Der Sündenbockmechanismus – Johanna Tschautscher im Gespräch

Gesellschaft

Im Podcast „René Girard: Der Sündenbockmechanismus“ sprechen die Psychotherapeutin Nadia Danneberg und die Regisseurin und Schriftstellerin Johanna Tschautscher über deren Film „Der lange Weg von der Gewalt zur Liebe“, der am 11. November in Zug in der Schweiz uraufgeführt wird.

Der Titel des Films basiert auf Erkenntnissen von Samuel Jakob, einem Schweizer Theologen und Psychologen. Er kennt den langen Weg von der Gewalt zur Liebe aus eigener Erfahrung. Er wurde zum Protagonisten des Filmes über René Girard. An Girard beeindruckt Johanna Tschautscher, dass er von Anfang an sehr stark seinen eigenen Weg gegangen ist, dass er in einer Frauenkultur aufgewachsen und nach Amerika ausgewandert ist und dort Historiker wurde. Dort wurde er gebeten, französische Literatur zu unterrichten und hat sich in diesem Zusammenhang mit der gesamten europäischen Literatur beschäftigt. Dabei entdeckte er seine Grundthese, das „mimetische Begehren“. Es geht darum, das Begehren eines anderen nachzuahmen. Wenn die Grundbedürfnisse gestillt sind, begehren wir das, was unsere Vorbilder begehren. Das ist ein natürlicher Vorgang. Wenn das Objekt dieses Begehrens aber einzigartig, kostbar und singulär ist, dann kommt es zu Rivalität. Diese im Menschen grundgelegte Eigenschaft ist auch der Ausgangspunkt des Sündenbockmechanismus.

Girards Rhetorik und Intellektualität sind für Tschautscher faszinierend. Es beeindruckt sie, wie sehr er bei der Sache bleibt. Später kam er als linker Intellektueller auch auf Gott. Er hat das Alte Testament als literarisches Werk gelesen und dabei „andere Geschichten“ entdeckt. Dabei stellte er sich die Frage, was uns die Autoren mit diesen Texten sagen wollen. Seine Verteidigung des Christentums ist für sie „unglaublich reizvoll und fantastisch“.

Liebe und Gewalt schließen einander nicht aus, Gewalt kommt auch aus tiefer Liebe. Aus mimetischen Krisen können wir nicht aussteigen: es gibt archaische Grundmuster, aus denen wir nicht rauskommen. Gewalt, die notwendigerweise unterdrückt wird, kommt an anderer Stelle wieder hervor. Die scheinbare Gewissheit, diese überwunden zu haben, ist eine Gefahr. Wir müssen uns bewusst sein, dass wir als Menschen gewaltbereite Wesen sind. Wie wir sie ausleben, hängt von Umständen und Vorbildern ab.

Für Johanna Tschautscher sind in diesem Zusammenhang auch die Medien wichtig. Es ist deren Aufgabe, die Bandbreite der Gesellschaft ins Bewusstsein zu rücken und diese darzustellen. Ein Nein zu Vorbildern ist wichtig: Bedenken dürfen und müssen geäußert werden. Der Journalist muss nicht beurteilen, was wahr ist; er muss aber so lange Fragen stellen, bis diese beantwortet sind. Der Bürger ist als mündig anzusehen, und trifft auf Basis dieser umfassenden Berichterstattung seine Entscheidungen. Nur das ist Medienarbeit, nur das ist Journalismus.

Wertvoll zu erkennen war für die Filmemacherin, dass Gesellschaften sich ihres Gewaltpotentials bewusst geworden sind und daraufhin den „Sündenbockmechanismus“ entwickelt haben, um diese Situation zu lösen. Der Schuldige wird ausgemacht, danach ausgegrenzt oder getötet. Auf diese Weise wird das Böse ausgerottet. Dieser Mechanismus wurde zu einem sakralen Akt; daraus entstanden Rituale und Mythen, daraus entstanden Religionen. Religion ist als Antwort auf das Gewaltpotential in den Gruppen zu sehen.

Im weiteren Gespräch werden unter anderem die Geschichte vom Sündenbock im Alten Testament, die Projektion als Abwehrmechanismus der Psyche, sich nicht mit dem beschäftigen zu müssen, was eine Schattenseite ist, Bullying, die Begriffe Opfer und Täter sowie die Schlussfolgerung, dass es besser ist, wenn alle gegen einen als alle gegen alle kämpfen, betrachtet.

Der Sündenbockmechanismus hat laut Girards These der Menschheit das Überleben gesichert; die Menschheit hätte sich sonst schon vernichtet. Der Gruppe ist es aber nicht bewusst, dass sie einen Sündenbock kreiert im Gegensatz zur sakralen Opferung, die in vollem Bewusstsein geschieht.

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