Meine Erleuchtung durch den Fliegenden Holländer

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Lebenswelten

Wir hatten ungefähr 800 Kilometer bis Sydney zu fahren und noch nicht einmal die Hälfte geschafft. Weil wir so müde waren, entschieden wir, dass es sicherer sei, eine Schlafpause einzulegen. Wir wussten, dass es in Australien massenhaft Campingplätze gab, wir mussten nur einen davon finden. Ich lud eine App herunter und fand einen kostenlosen Campingplatz, der nicht allzu weit weg war. Wir fuhren hin – und fanden einen verlassenen Platz vor, ohne Licht und mit einer dubiosen Toilette.

(aus: Wir gewöhnen uns an den Fliegenden Holländer)

Nicht nur, dass wir unseren Campingwagen im schäbigsten Wohnmobilpark überhaupt parkten und uns entschieden, die Nacht tatsächlich dort zu verbringen, fühlten sich diese zwei Stunden Schlaf so an, als würden wir irgendwo da draußen übernachten … in Sibirien… völlig nackt. Australien in der Wintersaison zu bereisen, war nicht das, was ich mir darunter vorgestellt hatte. Andererseits dachte ich, dass ich mit dieser Reise zumindest nicht alle Tourismusklischees eines Sommers erfülle.

Die Temperaturen im Auto waren eisig, als wir aufwachten. Als ob das nicht genug wäre, wachte auch noch meine Freundin auf – schniefend. Es schien ein guter Tag zu werden. Mit verschlafenen Augen und noch nicht ganz wach, sprang sie auf den Fahrersitz und beförderte den Campingwagen ins Picknick-Areal. Ich öffnete die Tür, und die kalte Luft eines Wintermorgens durchdrang meine Nase. Das war so erfrischend, dass sich meine Stimmung gleich automatisch zum Besseren veränderte.

Meine Erleuchtung durch den Flying Dutchman 01

Frühstück. Nachdem wir uns ein wenig damit abmühten herauszufinden, wie wir Wasser für unseren Kaffee kochen konnten, bereiteten wir uns ein stärkendes Frühstück zu. Und das inmitten der Natur, was eine magische Wirkung auf mich und meine Freundin ausübte. Unsere Laune war ansteckend, und die Natur schien diese Glückseligkeit mit uns teilen zu wollen. Die Sonne streichelte warm meine Wangen, der Wind fühlte sich in meinen Händen weicher an und die Insekten umkreisten uns im Morgentanz.

Meine Erleuchtung durch den Flying Dutchman 02

Wir genossen unsere Umgebung und beschlossen, einen kurzen Spaziergang am Fluss zu machen. Ich kletterte auf einen Baum, was mir ein kindliches Gefühl von Freiheit verlieh, und entspannte mich in der Natur. Hier und dort wurde langsam offensichtlich, dass es bei dieser Reise nicht darum ging, die Dinge nach Plan zu verfolgen. Es schien vielmehr darum zu gehen, zu lernen, diese Gedanken zu überwinden, den Moment der Zeit genau zu deklarieren und das Leben in seiner Ganzheit zu betrachten; man lernt, die Geschehnisse einfach zu genießen und wertzuschätzen.

Meine Erleuchtung durch den Flying Dutchman 03

Vor diesem Hintergrund machten wir uns auf den Weg zu unserem nächsten Ziel. Es dauerte nicht lange, da entdeckten wir die überwältigende Explosion von Rottönen am Himmel. Der erste Sonnenuntergang, den wir von der Heckscheibe aus erlebten, schien die physische Bestätigung meiner früheren Gedanken zu sein. Diese Reise war so viel mehr als nur die gefühllose Beförderung eines verrosteten Campingwagens von Punkt A nach Punkt B. Im Gegenteil: Wir sollten wohl alles, was um uns herum und in uns geschieht, verinnerlichen. Die Reise geschah in der Reise selbst – die mentale Reise und die innere Selbstgestaltung der Reise, die sich in der physischen Welt abspielt.

Wir näherten uns unserem Ziel: einer weiteren Naturkulisse, diesmal in den Bergen. Wie John Muir zu sagen pflegte: „Die Berge rufen, also muss ich gehen.“Als wir den Berg hinauffuhren, konnten wir buchstäblich sehen, wie die Nacht über sein Königreich hereinbrach und die Dunkelheit sich verdichtete. Nun begann wieder unsere Campingplatz-Jagd, doch unser GPS führte uns weg von der Straße und mitten in den Wald.

Enlightened by the Flying Dutchman 04

Mit jedem Atemzug wurde es gruseliger. Der Wind wehte stärker, und die Äste der Bäume begannen ihren nächtlichen Walzer. Ein hypnotisierenes, aber auch beunruhigendes Erlebnis.

Je tiefer wir in den Wald eindrangen, desto stärker konnten wir den bösen Geist des Waldes spüren. Die Zweige bewegten sich derart aggressiv, als wollten sie uns zu ihren Gefangenen machen. Die Tiere machten gespenstische Geräusche, und das Mondlicht fand keinen Weg mehr durch die dichte Dunkelheit.

Somit beschlossen wir, ins nächstgelegene Dorf zurückzufahren und dort einen Parkplatz zu finden. Plötzlich wieder im Rampenlicht des Mondes zu stehen, jagte uns Angst ein. Es ist schon komisch, wie sehr wir uns alle nach mehr Zeit in der Natur sehnen – aber nur unter unseren eigenen Bedingungen. Beim winzigsten Hauch des Bösen, des Chaos oder der Wildnis geben wir auf und kehren zurück in die Sicherheit der Gesellschaft.

Aber ist es dort wirklich sicher? Können wir es wirklich als „Sicherheit“ bezeichnen, was die heutige Gesellschaft uns zu bieten hat, oder handelt es sich hier nur um einen Mythos?

Die existenziellen Gedanken, die ich mir nun machte, betrübten mich und ich konnte nicht schlafen; so beschloss ich, das Schiebedach zu öffnen, in der Hoffnung, dass sich mein Verstand beim Anblick des Mondes lockern würde. Ich konnte den Mond nicht sehen, stattdessen kamen eine Million winzige Sternenlichter am Himmel zum Vorschein – und somit waren alle meine Gedanken wie weggespült. Ein surreales Erlebnis! Diese Lichter schienen so nah, fast zum Greifen nahe. Minuten später fühlten sich meine Augenlider schwerer an und am Morgen wurde mir klar, dass ich beim Sternengucken eingeschlafen war.

Ich wachte mit einem seltsamen Gedanken auf: Was wäre, wenn unser Fliegender Holländer eine Metapher für unsere Seelen wäre – vom legendären Geisterschiff inspiriert. So wie das Schiff dazu verdammt war, für immer die Ozeane zu befahren, scheinen unsere Seelen dazu verdammt, für immer durchs Leben zu segeln, auf der ständigen Suche nach seinem Sinn.

Meine Erleuchtung durch den Flying Dutchman 05

Vielleicht wollte der Fliegende Holländer uns eine Lektion erteilen? Vielleicht, und nur vielleicht, hätten wir die Kraft, dieser Fahrt Einhalt zu gebieten. Wenn wir realisieren könnten, dass alles, was von Bedeutung ist, bereits in uns steckt, könnten wir damit aufhören, den Schmetterlingen hinterherzujagen. Und wenn wir verstehen würden, dass alles, was sich in der physischen Welt abspielt, nur ein flüchtiger Moment der Zeit unserer innerer Reise ist, dann wären wir vielleicht in der Lage, das Leben in seiner Ganzheit zu erfahren.

Übersetzung Englisch-Deutsch: Anna Dichen

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Meine Erleuchtung durch den Flying Dutchman 03 Meine Erleuchtung durch den Flying Dutchman 03 Teo Dascal CC BY-SA 4.0
Meine Erleuchtung durch den Flying Dutchman 01 Meine Erleuchtung durch den Flying Dutchman 01 Teo Dascal CC BY-SA 4.0
Meine Erleuchtung durch den Flying Dutchman 02 Meine Erleuchtung durch den Flying Dutchman 02 Teo Dascal CC BY-SA 4.0
Meine Erleuchtung durch den Flying Dutchman 05 Meine Erleuchtung durch den Flying Dutchman 05 Teo Dascal CC BY-SA 4.0
Enlightened by the Flying Dutchman 04 Meine Erleuchtung durch den Flying Dutchman 04 Teo Dascal CC BY-SA 4.0
Enlightened Dutchman Cover Meine Erleuchtung durch den Flying Dutchman Teodora Dascal CC BY-SA