ebene diese Woche abgeschlossen worden. Geregelt werden sollen in diesem Abkommen mit dem Namen „defence co-operation agreement (DCA)“ u. a. die Bedingungen für die Präsenz US-amerikanischer Militärs in Finnland, die Gebiete, in denen NATO-Waffen gelagert werden können und die Sicherheitsgarantien der USA in „rechtlich-technischer Hinsicht“. Der nächste Schritt ist nun die politische Bearbeitung des Abkommens durch das Parlament unter Einbeziehung der Bevölkerung, wie Finnlands Ministerpräsident Petteri Orpo betonte.

Schweden muss wohl noch weiter auf die Ratifizierung seines Beitritts zum westlichen Militärbündnis warten. Zuletzt hatte zwar der türkische Präsident Erdogan grünes Licht dafür gegeben, Ungarn aber ziert sich weiterhin. Die Schweden nehmen’s mit Humor, ein Witz, der schon gefühlt ewig kursiert, macht nun erneut die Runde. „Wenn Russland angreift, verteidigen wir uns bis zum letzten Finnen“, heißt es da. Und die Geschichte lehrt, dass es Russland tatsächlich noch nie gelungen ist, heute schwedisches Staatsgebiet zu erobern. Verloren gegangen sind dem „schwedischen Reich“ (das vom Mittelalter bis 1809 über seinen Nachbarn herrschte) immer nur Regionen, die heutzutage zu Finnland gehören.

Apropos USA: Der Bewerber um die republikanische Präsidentschaftskandidatur, der ehemalige Vizepräsident unter Donald Trump, Mike Pence, hat seine Kandidatur nun zurückgezogen. „Dies ist nicht meine Zeit“, sagte er und forderte den Souverän auf, jemanden zu wählen, der die besseren Seiten der Menschen anspreche und mit „Höflichkeit“ führen könne.

Ob Künstliche Intelligenz (KI) bei den schon angeschnittenen Themen eine Verbesserung bringen könnte, bleibt fraglich – obwohl diese immer mehr genutzt wird und ihr von den diesbezüglichen Experten gute Zukunftschancen gegeben werden. Auch der einfache User kommt an den Tools der KI kaum noch vorbei: sei es in Suchmaschinen oder bei der Nutzung von Werkzeugen wie Chat GPT, Bing Chat oder Google Bard. Sam Altman und Mira Murati haben auf Einladung des Wall Street Journals (WSJ) die Kapazitäten und Möglichkeiten von Open AI diskutiert. Altman betonte dabei, dass „die Zukunft unglaublich großartig“ sein wird und hält die künstliche Intelligenz für die bedeutendste Erfindung, die die Menschheit je gemacht hat. Er gibt aber auch zu, dass „wir es hier mit etwas sehr Mächtigem zu tun haben, das sich auf uns alle in einer Weise auswirken wird, die wir noch nicht genau vorhersehen können.“ Murati sieht in der KI die Chance, „unsere Zivilisation durch die Steigerung unserer kollektiven Intelligenz voranzubringen“ und weiter: „Es gibt viele Möglichkeiten, es zu vermasseln. Und das haben wir bei vielen Technologien gesehen, also hoffe ich, dass wir es richtig machen.“ Diese Bedenken der beiden beziehen sich wohl darauf, dass die Grundlagen für die Entwicklung von KI immer noch menschengemacht sind und daher deren Intentionen bei der Programmierung von entscheidender Bedeutung sind.

Ist die „kritische Masse“ auch eine Frage der Intelligenz? In einem Essay auf seiner Website stellt der Organisationsberater und Manegementcoach Konrad Breit gruppen- und massendynamische Phänomene anhand von 2 Fallbeispielen dar und widmet sich folgender zentralen Frage: Wo liegt der Kipppunkt, ab der sich eine andere bzw. (Gegen-)Strategie selbsttragend durchsetzen kann? In seinen Ausführungen kommt er zum Schluss, dass es für das „Öffnen eines Raumes für eine neue Vision unserer Zukunft als Menschheit (Selbstbestimmung, Freiheit und Human Relations als Paradigma)“ mindestens 10%. braucht, wobei „nicht alle Menschen dafür schwindelnde Gipfel von Bewusstheit erlangen“ müssen. Und: „Eine kritische Menge derer, die die geschaffenen Stereotypen und Pseudorealitäten durchschaut, dürfte heute (September 2023) stabil genug sein.“

Bedenkenswert – im Sinne gesellschaftlicher Veränderungen – auch die Situation in Bezug auf die „Armut in Österreich“. Das WIFO hat in dieser Woche eine Studie präsentiert, in deren Analyse der Jahre 2005-2019 die Aurtoren zum Schluss kommen, dass es „in Österreich eine starke, effektive Umverteilung“ gibt, wie die Wifo-Ökonomin Silvia Rocha-Akis bei der Präsentation anmerkte. Diese sei auch über all die Jahre stabil geblieben. Wifo-Chef Gabriel Felbermayr merkte an, dass unser Land bei der Verteilung der Einkommen aber „nicht so toll“ sei. Das unterste Fünftel der Bevölkerung bekam demnach im Jahr 2019 fünf Prozent der Einkommen, das oberste Fünftel 44 Prozent. Eine problematische Entwicklung ergibt sich laut WIFO bei jüngeren Familien. Von den Haushalten mit Hauptverdienenden bis 35 Jahre und Kindern waren 2005 noch 46 Prozent der Personen im unteren Drittel der Einkommen, seit 2010 betrug der Anteil schon 58 Prozent, wo er sich bis 2019 auch stabilisiert habe. Als mögliche Gründe führten Rocha-Akis und Felbermayr die Finanzkrise, instabile Arbeitsverhältnisse und das Thema Migration an. Auch die Tatsache, dass über viele Jahre Familien- und Sozialleistungen nicht indexiert wurden, soll dabei eine Rolle spielen. Das WIFO schlug eine Senkung der Lohnnebenkosten vor, die mit Hilfe einer Erbschaftssteuer finanziert werden könnte. Der bei der Präsentation anwesende Sozialminister Johannes Rauch hingegen plädierte für eine Vermögenssteuer sowie die Einführung einer Kindergrundsicherung und lobte die von der Regierung beschlossene Indexierung von Sozialleistungen.

Nach den zuletzt in Deutschland präsentierten Plänen zur Gründung einer neuen Partei unter der Führung von Sahra Wagenknecht, ist die LINKE, der Wagenknecht aktuell noch angehört, gefordert, ihr Profil zu schärfen. Ob das gelingen wird, steht noch in den Sternen. Eine, die das schaffen will, ist Ines Schwerdtner. Die freiberufliche Journalistin und Publizistin schreibt auf ihrer Website dazu: „Wir gewinnen, wenn wir bedingungslos für Menschen in Not eintreten, aber genauso bedingungslos für alle, die durch ihre Arbeit unsere Gesellschaft am Laufen halten und dabei gerade noch über die Runden kommen.“ Weil das immer seltener gelingt, sei die Existenz der Partei, besonders im Osten Deutschlands, bedroht. Sie verweist auf die Entwicklungen in einigen Nachbarländern, in denen der öffentliche Diskurs zur Schlammschlacht zwischen Liberalen und Rechten werde und soziale Fragen keine Rolle mehr spielten. Weil es in dieser Situation darum gehe, Verantwortung zu übernehmen, habe sie sich entschlossen, in die LINKE einzutreten und sich für ein Mandat bei der Europawahl 2024 zu bewerben. Sie stehe für ein sozial gerechtes Europa, für Ostdeutschland, für eine andere Wirtschaft und eine andere politische Kultur. In einem Blogbeitrag anlässlich der Gründung des Bündnisses Sahra Wagenknecht (BSW) schreibt sie, dass es wichtig sei, „nicht bloß Wahrheiten zu verkünden, sondern in erster Linie einmal zuzuhören, worüber sich die Menschen ärgern: seien es hohe Preise, die kaputte Heizung, ihre Angst vor dem Krieg. Das ist das Material aus dem wir Politik machen – im Stadtrat oder im Europaparlament.“ Aus den Büchern von Sahra Wagenknecht entnehme sie, so Schwerdtner, dass diese mehr bei Ludwig Erhard als bei Karl Marx sei. Die LINKE aber solle aus der Sicht der Beschäftigten und nicht jener der Unternehmer sprechen. Und: Spenden würden daher von Unternehmen nicht angenommen, um unbestechlich zu bleiben und „sich bedingungslos für die Menschen einsetzen zu können.“

„Aufgeräumt“ wurde – wie ein Redaktionskollege betonte – in der Wiener Zeitungdie woke Blase“. „Was soll man sagen, wenn Menschen, die sich selbst als ‚progressiv‘ oder als ‚links‘ bezeichnen, das Massaker der Hamas in Israel nicht verurteilen, sondern gutheißen?“ heißt es dort. Die Autorin präsentiert in ihrem Beitrag eine ziemlich gnadenlose Abrechnung: „In den letzten Jahren wurde linker, auch feministischer Aktivismus auf allen Fronten in allen Themenbereichen auf eine Art und Weise verblödet und veroberflächlicht, dass er in weiten Teilen zu inkohärentem und inhärent widersprüchlichem Geschwurbel wurde“, meint sie. Und weiter: „Völlige Abwesenheit jedweder kritischen Denkfähigkeit, verbunden mit #isupportthecurrentthing-Mitläufertum (egal, was dieses current thing ist), wurde zum Inbegriff des linken Aktivismus. Und im Notfall faschiert man und vermengt man alles, bis unten nur mehr Scheiße rauskommt.“ Abschließend plädiert sie dafür, uns Universalismus, Humanismus, Wahrheit, Rückgrat und Freiheit nicht nehmen zu lassen. Alles jene Werte, die die Linken propagiert, aber mitunter in ihrer ideologischen Verblendung und Erblindung vergessen haben.

Ja, es geht rund in dieser Welt, das Hamsterrad dreht sich und dreht sich und dreht sich – und wir nehmen es kaum wahr. Und wenn wir es wahrnehmen, dann glauben wir, kein Rezept zu haben, es zu stoppen.

Ob all dieses Wahnwitzes und des enormen Tempos, in dem alles abläuft, tut Besinnung dringend not. Wir könnten es wie die Braunbären im Zoo von Helsinki machen, und zwei Wochen früher als üblich in den Winterschlaf treten. Oder wir bleiben wach und nehmen uns die dafür notwendige Zeit. Und ich betone: Zeit nehmen. Denn Zeit haben wir nur, wenn wir sie uns verschaffen. Wir stehen rund ein Monat vor dem Beginn der angeblich stillsten Zeit im Jahr, die immer wieder zur schrillsten Zeit des Jahres verkommt. Und das tut sie nicht, weil es halt so ist, sondern weil wir nicht in der Lage oder willens sind, uns dieser Stille auszusetzen; denn dort lauert die innere Leere und mit ihr die allzu gern verdrängte Todesangst. Dabei führt ein bewusstes „memento mori“ zu einem erfüllteren Leben. Auch im „Morituri te salutant“ der im Circus Maximus verheizten Gladiatoren liegt eine Botschaft, die uns alle betrifft, fühlen doch auch wir uns oftmals als dem Schicksal ausgelieferte Kämpfer ohne große Chancen auf Erfolg. Dieses Gefühl aber täuscht, denn wir haben unser Leben oft besser in der Hand als wir glauben. Und wenn wir im Großen nicht sofort etwas ändern können, dann ist es uns im Kleinen sehr wohl möglich. Mit dem Mut, genau da anzusetzen und dabei „dem Tod ins Auge zu blicken“ wird uns ein Leben geschenkt, das mehr als alles zu bieten im Stande ist. Diesen Versuch zu wagen ist es absolut wert.

Bildrechtelink Ines Schwerdtner: https://de.wikipedia.org/wiki/Ines_Schwerdtner#/media/Datei:Ines_Schwerdtner,_2023.jpg

Rechte für Signation & Jingle: Music by Dmitrii Kolesnikov from Pixabay

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WG – 2023 KW43-DE-PC Wolfgang Müller CC BY-SA 4.0
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