Was schenken wir unseren Kindern #04 – Bildung

LebensweltenPädagogik neu gedacht

Ein Phänomen, das Schuljahr um Schuljahr immer wieder auftaucht, ist, dass sich so viele Kinder im letzten Kindergartenjahr auf die Schule freuen, um sich nach spätestens drei Wochen als Schüler der ersten Klasse desillusioniert und frustriert in die Zeit des Kindergartens zurückzuwünschen.

Lernen an sich ist eine Form der Weiterentwicklung, die in jedem Kind veranlagt ist. Es wird von dem Wunsch angespornt jene Fertigkeiten zu erwerben, die „die Großen“ können. Das zu erreichen, erfüllt Kinder mit viel Freude und Stolz. Die Spiegelneuronen feuern eifrig und sorgen für Motivation auf allen Ebenen. Das Lernen an sich kann also nicht der Grund sein, warum die „Tafelklassler“ nach wenigen Wochen vom Unterricht enttäuscht sind.

Das System, das Fehler sucht und diese Fehler zur Katastrophe macht

Liegt die Wurzel des Übels im System? In meinem vorangegangenen Beitrag „Was schenken wir unseren Kindern #3: Autonomie“ wird deutlich, wieso es sich seelisch gut und richtig anfühlt, Subjekt sein bzw. bleiben zu dürfen, während es Menschen jeden Alters das Gefühl der Würde nimmt, zu einem Objekt gemacht zu werden. Das System Schule verstärkt die Objektisierung von Kindern durch die Bewertung in einer Intensität, wie die Kinder es zuvor noch nie erlebt haben und Gott sei Dank in den meisten Fällen im Laufe des Lebens auch nicht mehr erleben werden.

In vielen Familien werden Kinder heute bewusst als Subjekt gesehen, dürfen ihr Potenzial entfalten und werden zu nichts gezwungen. Auch in Krippe und Kindergarten wird scheinbar noch die Entwicklung der kindlichen Persönlichkeit unter Berücksichtigung auf die Bedürfnisse des sozialen Umfeldes unterstützt, auch wenn hier das Vergleichen, Messen und Werten schon an der Tagesordnung ist. Dennoch sind die Kinder noch vergleichsweise frei, sich mit dem zu beschäftigen, worin sie gut sind und was ihnen Spaß macht. Doch dann kommt der Schulstart. Hier gibt es keinen Umgang auf Augenhöhe und keine individuelle Entwicklung den je eigenen Stärken entsprechend. Hier gibt es eine Form oder eine Model, in die jeder Schüler gepresst wird. Was ein Kind schon kann, wofür es ein Talent hat, wird nicht ausgebaut, denn das kann es ja ohnehin schon. Hingegen wird jeden Tag aufs Neue der Fokus darauf gelegt, was es nicht (gut) kann. Das führt dazu, dass Schüler schnell Angst vor Fehlern entwickeln. Aber gerade Fehler braucht es, um daraus zu lernen, wie es richtig geht. Was häufig falsch ist und nicht gekonnt wird, das muss geübt werden, um wenigstens auf ein Mittelmaß zu kommen. Manche Lehrer drohen sogar Straf-Lesen und Straf-Schreiben an, beispielsweise als Sanktion für unerwünschtes Verhalten, womit sie jegliche Freunde am Lesen oder Schreiben im Keim ersticken. Schule wird zur täglichen Qual, weil jeder dort genau das üben und trainieren muss, was er oder sie nicht kann, nur um es nach 9 bis 13 Jahren Wissensvermittlung, wenn diese Lebensphase endlich vorbei ist, so schnell wie möglich zu verlernen und zu vergessen. Was für eine maßlose Vergeudung an Energie!

Jeder Erwachsene würde eine Anstellung schnellstmöglich kündigen, in der ihm jeden Tag aufs Neue seine Fehler vorgeworfen werden anstatt durch die eigenen Fähigkeiten ein erfolgreiches Team zu verstärken, in dem jeder das einbringt, was er am besten kann. Niemand würde sich das gefallen lassen. Die Gewerkschaft würde sich einschalten. Psychologen würden vor Mobbing warnen. Der behandelnde Betriebsarzt sähe massive Gefahren, in ein Burn-out zu schlittern. Aber unseren Kindern muten wir diese Behandlung Tag für Tag zu.

Die Kinder, die nicht genügen

25.100 Schüler mussten im Schuljahr 2022/23 in Österreich die Klasse wiederholen. 25.100 Schülern wurde gesagt, dass sie nicht genügen. Sie sind nicht gut genug. 25.100 Schüler zwischen 7 und 18 Jahren wurden in ihrem Selbstwert zutiefst erschüttert, in einer Lebensspanne, die enorm prägend und maßgeblich für das weitere Leben ist. Was schenken wir diesen Kindern?
Erniedrigung; gebrochenes Selbstvertrauen; Hoffnungslosigkeit; manchmal Schulabbruch. Alles Folgen von Bewertung, die Kinder zu Objekten machen: gut – schlecht, eifrig – faul, begabt – unbegabt. Wie schnell werden Kinder mit fragwürdigen Attributen stigmatisiert, ohne dass jemand nachdenkt, was das mit ihnen macht.

Nachgedacht hat Ariane Buchler in ihrer Diplomarbeit „Sitzenbleiben“, durch die sie 2012 den akademischen Grad Magistra der Philosophie (Mag. phil.) am Institut für Philosophie und Bildungswissenschaft der Uni Wien angestrebt hat. Ganz abgesehen vom Schmerz, der Verzweiflung, der Scham, möglicherweise den Vorwürfen und auch den Folgen für den weiteren Lebensweg, hat sich Frau Buchler mit den Kosten des Repetierens beschäftigt. Die Berechnungen, die sie in ihrer Arbeit (siehe Seite 41) anführt, seien hier im Original zitiert:

„So errechneten Bildungsexpertinnen und Experten für die Arbeiterkammer Wien im Jahre 2009 einen Betrag von 888 Millionen Euro, der für das Sitzenbleiben ausgegeben wurde. Den größeren Teil dieser Kosten über 580 Millionen Euro, muss von den Familien selbst getragen werden. Dabei entfallen pro Kind Kosten in der Höhe von 20.720 Euro. Diese setzen sich zusammen aus 6.720 Euro für den Unterhalt und 14.000 Euro für den um ein Jahr späteren Berufseinstieg. Der Staat hat noch Kosten von insgesamt 308 Millionen Euro. Von dieser Summe entfallen 2.450 Euro pro Kind für die Familienbeihilfe und den Absetzbetrag. Dazu kommen 400 Euro für die Schülerfreifahrt, gefolgt von 150 Euro für Schulbücher und der Durchschnittsbetrag von 8.000 Euro für den Schulplatz in der Mittel- und Oberstufe.“

Was, wenn man die 888 Millionen Euro präventiv investiert?

Niemand, der auch nur ein bisschen Einblick in unser Schulsystem hat, kann wohl noch leugnen, dass dieses System massiv krank ist. Zu lange haben wir uns auf den Lorbeeren ausgeruht, die wir unter Maria Theresia im 18. Jahrhundert verdient haben. Was damals als fortschrittlich galt, bedarf ganz dringend einer umfassenden Reform, besser noch einem kompletten Abriss. Beim Neuaufbau muss an den Ursachen möglicher Schwierigkeiten angesetzt anstatt wie bisher nur die Symptome bekämpft werden.

Wer Magenschmerzen hat, kann eine Tablette nehmen. Dann ist der Schmerz kurzfristig weg, aber die Ursache der Magenprobleme bleibt bestehen. Sie kann nur mit den richtigen Maßnahmen beseitigt werden. Gegen die Schmerzen der Schule hilft keine Tablette mehr. Wir müssen die Ursachen anpacken und die sehen wir bereits in der frühkindlichen Entwicklung in den Krippen und in den Kindergärten. Wir sehen sie in der Sprachkompetenz, in der Mobilität, im Verhalten, in der Wahrnehmung, im sozialen Miteinander, in der Aufmerksamkeitsfähigkeit und am psychischen Zustand unseres Nachwuchses, aber es wird so lange zugesehen – oder auch weggesehen –, so lange darauf gewartet, dass sich das Problem „auswächst“, bis es sich nicht mehr ignorieren lässt. Dabei weiß jeder pädagogisch und psychologisch Tätige, dass Herausforderungen am schnellsten und leichtesten behoben werden können, wenn man sie möglichst früh anpackt.

Deshalb müssen jene Mittel, die zwangsläufig für wiederholte Schuljahre ausgegeben werden, präventiv eingesetzt werden. Lernschwächen und -störungen können von gut geschulten Fachleuten schon Jahre vor der Einschulung erkannt werden. 888 Millionen (Stand 2009 – vermutlich heute noch mehr) in frühkindliche Entwicklung zu investieren, reduziert die Wurzel des Übels massiv. Dazu gehört eine deutlich bessere Aufklärung der Eltern zu den sprachlichen und motorischen Meilensteinen, auf die die Entwicklung aufbaut. Dazu gehört, dass Wissen eingesetzt wird, das bisher im Sozial-, Gesundheits- und Bildungssystem nicht anerkannt wurde. Dazu gehört, dass nicht nur logopädische und ergotherapeutische Leistungen von der Sozialversicherung übernommen werden, sondern auch alle Trainings und Therapien zu altersentsprechender Wahrnehmung, Denkweise, Aufmerksamkeitssteigerung und Hörverarbeitung. Dazu gehört, dass die erkannten Hindernisse deutlich vor dem Schulstart bearbeitet werden und nicht erst in der zweiten oder dritten Klasse Volksschule oder noch später von Lehrern diesbezüglich vorsichtig Vermutungen geäußert werden. Dazu gehört eine umfassende Aufklärung der Lehrer, denn das Angebot in Schulen dazu ist mehr als dürftig. Dazu gehört ein völlig neu gedachter Schulplan, der sich an dem orientiert, was Menschen heute für ein erfolgreiches Leben benötigen.

Humanistische Bildung war viele Generationen lang das oberste Ziel. Trotzdem ist es jetzt an der Zeit sich die Frage zu stellen, ob sie heute noch sinnvoll ist oder ein romantisches Überbleibsel vergangener Bildungsideale bzw. welche die maßgeblichen Kompetenzen und Fähigkeiten der Menschen sind, deren Leben ab sofort von Künstlicher Intelligenz beeinflusst ist, ja die teilweise sogar mit ihr konkurrieren müssen.

Die unentdeckten Potenziale

Wenn wir den Mut zum Umdenken beweisen, wenn wir das gesamte System niederreißen und neu denken, wohin würden wir stattdessen kommen? Wohin jeder einzelne von uns? Wohin wir als Gesellschaft? Und wohin wir als Staat, wenn wir Kinder ihre angeborenen Stärken entwickeln ließen und sie im Spiel und im Lernen beobachteten, um genau herauszufinden, wo ihr individuelles Potenzial liegt? Wenn wir dann genau dort ansetzen, also die Interessen der jungen Menschen fördern, sie ihre Talente entdecken und ihre Ideen entwickeln ließen, käme kognitives Gedankengut ans Licht, das in dem aktuellen System der Mittelmäßigkeit völlig verschütt geht. Wir können es uns in vielerlei Hinsicht nicht mehr leisten, es ungenutzt zu lassen.

In einer Welt, in der das gefördert wird, was jeder von uns besonders gut kann, gehen Kinder gerne in die Schule, weil sie dort ihre Veranlagungen ausbauen und weiterentwickeln. So macht Lernen Spaß. So entwickeln sie sich zu erfolgreichen Erwachsenen, die das Gefühl haben, im Leben etwas zu erreichen, weil sie ihre Fähigkeiten für die Gesellschaft einbringen können. So werden Lehrer zu Begleitern eines authentischen Entwicklungsprozesses, anstatt tagtäglich an ihre nervlichen Grenzen zu stoßen. So wird ein Land wirtschaftlich erfolgreich und konkurrenzfähig, denn Spezialisierung macht nicht zum Fachidioten. Das kann sie gar nicht, weil die Grundlagen jeglichen Tuns so weit verzweigt sind, dass sie automatisch auf vielschichtigen Kompetenzen aufbaut. Der Unterschied liegt einzig darin, dass nicht jeder dieselben Kompetenzen benötigt, sondern er sie sich je selbst zusammenstellen sollte. Auf diese Art macht Spezialisierung glücklich, weil jeder für sich seine eigenen Interessen verfolgen kann. Selbstbestimmt. Frei. Kreativ. Würdevoll.

Würde und Respekt in Schulen

Sobald genügend Menschen selbst erfahren haben, wie es sich anfühlt, sich als Subjekt entwickeln zu dürfen, in sich selbst zu entdecken und für sich selbst zu entscheiden, was das Ziel im Leben ist, lassen sich Würde und Respekt auch in der Schule nicht mehr unterdrücken und wenn genug Kinder als Subjekte heranwachsen dürfen, wird auch der Institution Schule nichts anderes mehr übrigbleiben, als umzudenken – je früher, desto besser!

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PNG – 017-DE-PC Wolfgang Müller CC BY-SA 4.0
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