Der Weisheit letzter Schluss: Torschlusspanik

Meinung

Ein kommentierender Wochenrückblick – KW 37/23

Immer wenn eine Wahl bevorsteht, befällt die einen oder anderen Politiker eine plötzliche Aktivität, die ich mir nur mit der so genannten „Torschlusspanik“ erklären kann. Die Ursprünge des Begriffs gehen aufs Mittelalter zurück, als man rechtzeitig vor Einbruch der Dunkelheit die schützenden Mauern der Stadt erreichen wollte, bevor die Stadttore sich geschlossen haben. Wollte man später hinter die Mauer, konnte man das oft auch durch eine kleine Seitentüre, die bewacht war. Für das Passieren musste man dann eine Gebühr entrichten, die nicht für alle leistbar war.

Aktuell wird die Regierung von einigen ihrer angekündigten und noch immer nicht umgesetzten Vorhaben eingeholt. Die nun nach außen hin selbstverständlich zu verbergen versuchte, im Inneren aber deutlich spürbare Sorge, man könnte das eine oder andere Vorhaben nicht mehr umsetzen, lässt so manche Unruhe aufkommen, die durchaus das Potential hat, dass sich die Koalitionspartner noch handfest zerkrachen. Aber auch hier sind alternative Lösungen nicht undenkbar, sie haben halt ihren Preis und nicht selten muss man dafür nicht nur die Seiten-, sondern eine Hintertüre finden. In der nach einer wie üblich langen Sommerpause – in der sich die Volksvertreter ihren eigenen Angaben zufolge intensiv unters Volk mischen – nun startenden letzten „Parlamentssaison“ dieser Legislaturperiode ergibt sich diesbezüglich sicher noch die eine oder andere Option, um alles auf die Reihe zu bringen.

So zum Beispiel das Informationstransparenzgesetz, mit der das in Österreich gefühlt schon ewig geltende Amtsgeheimnis aufgehoben werden soll, das aktuell noch eine dieser noch ungelösten Materien ist. Hier haben die Regierungspartner schon einen Ausweg gefunden, in dem sie nur große Städte und Kommunen tatsächlich zur „völligen“ Transparenz verpflichten wollen. Der Widerstand so manches Bürgermeisters, der sich auf den erhöhten Arbeitsaufwand und die damit verbundenen Kosten wegen der Neueinstellung von Personal beruft, hat offenbar Früchte getragen und diese typisch österreichische Lösung produziert. In Wahrheit wird wohl eine ganze Menge Selbstzweck hinter dieser Begründung stecken – denn Ortskaiser bleibt man vor allem deswegen, weil man die Macht über die Informationen besitzt und diese zielgerichtet (aus)nutzt.

Auch die nächste Stufe der Steuerreform wurde dieser Tage angekündigt. Mit 2024 werden die Steuerstufen angepasst – und zwar alle. Das bedeutet, dass man erst mit einem um 6,6% – 9,6% höheren Einkommen die nächste Progressionsstufe erreicht und erst mit einem Jahreseinkommen von über 12.816 Euro (2023: € 11.693,-) tatsächlich steuerpflichtig wird. Nur jene, die über eine Million im Jahr verdienen werden weiterhin mit 55% zur Kasse gebeten.

Zudem – so hat der Bundeskanzler zuletzt angekündigt – werde es in Sachen der offenen und noch nicht besetzten Spitzenposten etwa in der Bundeswettbewerbsbehörde oder dem Bundesverwaltungsgericht eine Einigung und für die Zukunft eine neue gesetzliche Regelung geben, die eine Postenbestellung ohne Einflussnahme der Politik ermöglichen soll. Trotz eines von den Regierungsparteien abseits ihres Regierungsprogramms unterzeichneten Sideletters dazu spießt es sich in dieser Frage nämlich gewaltig. Wir erinnern uns, dass die Grünen nach dem Bekanntwerden dieses Traktats gehörig in die Bredouille kamen. Diese Tatsache geriet aber angesichts des Auftretens des Covid-19-Virus schnell in Vergessenheit, poppt aber nun zu ungünstiger Stunde wieder auf. Der amtierende Vizekanzler sah darin damals – so wie auch heute – kein großes Problem, so sei eben Realpolitik. Und auch die Initiative des Kanzlers für ein neues Gesetz wird wohl eher dem bevorstehenden Wahlkampf geschuldet sein, ist doch Anlassgesetzgebung möglicherweise populistisch erfolgreich, historisch gesehen jedoch niemals die beste Lösung.

Die Augen vor der Realität im von ihm verantworteten Schulsystem verschließt Bildungsminister Polaschek seit seinem Amtsantritt und entzieht sich damit der auch dort längst aufgetauchten Torschlusspanik, in dem er sich in einem aktuellen Interview mit den Oberösterreichischen Nachrichten in PR-Rhetorik übt und unausgebildete Quereinsteiger als Asset bezeichnet. Ich frage mich schon seit längerem, wann das Bildungssystem endlich implodiert und damit der längst nötige Platz für etwas Neues frei wird. Obwohl auch hier zu befürchten steht, dass wir auch dieses Problem auf der gleichen Bewusstseinsebene zu lösen versuchen, auf der es entstanden ist und damit halt einmal mehr von vorne beginnen, um letztendlich das gleiche wieder zu erschaffen. Es wird höchste Zeit, ihm ein E-Mail aus der Idealism Prevails Redaktion zukommen zu lassen – so wie wir das schon an seine Amtskolleginnen Klaudia Tanner und Claudia Plakolm gemacht haben. Auch wenn er womöglich die gleiche Hintertüre benutzen wird, wie diese beiden, in dem er eine Reaktion verweigert. Volksvertretung und Volksnähe sehen anders aus.

Auch von der derzeit amtierenden EU-Kommission wird gerade die letzte Runde gedreht und so ist die Rede zur Lage der EU von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wohl schon so etwas wie eine erste Wahlkampfrede – auch wenn sie nicht direkt vom Volk gewählt werden kann. Sie entwirft darin ihren Plan zur Osterweiterung der Europäischen Union, Ukraine inklusive. Um neue Mitgliedsstaaten stemmen zu können, brauche es aber eine Reform des Staatenbündnisses, der in einem europäischen Konvent beraten und beschlossen werden soll und womöglich zu einer Änderung der Verträge führen wird. Sie besänftigt ihre eigenen Fraktionsmitglieder, indem sie die Landwirte lobt, den von diesen kritisierten Green Deal aber mit keinem Wort in Frage stellt. Endgültig lösen möchte sie das Thema Migration und lobt die Vereinbarung mit Tunesien als Blaupause für weitere Abkommen mit jenen Ländern, aus denen die Flüchtenden stammen – wider besseren Wissens. Auch der europäischen Autoindustrie stellt sie eine Subventionsprüfung für chinesische Autobauer in Aussicht, um sie damit zu beschwichtigen – zumindest bis nach dem Wahltag. Von Bedürfnissen und Wünschen der Bürger ist in der gesamten Rede nichts zu hören, sie werden einfach ignoriert. Dass das Projekt EU aber gerade an ihnen scheitern könnte, scheint für sie nicht im Fokus zu stehen.

Die Torschlusspanik im ORF, die auch die Politik unter Druck gebracht hat, verebbt langsam. Man hat dem Staatsfunk mit dem neuen Gesetz eine ausgezeichnete Grundlage gegeben, die Information im ganzen Land zu dominieren. So ist es diesem ab 2024 möglich, seine Social Media Aktivitäten wieder aufzunehmen. In einem ersten Schritt geplant ist ein Youtube-Kanal für die Zeit im Bild, womit die durch die ORF-Haushaltsabgabe finanzierte Beiträge der Datenkrake aus dem Metaverse reichlich Werbeeinnahmen bescheren.

Apropos Haushaltsabgabe: Der Generaldirektor des Österreichischen Rundfunks hat sich bei seiner vom Blatt abgelesenen Rede anlässlich der Vorstellung des neuen ORF-Programms für 2024 als Meister der zumindest unaufrichtigen Nachrichten erwiesen. Er wiederholte gebetsmühlenartig, dass sein Sender mit weniger Geld mehr Programm mache, was sich bei einem „Fakten-Check“ allerdings nicht beweisen lässt. Tatsächlich wird der Beitrag, den man für den ORF zu zahlen hat, geringer, da es aber eine wesentlich Erweiterung des Kreises der Zahler gibt, stehen ihm letztlich rund 44 Millionen Euro mehr zur Verfügung. Wenn der Mann an der Spitze einen solchen Zugang zur Wahrheit hat, wäre es nicht verwunderlich, wenn seine Mitarbeiter es ihm (weiter) gleich tun. Das neue Sendeangebot selbst erschöpft sich in Infotainment.

Dass Nachrichten nicht wirklich der letzte Schrei sind, beweist auch die Tatsache, dass die großen Social Media Plattformen, u.a. Facebook und X (vormals Twitter) den Newsfunktionen ihrer Dienste an den Kragen gehen und diese zum Teil sogar gänzlich einstellen. Auch hier wird künftig also fast ausschließlich dem Infotainment gehuldigt.

Noch ein Nachsatz zum ORF: Der Chefredakteur der Wochenzeitung Falter, Florian Klenk, bricht zumindest eine halbe Lanze für Christian Wehrschütz. Er konstatiert in einem Kommentar, dass Kiew nicht bestimmen dürfe, wer für den Staatsfunk aus der Ukraine berichte. Gleichzeitig setzt er sich aber dafür ein, dass der Korrespondent einen „Aufpasser“ in Form eines gleichberechtigten Kollegen an die Seite gestellt bekommt, damit solche Fehler wie mit dem falschen Bildmaterial und einem von der russischen Propaganda beseelten Beitrag nicht mehr vorkommen.

Vielleicht ist das ja in Zukunft alles nicht mehr notwendig, wenn Elons Musks nun erlaubter Menschenversuch mit Gehirnimplantaten erfolgreich verläuft. Aktuell geht es um das altruistische Ziel, gelähmten Menschen ihre Beweglichkeit zurück zu geben. Die Zweifel, dass dies das einzige Ziel ist, keimen aber bei der ganz offenherzig von Militärs zur Schau gestellten Perspektive man könne dadurch den Supersoldaten schaffen, ganz unbarmherzig auf. Á la longue könnte man auf diese Weise das lästige Denken der Spezies Mensch abschaffen und alle zu treuen und funktionstüchtigen Staatsbürgern machen – ein Ziel, das zu erreichen keinem Bildungssystem der Welt, trotz aller Versuche, je wirklich zur Gänze gelungen ist.

Bei solchen Vorhaben könnte einen schon ganz locker eine weitere Torschlusspanik befallen, nämlich jene vor dem endgültigen Ende der Menschheit, wie wir sie kennen. Nun – davon möchte ich abraten, sind Panik und Angst die schlechtesten Ratgeber, um andere, bessere Lösungen zu finden. Der Faktor Mensch, so unzuverlässig und fehlerhaft er auch sein möge, ist immer noch die beste Basis, um eine gute Zukunft zu gestalten. Es braucht dazu weder Chips noch Führer, die sagen, wo es lang geht. Es braucht dazu Menschen mit Herz und Hausverstand. Glücklicherweise kenne ich – und so sicher auch jeder von uns – eine ganze Menge von diesen.

Bildrechtelinks:

Elon Musk: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Elon_Musk_Royal_Society_%28cropped_2%29.jpg

Ursula von der Leyen: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ursula_von_der_Leyen_presents_her_vision_to_MEPs.jpg

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WG – 2023 KW37-YOUTUBE-PC Wolfgang Müller CC BY SA 4.0