Was schenken wir unseren Kindern #07: Unversehrtheit

LebensweltenPädagogik neu gedacht

Das ist doch ohnehin eine Selbstverständlichkeit? Wirklich?
Wenn man einen Blick in die Zeitung wirft, scheinen physische und psychische Unversehrtheit von Kindern und Jugendlichen alles andere als eine Selbstverständlichkeit zu sein. Aber auch abseits der Horrormeldungen von misshandelten Babys, Gruppenvergewaltigungen von 13-Jährigen, die bis zum Tod führen kann, den aktuell vermeldeten Gräueltaten, die auf Epstein Island passiert sind, den pädosexuellen Skandalen in kirchlichen Institutionen, Schulen, ja sogar von Schweizer Chocolatiers oder den Sammlungen von über 76.000 Mediendateien eines österreichischen Schauspielers, auf denen Minderjährige gequält werden, ist die Welt für Kinder oft alles andere als heil, schön und bunt, sondern mit Kränkungen und Verletzungen, Übergriffen bis hin zu Gewalt durch Erwachsene im persönlichen Umfeld des Kindes verbunden, mitunter sogar durch die eigenen Eltern.

Was ist strenge Erziehung – was ist Gewalt?
Die Grenzen, was bereits eine Form von Gewalt ist und was im Rahmen der Erziehung noch zulässig ist, scheinen zu verschwimmen. So sind wiederkehrende verbale Beleidigungen, emotionale Erpressung, (Drohung mit) Liebesentzug, Einschüchterung und Manipulation Anzeichen emotionalen Missbrauchs, die gesellschaftlich geduldet werden. Wer schreitet schon ein, wenn ein Kind auf offener Straße unverhältnismäßig scharf kritisiert wird. Nach rund 70 Jahren Gewaltfreier Kommunikation nach Marshall T. Rosenberg, hat ein Großteil der Menschen noch immer nicht gelernt, einander liebevoll zu begegnen, selbst bei konstruktiver Kritik und dem notwendigen Grenzen-Setzen im Rahmen der Kindererziehung.

Wird von Kindesmissbrauch gesprochen, muss damit nicht gleich die brennende Zigarette gemeint sein, die auf der Kinderhaut ausgedämpft wird. Dennoch denkt man im ersten Moment eher an Schläge, übermäßige körperliche Bestrafung oder sexuelle Handlungen an Kindern, bedenkt dabei aber nicht, dass Missbrauch weit mehr als das ist. Er ist jegliche Art der Benutzung eines anderen Menschen gegen dessen Willen zum Ziel eigener Zwecke. Die dabei angewandte Gewalt kann unterschiedlichste Formen annehmen und beginnt schon bei der Vernachlässigung, bei der der Obsorgende nicht aktiv etwas tut, sondern Handlungen zum Wohl des Kindes unterlässt.

Beispiele von Übergriffen, die gesellschaftlich weitestgehend geduldet werden, sind anschreien, schütteln, zu fest an der Hand oder am Arm nehmen, lächerlich machen oder eine körperliche Distanz aufbauen, das Kind etwa in sein Zimmer schicken, also Nähe, Wärme und Liebe absichtlich entziehen. Diese Praktiken eines veralteten Erziehungsstils, von dem ich mir wünschen würde, er wären zusammen mit dem Dritten Reich untergegangen, werden noch immer als notwendiges, konsequentes Durchgreifen betrachtet. Tatsächlich sind sie aber ein Zeichen von mangelndem Respekt Kindern gegenüber und werden häufig mit der Überforderung oder Hilflosigkeit des Erwachsenen in der Erziehungssituation erklärt, verharmlost und schön geredet. Und wer fragt nach der Überforderung und Hilflosigkeit des Kindes nach solcher Behandlung?


Die nächste Stufe – sexuelle Handlungen
„Jede sexuelle Handlung, die an Mädchen und Jungen gegen ihren Willen vorgenommen wird oder der sie aufgrund körperlicher, seelischer, geistiger oder sprachlicher Unterlegenheit nicht wissentlich zustimmen können.“, ist die Definition von sexuellem Kindesmissbrauch nach der unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs

Weil es bei diesen Handlungen den Tätern nicht oder nicht nur um die Sexualität geht, sondern auch um das Ausüben von Macht, entstand der Begriff „sexualisierte Gewalt“. Die Opfer suchen häufig die Schuld bei sich, fühlen sich beschmutzt und genieren sich dafür, teilen sich niemandem mit und bleiben mit der Verwirrung und Angst alleine.

In vielen Fällen kann man bei dem Kind eine Verhaltensänderung feststellen oder es regrediert, also es fällt in Muster zurück, aus denen es schon heraus gewachsen ist, wie etwa unerklärliche Wutanfälle, die man aus der frühen Kindheit kennt, oder Einkoten und Einnässen.

Reagiert ein Kind überraschend negativ auf den Besuch einer Person, wird kontaktscheu, ängstlich, gehemmt oder zieht sich zurück oder zeigt überraschend heftige Abwehr oder Aggression, ist solches Verhalten ein Anlass, der Sache nachzugehen und den Grund herauszufinden. Auch Ausreden, warum es nicht mehr zum Sport, zu einem regelmäßigen Vereinstreffen oder zu einer Freundin auf Besuch gehen möchte, sollten Eltern hellhörig machen.

Kurz nachdem der Übergriff erfolgt ist, zeigen so gut wie alle Opfer Belastungsreaktionen. Sie sind aufgewühlt, ängstlich, unsicher, besonders wachsam, möchten den sicheren Schutz des Hauses nicht verlassen oder haben plötzlich Angst vor Fremden. Eine sehr wahrscheinliche Folge sexuellen Missbrauchs ist eine PTBS (Posttraumatische Belastungsstörung), die in Albträumen und Flashbacks im Wachzustand zum Ausdruck kommt. Flashbacks sind Situationen unkontrollierten, plötzlichen Wiedererlebens, die durch einen Schlüsselreiz hervorgerufen werden. Auch beim kleinsten Verdacht dahingehend ist es dringend ratsam, Hilfe durch Ratgeber und entsprechende professionelle Stellen zu suchen und anzunehmen.

Langfristige Folgen von sexuellem Missbrauch in der Kindheit oder im Jugendalter bedeuten für den Erwachsenen eine Störung seiner Sexualität, die sich in jeglicher Intensität zeigen kann, von besonders interessiert und übermäßig aufgeschlossen bis hin zu abweisend und vermeidend. Die mit dem Trauma verbundenen Erinnerungen an die seelischen und körperlichen Gefühle während des Missbrauchs wie Schmerzen, Wertlosigkeit, Wut und Scham werden in der Amygdala, einem Teil des limbischen Systems, in dem unsere Gefühle verarbeitet werden, abgespeichert. Viele Menschen haben bleibende Erinnerungen daran und müssen lernen, damit zu leben, während es aber auch Missbrauchsopfer gibt, denen es gelingt, ihre schrecklichen Erlebnisse zu vergessen.

Verhaltensmuster bei unerwünschtem sexuellen Kontakt
Man müsste davon ausgehen, dass es in den Situationen von sexueller Übergriffigkeit zwei Verhaltensweisen gibt: Sich zu wehren so gut man kann oder vor Angst wie gelähmt zu sein und alles über sich ergehen zu lassen.

Interessanterweise gibt es nicht nur bei Kindern und Jugendlichen, sondern auch bei Erwachsenen eine weitere Verhaltensweise während bzw. im Zusammenhang mit der Missbrauchssituation, die in der Psychologie als Bambi Effekt oder Fawn Response bekannt ist. Damit ist eine sehr komplexe Reaktion eines Opfers in einer Stresssituation gemeint, die davon geleitet wird, den Täter zu beschwichtigen, um weitere oder sogar schlimmere oder gewaltvollere Übergriffe zu vermeiden.

Beim Fawning ist es nicht selten, dass das Opfer seine eigenen Bedürfnisse vergisst oder verdrängt und sich auf den Täter einlässt, versucht ihm zu gefallen oder ihm zu helfen.

Unter anderem deshalb ist es so wichtig, von Anfang an das „Nein“ eines Kindes zu berücksichtigen, sogar zu verteidigen, wenn es um den Kontakt mit Bekannten oder Verwandten geht, die sich beispielsweise in Begrüßungs- oder Verabschiedungssituationen körperlichen Kontakt erwarten. Will ein Kind nicht gedrückt, geküsst oder umarmt werden oder will es nicht auf dem Schoß sitzen, dann ist der Wunsch des Kindes von den Eltern nicht nur zu akzeptieren, sondern unbedingt jedem Dritten gegenüber durchzusetzen, völlig egal ob sich der Erwachsene deshalb beleidigt fühlt oder nicht. Vom Kind zu erwarten, dass es gegen sein eigenes Gefühl und gegen seinen Willen körperliche Berührungen und Zuwendungen zu- und aushalten muss, ist ein völlig falsches Signal! Stattdessen muss es darum gehen, dass das Kind bestimmt, ob und bei wem es auf dem Schoß sitzt und wen es umarmt. Die Eltern haben dabei eine rein unterstützende Rolle, die das Kind in seiner eigenen Entscheidung bestätigt.

In diesem Sinne schließe ich diesmal mit einem Ausspruch, den ich kürzlich so oder sehr ähnlich von Gerald Hüther in einem Video gehört habe, in dem er über den Unterschied in der Entwicklung von Menschen und Tieren gesprochen hat. Dabei meinte er: „Liebe ist das unbedingte Interesse an der freien Entfaltung des geliebten Meschen.“

Credits

Image Title Autor License
PNG – 020-DE-PC Wolfgang Müller CC BY-SA 4.0
Bessere-Zeiten-Der-ORF-Beitrag-–-Reinhard-Jesionek-im-Gesprach-mit-Alexander-Todor-Kostic
Was-schenken-wir-unsere-Kindern-07-Unversehrtheit