Eine unschuldige Wunschliste

Titelbild - Straßenkind - Kalkutta
Meinung

Manche Erlebnisse ändern unsere Sicht auf Angelegenheiten, mit denen wir uns nur widerwillig befassen, sofern wir sie nicht gleich völlig ignorieren. Solche Begegnungen wühlen etwas auf in uns, das uns glücklicherweise dabei hilft, aus unserem tiefen Schlummer der Gleichgültigkeit zu erwachen. Mein zufälliges Zusammentreffen mit Rani war ein solches Erlebnis.

In einem meiner früheren Artikel schrieb ich über die ungeliebten Straßenkinder der indischen Städte. Und ich möchte sagen, dass die Ansichten und Meinungen, die ich in diesem Artikel ausdrückte, ein Fazit meiner Zufallsbekanntschaft mit Rani waren. Hier will ich nun von diesem Zusammentreffen mit ihr berichten und von all dem, was sie mir innerhalb weniger Minuten erzählte: Wünsche, die so einfach sind, aber dennoch ans Herz gehen.

Ich traf Rani am Connaught Place im Herzen von Neu-Delhi. Dies ist nicht nur das wichtigste Finanz- und Geschäftszentrum der Stadt, hier gibt es auch Galerien mit zeitgenössischer Kunst, Kinos, hochklassige Restaurants, Bars und Schaufenster.

Connaught Place ist immer voller Menschen, die entweder mit Shopping beschäftigt sind oder einfach nur herumbummeln oder sich entspannen. Daher sind solche Orte immer auch voll von Straßenkindern und Bettlern, die ihr Bestes tun, um von den Besuchern ein paar Almosen zu erhalten.

Ich saß auf einer Bank am Connaught Place und wartete auf einen Freund. Dabei beobachtete ich zwei Straßenkinder, die gerade versuchten, etwas Geld von einem verheirateten Paar zu erbetteln. Das Paar machte einen genervten Eindruck und tat alles, um die Kinder zu ignorieren. Nach einer Weile sah eines dieser Kinder, wie ich sie beobachtete, und kam zu mir herüber. Als das Mädchen mich erreicht hatte, sagte sie mechanisch wie ein Papagei: „Gib mir Geld, ich habe Hunger!“ Doch schien sie gleichzeitig völlig desinteressiert an den Worten, die sie aussprach.

Ich fand sie sehr süß und sagte ihr, sie solle sich zu mir setzen. Doch sie lehnte ab und fragte weiter nach Geld. Ich gab ihr einen 20-Rupien-Schein. In dem Moment, in dem sie den Schein in ihrer Hand hielt, erglühte ein helles Lächeln auf ihrem Gesicht. Sie hatte wohl nur ein paar kleine Münzen erwartet.

Sofort setzte sie sich neben mich. Ich war überrascht und fragte sie, ob sie nicht weitergehen und noch andere Leute nach Geld fragen müsse. Ihre Antwort war: „Mein Ziel für heute habe ich erreicht. Jetzt kann ich tun, was ich will.“ Ich wusste nicht, dass diese kleinen Straßenkinder sowas wie ein „Tagesziel“ haben, wie Erwachsene, die im Marketing arbeiten.

Doch ich konnte mir denken, was sie meinte: Sie arbeitete wahrscheinlich für Leute, die Kinder als Bettler beschäftigen, denn kein Kind würde seinen Tag mit Betteln verbringen, wenn es nicht von irgendwem dazu gezwungen würde.

Ich wollte mehr über sie erfahren und begann Fragen zu stellen. Zuerst antwortete sie nicht, weil sie so damit beschäftigt war, das Geld zu zählen, das sie an diesem Tag eingesammelt hatte.

Ihre kleinen Hände, bedeckt mit Schmutz, sahen so süß aus, als sie die Münzen und Geldscheine zählte. Und ich fand es noch süßer, als ich bemerkte, dass sie kaum zählen konnte.

Ich bot an, ihr ein Eis zu kaufen, und diesmal sah ich ein noch helleres Leuchten in ihrem Gesicht, als sie das Wort „Eis“ enthusiastisch wiederholte. Sie begann das Eis genüsslich zu verputzen, und nach ein paar Minuten erzählte sie mir, sie würde Eis so sehr lieben, dass sie den ganzen Tag betteln würde, wenn sie jeden Tag eins bekommen würde. Ihre Worte waren wie ein Stich ins Herz, und ich fühlte einen scharfen Schmerz der Schuld.

Ich fragte sie, was sie mochte und was sie sich wünschte. Nun endlich zeigte sie Interesse daran, mit mir zu reden, und begann, mir von sich und ihren Wünschen zu erzählen. Was ich hörte, versetzte mich für die nächsten paar Tage in eine sehr nachdenkliche Stimmung.

Ihr Name ist Rani. Über ihren Vater weiß sie überhaupt nichts, und ihre Mutter starb vor einigen Jahren. Seitdem lebt sie mit ein paar anderen Straßenkindern zusammen. Sie hat keine Ahnung, wie alt sie ist. Sie bettelt vom Mittag bis zum Abend; manchmal schafft sie es, mehr Geld zu sammeln als das Ziel, das ihr vorgegeben wird, aber meistens erreicht sie es nicht. Wenn das passiert, wird sie geschlagen. Sie sagte mir, dass sie sehr oft geschlagen wird, vermied es aber, mir irgendetwas über die Leute zu erzählen, die das tun.

Sie liebt es, mit Puppen zu spielen, hat aber schon seit vielen Jahren keinerlei Spielzeug mehr. Sie besaß nur eine einzige Puppe, und die hat sie verloren. Sie hätte gerne so eine Puppe, wie sie die Straßenhändler in den Straßen um den Connaught Place verkaufen. Sie möchte hübsche Kleider tragen wie andere Kinder, besonders welche mit Rüschen. Als sie mir im Detail beschrieb, was für ein Kleid sie gerne hätte, schmolz mein Herz dahin! Sie möchte auch Lippenstift und Ohrringe tragen und hätte gerne High Heels wie die Frauen, die zum Connaught Place kommen.

Sie wünscht sich, mal ein Auto von innen zu sehen. Sie würde gerne mit dem Bus irgendwo hinfahren, auch wenn sie nicht weiß, wohin. Sie würde gerne eine Schuluniform tragen, will aber nicht lernen. Sie würde gerne mal in einem der Restaurants in der Umgebung essen. Sie zeigte auf eines davon und sagte, sie habe von einem ihrer Freunde gehört, dass das Essen dort sehr gut sei. Ein Tourist hatte ihren Freund einmal dorthin eingeladen. Es war ein McDonald’s.

Sie war fertig mit dem Eis. Sie sah mich an und sagte, dass sie nun gehen müsse. Ich bat sie zu warten, ich würde ihr eine Mahlzeit bei McDonald’s kaufen. Sie begann vor Glück und Aufregung auf und ab zu hüpfen. Als sie die Papiertasche mit dem Essen in der Hand hielt, lächelte sie und sagte mir, dass sie es mit ihren Freund teilen wolle. Damit rannte sie zu ein paar anderen Straßenkindern hinüber.

Ich war sehr glücklich, als ich ihre Aufregung und ihre Freude sah. Mir wurde klar, dass schon ein kleines bisschen Liebe und Zuwendung einen sehr großen Unterschied machen kann für ein Kind, das auf der Straße lebt.

Übersetzung Englisch-Deutsch: Martin Krake

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Titelbild - Straßenkind - Kalkutta Titelbild – Straßenkind – Kalkutta Biswarup Ganguly CC BY-SA 3.0