Ent-artet
„Österreich verzeichnet die niedrigste Geburtenrate seit dem zweiten Weltkrieg“ lautet eine Meldung auf Salzburg 24 vom 28. Mai 2024.
Während in unserem Nachbarland Ungarn beispielsweise kinderreiche Familien mit einer Befreiung der Umsatzsteuer auf alle Käufe belohnt werden, sehen sich Familien in Österreich mit Problemen konfrontiert wie raren Krippenplätzen, deutlich steigenden Lebenshaltungskosten, die das Reduzieren von Arbeitsstunden oder eine ausgedehnte Karenz nicht ermöglichen, und kaum leistbarem Wohnungen samt Betriebskosten und Energie.
Immer mehr Paare schrecken davor zurück, in den Wahnsinn des Alltags auch noch ein Kleinkind zu inkludieren, abgesehen von der Betreuung und Erziehung fallen nicht nur höhere Kosten sondern auch mehr Arbeit durch waschen, putzen und kochen an – das alles klingt nach vorprogrammiertem Burnout.
Hilfe in der Familie ist keine Selbstverständlichkeit mehr. Viele Frauen bekommen immer später Kinder, somit sind die Großeltern teilweise schon zu alt, um in der Kinderbetreuung entsprechend mitzuhelfen oder haben Krankheiten wie Diabetes, Krebs oder Bluthochdruck oder sie werden immer vergesslicher.
Zivilisationskrankheiten
Während Diabetes, Krebserkrankungen und Schlaganfall in vielen Altersgruppen voranschreiten, steigt auch die Zahl der Menschen mit Demenz rapide an.
Parallel dazu sehen wir bei Kindern eine massive Erhöhung der kassenärztlich verordneter Tagesdosen von Methylphnidat, um den Problematiken von Lernstörungen und Aufmerksamkeitsdefiziten entgegenzusteuern.
Die meisten dieser Krankheiten gab es bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch nicht oder in verschwindend kleiner Fallzahl. Oft wird die Ursache dieser Krankheiten auf die höhere Lebenserwartung zurückgeführt. Wenn man früher durchschnittlich mit beispielsweise 65 verstarb, war man schlichtweg zu jung für Alzheimer. Das ist aber ein Trugschluss, denn die geringere Lebenserwartung in den vorherigen Jahrhunderten bedeutete nicht, dass alle Menschen deutlich früher starben. In vielen Fällen lässt sie sich mit der damals deutlich höheren Kindersterblichkeit vergleichen, die somit den Altersdurchschnitt nach unten gedrückt hat. Genauso wie heute gab es auch im 19. Jahrhundert nicht wenige Menschen, die den 80. Geburtstag erreichten oder den 90. Aber auch bei diesen Menschen waren Demenz und Alzheimer praktisch unbekannt.
Die Lebensweise macht uns krank
Wenn wir heute mit einer massiven Anzahl von gesundheitlichen Problemen zu kämpfen haben, die es früher nicht gab, so lohnt es sich hinzusehen, was heute anders ist als damals. Fast alles, würde ich meinen:
Die Familienstruktur, die Beziehungen, das Zusammenleben, die Arbeitsweise, die kindliche Entwicklung, die Ernährung, die körperliche Betätigung. Einzimmerwohnungen mit 35 bis 40 Quadratmetern boomen in den Städten, weil immer mehr Menschen alleine leben. Wenn Paare überhaupt heiraten, so wird etwa die Hälfte dieser Ehen wieder geschieden. Selbst intakte Familien funktionieren anders als früher, als ein Elternteil (zumeist die Mutter) sich um die Kinder und die Wohnung und der andere Elternteil um das Einkommen gekümmert hat. Kinder werden immer früher fremdbetreut, halten sich deutlich mehr Stunden als früher in Institutionen, somit außerhalb der Familie auf, spielen dort auf eine völlig andere Art und Weise als früher und werden aufgrund mangelnder Zeit zum Kochen mit mehr „E’s“ und Geschmacksstoffen durch Fertiggerichte ernährt.
Egal welchen Bereich man näher betrachtet, der Mensch lebt nicht mehr menschengerecht. Genau das ist es, laut dem Molekulargenetiker und Privatdozent Dr. Michael Nehls, was uns krank macht. Dr. Nehls ist eine wissenschaftliche Koryphäe mit dem Spezialgebiet Genetik und hat Technologien zur Erkundung von Erbkrankheiten revolutioniert. Seit gut 20 Jahren befasst er sich damit, wie wir dem Altern entgegenwirken können und hat deshalb weltweit beobachtet, was Menschen anders machen, die sehr alt werden, dabei aber gesund bleiben und nicht an Alzheimer erkranken.
Er nennt sein Konzept die „Methusalemstrategie“, in der er klar festmachen kann, wie es gelingt, bis ins hohe Alter gesund und geistig fit zu bleiben: durch eine Kombination aus Bewegung, der richtigen Ernährung und einem persönlichen Lebenssinn.
Alte Menschen in Heimen sitzen viel zu viel herum und bewegen sich zu wenig. Wie qualitativ hochwertig die Ernährung ist, ist möglicherweise vom Heim abhängig und sollte nicht pauschal verurteilt werden, was die Menschen dort aber völlig verlieren, sind Aufgaben, ganz zu schweigen von einem tatsächlichen Sinn im Leben. Wie maßgeblich dieser ist, zeigt ein Vergleich zwischen der Lebenserwartung von Menschen und Schimpansen, genetisch betrachtet unseren nächsten Verwandten.
Die Evolution der Großmutter
Schimpansen werden etwa mit 14 Jahren geschlechtsreif und bleiben fortpflanzungsfähig bis etwa 45, also ähnlich zur Fruchtbarkeit von Frauen. Während aber Schimpansen nur etwa 50 Jahre alt werden, ihr Leben also 2-5 Jahre nach ihrer Menopause endet, scheint die Lebenserwartung von Frauen nicht an die Fähigkeit gekoppelt zu sein, selbst noch Kinder bekommen zu können. Aus der Perspektive der Natur gibt es keinen biologischen Vorteil mehr für Schimpansen weiterzuleben, beim Menschen aber schon.
Bis etwa zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es in jenen Familien, in denen die Großmutter noch in der Familie war, durchschnittlich zwei Enkel mehr, die erwachsen wurden. Das zeigt eine direkte Verbindung zwischen der Langlebigkeit der Großmutter und dem erfolgreichen Überleben der Population, noch über den Zeitpunkt hinaus, zu dem Frauen nochmal Mutter werden können. Biologisch betrachtet kann die alternde Frau trotzdem ihre Gene weitergeben, indem sie dafür sorgt, dass ihre Tochter oder Schwiegertochter Kinder bekommt, die das Erwachsenenalter erreichen. Dadurch entwickelt sich die Langlebigkeit des Menschen aber nur dann, wenn die Großmutter tatsächlich dazu beitragen kann, die Enkel zu betreuen.
Eine Aufgabe bzw. einen Sinn im Leben zu haben, wirkt sich wiederum auf die Neurobiologie aus, weil dadurch Gehirnzellen neu gebildet werden, die Alzheimer nicht entstehen lassen. Das Erfahrungswissen der Großmutter wird nicht gedanklich überschrieben, sondern wächst weiterhin stetig an, wobei im Hypocampus genauso Nervenzellen nachwachsen, wie bei einem 18 oder 20 Jahre alten Menschen. Bei der Großmutter im Seniorenheim, die keine Aufgabe mehr hat, bilden sich keine neuen Nervenzellen. Der geistige Verfall schreitet voran.
Wie wir Alzheimer wieder loswerden
Diese Erkenntnisse zeigen deutlich auf, dass wir das Zusammenleben in mehreren Generationen brauchen und dass beim Separieren von Jung und Alt Krankheiten entstehen, die darauf zurückzuführen sind, dass unser Leben nicht artgerecht ist. Möglicherweise wird es irgendwann eine soziale Dynamik geben, bei der sich der Trend zur Single-Wohnung im Hochhaus, in dem die Nachbarn einander weder grüßen noch kennen, wieder umkehrt und Menschen wie einst in Großfamilien leben, Jüngere und Ältere wieder interagieren, wobei angebaut, geerntet, gekocht und gebacken wird, geredet, gespielt, gelernt und gelacht und genauso diskutiert und gestritten. Wer weiß?
Heute ist ein Leben auf diese Art schwer vorstellbar, das bedeutet aber nicht, dass wir auf den Generationenmix, der allen gut täte, verzichten müssen. Ich bin keine Gesundheitswissenschaftlerin, aber ich vermute stark, dass es der Sinn im Leben ist, der die Neuronenbildung im Hypocampus anregt und nicht die Blutsverwandtschaft. Es ist das Gefühl eine Aufgabe zu haben, gebraucht zu werden und zur Gesellschaft etwas beizutragen. Das muss sich nicht auf die leiblichen Enkel beziehen. Mit etwas Kreativität und gutem Willen lassen sich neue Betreuungsformen finden, bei denen alle Generationen profitieren:
Die Alten, weil sie wieder Sinn im Leben haben.
Die Eltern, weil sie ein besseres Gefühl haben, wenn ihr Kind fremdbetreut wird.
Und natürlich die Kinder, weil sie neue Bezugspersonen finden, die mit ihnen Menschlichkeit zeigen anstatt in Institutionen von bezahlten Professionisten nach den aktuellen Bildungsplänen erzogen zu werden.
Erste Projekte dazu zeigen sich schon – beispielsweise im oberösterreichischen Kremsmünster, wo ein Kindergarten in ein Seniorenheim eingezogen ist. Ähnliche Kooperationen, um Jung und Alt zusammenzubringen findet man auf verschiedenen sozialen Plattformen in den unterschiedlichsten Regionen.
Ein weiteres Projekt, das leider noch viel zu wenig bekannt ist, ist die „Essbare Stadt Andernach“, wo um den Stadtgraben anstatt Blumen eine große Zahl unterschiedlicher essbarer Pflanzen angebaut wurde, die auf ihre Art genauso hübsch anmuten, aber zusätzlich der Bevölkerung die Möglichkeit geben, sich davon zu bedienen. Ähnliche Aktionen gibt es nun auch in Düsseldorf, Kassel, Köln, Nürnberg, Bamberg, Krefeld, Bocholt und im österreichischen Dornbirn. Die Idee, der Bevölkerung kostenloses Gemüse zur Verfügung zu stellen kann durch die Einbindung Freiwilliger Unkraut-Jäter, Beeren-Pflücker und Pflanzen-Gießer erweitert werden, die sowohl aus dem Kindergarten als auch dem Seniorenheim rekrutiert werden könnten. Idealerweise paarweise, wobei die Kleinen vom Wissen der Großen profitieren und vieles ganz spielerisch über die Flora unserer Heimat lernen können. Das ist Lernen, das Spaß macht, weil es hirngerecht ist und dem Menschsein entspricht. Lernen, wie es früher stattfand.
Die „essbare“ Stadt muss nicht auf Burggräben oder Stadtgärten beschränkt bleiben. In vielen Großstädten gibt es schon einzelne vorsichtige Bürgeraktionen, bei denen ein paar Hochbeete vor dem Hauseingang oder vor einer Kirche aufgestellt wurden mit dem einladenden Schild „Greif zu!“, was viele der Anwohner oder Spaziergänger dankbar annehmen und sich die Vitamine einer Cocktailtomate, einiger Blätter frischen Basilikums oder einer kleinen Gurke, deren Krümmung nicht von der EU vorgeschrieben wurde, schmecken lassen.
Mit Aktionen wie diesen können hässliche zubetonierte Innenhöfen von Wohnanlagen zu begrünten essbaren Gärten umgestaltet werden. Wer sich dort bedient oder mithilft, tauscht sich dabei ganz selbstverständlich mit dem Nachbarn aus, der ebenfalls ein paar frische Salatblätter für das Abendessen erntet. Die Menschen im selben Haus haben einen Grund miteinander zu reden. Bei der nächsten Begegnung grüßen sie einander. Sie machen bei der Arbeit mit den Pflanzen ein wenig mehr Bewegung als in der kleinen Wohnung, erhalten Sonnenlicht, das dank der dadurch ausgelösten Vitamin D-Bildung ihr Immunsystem stärkt und können die hohen Lebensmittelkosten mit etwas Biogemüse und Biokräutern wettmachen.
Wenn auf diese Weise die Bewohner der Anlage nicht mehr anonym hinter verschlossenen Türen leben, sondern sich mit ihren Nachbarn bekannt gemacht haben, kann eine neue Form von Nachbarschaftshilfe entstehen. Die Pensionistin von nebenan holt vielleicht ein- oder zweimal pro Woche den Volksschüler vom Hort ab, was seiner alleinerziehenden Mutter einen zeitlichen Mehrwert bietet, um ein gesundes Abendessen zu kochen, das sich alle drei schmecken lassen.
Ob es handwerkliche Hilfe, Katzen füttern oder mit dem Hund Gassi gehen, Lesen üben oder Blumen gießen ist, etwas vom Supermarkt mitnehmen, den Mist runtertragen, Babysitten, Hausübungen kontrollieren oder Kuchen backen: jeder der möchte, kann sich einbringen. Jeder der möchte, kann Gutes tun, kann andere entlasten und darin einen neuen Sinn im Leben finden und sich trotzdem bei Bedarf jederzeit wieder in seinen eigenen privaten Bereich zurückziehen.
Vermutlich braucht es für den Anfang etwas Koordination und Unterstützung, um ein solches System ins Rollen zu bringen und um herauszufinden, wer welche Talente für die Gemeinschaft zur Verfügung stellen möchte. Aber sollte sich eine Idee wie diese durchsetzen und Menschen aller Altersgruppen eine Form von Zusammenhalt und Miteinander etablieren, das in moderner Form die Großfamilie von früher ersetzt, werden AD(H)S, Demenz, Lernschwächen, Burnout, Alzheimer und die anderen Krankheiten, die ein Symptom für eine erkrankte Gesellschaft sind, nach und nach wieder verschwinden.
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