Was es bedeutet, Syrer in Gaziantep zu sein

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Meinung

„Syrien?“

Ich befinde mich in einer Apotheke in Gaziantep – ich habe Durchfall. Den die türkischen Volontäre übrigens „Fluch des Atatürk“ nennen. Durchfall hat also ein weiteres Opfer in unserem Freiwilligenhaus gefunden. Als ich versuchte, mit dem Apotheker auf Englisch zu kommunizieren, wurde ich gleich als Erstes gefragt: „Bist du Syrerin?“ Begleitet von einem Blick des Ekels, der sich aber plötzlich in Interesse verwandelt, sobald ich antworte: „Nein, ich bin Italienerin.“ Diese Gestik dieses Mannes in dieser kleinen Apotheke ist nur eine erste Vorstellung davon, was es bedeutet, Syrer in Gaziantep zu sein: Es bedeutet, extrem diskriminiert zu werden.

Einige Tage später laufe ich mit einem der Lehrer aus den Lernzentren – dort arbeiten wir als Freiwillige – durch den sogenannten „syrischen Bezirk“.

Wir werden allerorts gefragt, ob wir Syrer seien. Nein, sie wollen nicht unsere Namen wissen, sondern nur die Herkunft. Und sagt man ‚ja‘, muss man feststellen, dass das Verhalten blitzartig umschlägt. Einige werden unhöflich, andere erhöhen gleich die Preise, sofern man etwas kaufen will. Einige würden sogar wissen wollen, ob man kriminell oder gar ein Terrorist sei. Aber all das sind wir nicht: Wir fliehen vor unserer kriminellen Regierung und vor den Terroristen.

Im Gespräch schaut der Apotheker zu Boden, bis wir von einem Kind unterbrochen werden, das Tücher verkauft. Das Kind ist Syrer und arbeitet, wie viele andere Kinder, um seine Familie durchzubringen. Sie plaudern eine Weile miteinander, und der Lehrer an meiner Seite gibt ihm ein paar Münzen.

Kann man sich das vorstellen? Dass man von Kindern aus dem eigenen Land umgeben ist, und diese aber auf der Straße oder in Fabriken arbeiten – anstatt zur Schule zu gehen?

Ich biete dem Kind an, sich in unserem Lernzentrum ausbilden zu lassen. Es meint, es würde mit seinem Vater vorher darüber reden müssen. Das sei eine verlorene Generation, meint der Lehrer.

Unicef hat tatsächlich eine warnende Meldung ausgesprochen, dass Syrien seine Generation verliere: Insgesamt 2,7 Millionen syrische Kinder erhalten keine Bildung. In Gaziantep leben 400.000 Flüchtlinge sowohl in der Stadt als auch in den Lagern, und 50% der syrischen Kinder gehen dort nicht zur Schule. Die meisten von ihnen sitzen an einer Nähmaschine, um ihre Familien unterstützen zu können.

Es gibt eine Textilfabrik, in der Kinder direkt vor einem der Lernzentren, in denen wir ehrenamtlich tätig sind, arbeiten. Nur eine kleine Straße trennt die Kinder, die arbeiten müssen, von jenen, die eine informelle Bildung erhalten.

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„Meine Finger tun mir weh“, sagt die Mutter von A., einem 8-jährigen Kind, das früher in unser Lernzentrum kam, jetzt aber mit seiner Mutter in einer Textilfabrik arbeitet. Ich erinnere mich noch an ihre geröteten Finger. Der Vater von A. und ein weiteres kleines Mädchen verloren ihre Arbeit. Und nun lastet das Überleben der Familie auf den Schultern der Mutter und des ersten Sohnes.

A.s Vater erzählt, dass sie in Syrien alles gehabt hätten: ein großes Haus, Geld, Tiere, und seine Kinder konnten zur Schule gehen. Er besaß auch ein eigenes Geschäft und arbeitete für die Touristen in Palmira mit seinen Kamelen als Guide. Palmyra wurde erst kürzlich von den Daesh zerstört. In Gaziantep leben syrische Kinder, die nicht nur Tücher verkaufen und in Fabriken arbeiten, sondern auch Plastik und Dosen sammeln.

Heute ist es sehr heiß. Ich begegne zwei Kindern, die riesige Säcke voller Müll mit dem Doppeltem ihres eigenen Gewichts schleppen. Sie visieren gierig meine Dose, aus der trinke, an. Ich gehe zu ihnen und möchte in gebrochenem Arabisch etwas über ihre persönliche Geschichte wissen. Sie kommen aus Syrien, Aleppo, und sind 8 und 7 Jahre alt. Ich gebe ihnen meine Dose, die sie unaufhörlich anstarren.

Syrer in Gaziantep zu sein bedeutet, von Metalldetektoren und Inspektionen an den Eingängen der Lernzentren umgeben zu sein. Syrer sind nämlich Zielscheibe und werden gleichsam als Kriminelle angesehen. Als ich das erste Mal in eines der Lernzentren kam – an meinem zweiten Tag in Gaziantep -, schockierten mich diese extremen Sicherheitsvorkehrungen. Die Taschenkontrollen, die Checks am Eingang und die Körpervisitationen.

Syrer in Gaziantep haben übrigens auch niedrigere Löhne und höhere Mieten als Türken. Anders ausgedrückt heißt das, dass man für einen Syrer zuerst zehn Türken einstellen muss. Das Resultat sind dann Lernzentren mit vielen unqualifizierten türkischen Mitarbeitern pro einen qualifizierten syrischen Lehrer. Und wenn ein Volontär mit syrischen Leuten Tee trinken möchte, dann heißt das, dass die Türken nie kommen werden, außer um die Lage abzuchecken und vize versa.

Einmal organisierten die Syrer aus einem der Lernzentren einen multikulturellen Nachmittag sowie ein Abendessen zur Förderung der Integration zwischen Syrern und Türken. Nur ein einziger türkischer Volontär kam – und das ist nur ein Beispiel von hundert anderen, die ich da aufzählen könnte.

Das Gefühl, das für mich ganz stark wahrnehmbar ist, ist das Gefühl des Unbekannten – typisch für jene Orte, an denen Flüchtlinge eine normale Existenz wiederherstellen wollen. Das Leben ist geprägt von problematischen sozialen Situationen, die mehr oder weniger würdevoll sind. Und es ist mit großen Anstrengungen verbunden, diese Überbrückungszeit auch ertragen zu können.

Alle warten auf das Ende des Krieges. Die einen bemühen sich um ihre Eingliederung und Integration in die neue Realität, und die anderen hoffen, wieder nach Hause zurückkehren zu können.

Übersetzung Englisch-Deutsch: Anna Dichen

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Image Title Autor License
01_What it Means to Be Syrian in Gaziantep- 01_What it Means to Be Syrian in Gaziantep- Sara Marzorati CC BY-SA 4.0
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Diskussion (Ein Kommentar)

  1. Hallo liebe Sarah,
    Es tut mir leid, dass du so eine Erfahrung machen musstest.
    Ich selber bin Türkin und lebe in Deutschland.
    Ich war für zwei Wochen in meiner Heimatstadt Gaziantep, die ich nach 3 Jahren wieder besuchte.
    Ich war zutiefst verletzt und auch enttäuscht.
    Sowohl in Deutschland als auch in der Türkei leben momentan natürlich sehr viele Flüchtlinge. Ich muss aber sagen, dass das Fehlverhalten nun mal sehr sehr auffällt und im Vordergrund ist.
    Natürlich gibt es immer Ausnahmen, aber ich war dieses Jahr wieder im „Selale Park“ und ich fühlte mich nicht mehr wie in meiner wunderschönen Heimatsadt Gaziantep, sondern eher wie in Syrien. Überall wurde nur arabisch gesprochen und man wurde wirklich widerlich von arabischen jungen Männern angeschaut.
    In den Gassen kann man als Frau nicht mehr alleine laufen ohne dumm angegafft zu werden plus auf arabisch irgendwas noch hinterher gerufen wird.
    Es gibt Syrische Cafes in denen keine Türken eintreten dürfen?!
    Du berichtest über syrische Kinder die arbeiten müssen? Das gab es schon immer und es gibt auch leider immernoch türkische Kinder die das machen + die Bildung in der Türkei ist sowieso am Boden das gilt für alle Kinder leider!
    Die Einkaufszentren wie „Primemall, Sanko Park usw“ sind überwiegend mit Syrern die am Shoppen sind und ihr Leben genießen während im eigenen Land alles zerstört ist und dann aber hauptsache an „Opferfest“ wieder nach Syrien gehen?!?
    Also es tut mir Leid aber so sah meine wunderschöne Stadt vor drei Jahren nicht aus es gab damals schon ein paar Syrer aber so heftig war das nicht. Wer sich inkludieren möchte sollte sich anpassen und nicht denken dass er in syrien lebt. Deshalb klappt es auch nicht!
    Ich habe wieder das Museum „die Burg (kale)“ besucht um zu sehen wie damals für die Stadt gekämpft wurde mir kamen die Tränen und jetzt kann ich nur sehen wie aus dem eigenen Krieg geflüchtete Menschen ihr Leben genießen und unsere Stadt somit zerstören!
    Dann braucht man sich nicht wundern wieso die menschen sichch so verhalten!