Ich werde dich sehen, wenn die Adler wieder fliegen

Titlebild-Fantastischer Adler
Meinung

Der erste Indianer, den ich jemals sah, war eine Actionfigur aus Plastik von … Winnetou.

Sie führte zu einer heftigen Auseinandersetzung mit meiner ein wenig jüngeren Schwester, denn sie hatte die Figur von Old Shatterhand bekommen, die ich viel besser fand. Er hatte viel schönere Kleidung aus Kunstleder, und ich mochte zu dieser Zeit generell Winnetous feminines Haar nicht, vor allem, weil sein Schlangenlederstirnband aus Plastik beim Spielen dauernd runterfiel. Auch seine berühmte Silberbüchse sah für meinen Geschmack zu schick aus. Aber sein Pferd war toll!

So setzte ich meine brüderlichen Rechte mit Gewalt durch und endete mit dem blonden deutschen Cowboy, der auf dem noblen, kohlrabenschwarzen Ross des Apachen ritt … bis unsere Eltern einen Deal aushandelten, um meine wütende Schwester zu besänftigen, und so wurden wir Blutsgeschwister. Bald danach tauschten wir die Puppen gegen echte Ponies, die es zu unserem Glück gab, weil das Dorf, in dem wir lebten, kaum Einwohner, aber umso mehr Tiere und offenes Land hatte – und so ritten wir für viele Jahre gemeinsam.

Natürlich las ich die Bücher und sah die Filme. „Winnetou 3“ war der zweite Film, zu dem wir Kinder ins Kino mitgenommen wurden (ja, ich weinte, als Winnetou am Ende seinen Christus-Stunt machte); der erste war „Bambi“ (heute verachte ich alles von Disney). Doch das ganze Indianerzeug hat mich als Kind nie wirklich gepackt. Ich interessierte mich viel mehr für die griechischen und deutschen Mythen und Helden, ich bewunderte Prinz Eisenherz und alles, was mit König Arthur zu tun hatte.

Doch der Rote Mann ließ sich nicht so einfach besiegen. Ab 1981 besuchte ich ein Internat in der Nähe von Sacre Coeur, wo es üblich war, interessierte Menschen von außerhalb einzuladen, um die Schüler zu inspirieren.

Wir hörten Künstlern zu, Wissenschaftlern, natürlich auch Priestern … und: Mr. Yellow Hair, einem Repräsentanten der Lakota Sioux, der sich auf einer Vortragsreise durch Europa befand.

In jeder Stunde wurden an diesem Schultag ein paar Klassen gemeinsam, immer rund 80 Kinder auf einmal, in ein improvisiertes Auditorium in der Lobby geführt, wo sie sich gegenseitig im Produzieren von Lärm und Chaos zu übertreffen versuchten. Bis dieser Mann den Raum betrat und zu sprechen begann. Er war groß und hatte einen beeindruckenden Bauch, der sich zwischen einem engen T-Shirt und einer ausgeblichenen Jeans hervorwölbte (ein echter Bierbauch von einer Art, wie ich es nie wieder gesehen habe, bevor ich nach Tschechien umgezogen bin, wo dies der traditionelle Stil der Männer zu sein scheint; ich arbeite gerade an einem eigenen). Er trug langes, offenes Haar, ziemlich ungepflegt, in dem sich graue Strähnen mit rabenschwarzen vermischten.

Um ehrlich zu sein, erinnere ich mich an kaum etwas von dem, was er uns erzählte. Da es ein kulturell gemischtes Gymnasium war, sprachen einige von uns Englisch, und alle hatten Unterricht in dieser Sprache. Trotzdem musste der Lehrer übersetzen, weil vor allem die jüngeren von uns (ich war elf zu dieser Zeit) nicht viel verstanden.

Ich erinnere mich an eine noble Traurigkeit, eine distanzierte Stärke und Schönheit, das Gefühl eines weit entfernten Ortes und einer längst vergangenen Zeit. Ich erinnere mich, hingerissen gewesen zu sein von dem kreisförmigen Muster aus Sprache, Worten und wiederholten Phrasen, wie ein langsames gesprochenes Lied.

Die meisten der Kinder verloren ziemlich schnell die Konzentration, und so vibrierte der Raum vor unterdrückter nervöser Energie. Aus dem nachlässig versteckten Geflüster wurde deutlich, dass es einige Enttäuschung gab über diesen Indianer, der nicht in das Karl-May-Schema passte. Da war keine aristokratisch wilde Romantik. Gelbes Haar bemerkte das nicht – oder es interessierte ihn einfach nicht, ob er in irgendein Klischee passte. Er fuhr fort zu sagen, was er zu sagen hatte, streute hier und da einen Witz ein und ließ ein kleines Lächeln aufzucken, wenn dieser auf taube Ohren stieß. Als die Schulglocke läutete, die die Veranstaltung beendete, rannten alle nach draußen, vorbei an dem Mann, der stoisch stehen blieb.

Ich blieb zurück, benommen und verwirrt. Obwohl ich nicht allzu viel verstanden hatte, fühlte ich mich wie in Trance, ich fühlte mich, als ob mich etwas berührt hätte, das dichter, realer war als das, worüber wir normalerweise unsere Lehrer sprechen hörten.

Ich schämte mich für das Verhalten meiner Klassenkameraden und für meine Unfähigkeit, die mich daran gehindert hatte, alles zu verstehen, was gesagt worden war über große Nationen, frei durchstreiftes Land, offensichtliches Schicksal, vernichtete Kulturen, ärmliche Lebensbedingungen, den Weißen Büffel, den Weißen Verstand und den Roten Verstand … Als ich als Letzter langsam an dem großen Mann vorbeiging, wandte ich mich zu ihm, um ein paar Worte des Grußes, der Entschuldigung, irgendeinen Ausdruck von Respekt auszusprechen – doch alles, was herauskam, war ein wirrer Satz in einer unverständlichen Sprache von einem peinlich berührten Kind.

Doch er hörte mir zu. Sein Haar fiel nach vorne und umrahmte ein dunkelbraunes Gesicht, so rund wie der Vollmond, mit fast schwarzen, leicht schräg stehenden Augen, die sich ein wenig mit Tränen füllten. Sein Kopf nickte langsam, und der breite Mund formte ein sanftes Lächeln. „Ich werde dich sehen, wenn die Adler wieder fliegen“, sagte er und legte die Hand auf sein Herz.

Bald darauf schlug die Pubertät hart zu. Aufgrund einer „philosophischen“ Auseinandersetzung mit unserem Hauspriester wurde ich gebeten, nicht mehr als Messdiener bei der frühmorgendlichen Messe zu erscheinen. Das beendete meine Karriere als Ministrant, und ich begann ein Leben mit einer mehr säkularen Orientierung. Ich verließ das katholische Internat, und mein Interesse richtete sich auf weltlichere, genussorientiertere Angelegenheiten.

Da keine Jugendlichen meines Alters in der Nähe lebten und die Gesellschaft von Brüdern im Babyalter, Schafen, Vögeln und Bäumen mit der Zeit ihre Faszination verlor, meldete ich mich zusammen mit meiner Schwester in der Reitschule im Dorf jenseits des Hügels an. So gingen wir an sechs Tagen in der Woche mehrere Kilometer durch Wälder und über Felder zu den Pferden.

Dies ist der erste Teil einer Serie, von der noch weitere fünfzehn Teile folgen werden. Ich freue mich über eure Gesellschaft auf meiner Reise von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter!

Übersetzung Englisch-Deutsch: Martin Krake

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