Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht oder: Wann beginnt Erziehung?

Lebenswelten

„Hoffentlich nie!“, ist meine Antwort, wenn mich frisch gebackenen Eltern fragen, wann denn ihr Baby alt genug für die ersten Erziehungsmaßnahmen wäre.

Ich bin nicht für antiautoritäre Erziehung, ganz und gar nicht, weil ich glaube, dass sich Menschen als von Grund auf soziale Wesen in einem gesellschaftlich vorgegebenen Rahmen wohler fühlen, innerhalb dessen sie sich einerseits orientieren, andererseits frei über ihre Handlungen entscheiden können. Ich denke, dass Eltern als vernunftbegabte Erwachsene dafür zuständig sind, dass sich ihr Kind seinen natürlichen Begabungen entsprechend entwickeln darf, dass sie weitsichtig genug sind, zu erkennen, wo es Unterstützung braucht und dass sie dort tatsächlich einschreiten, wo Gefahr in Verzug ist. Aber ich glaube auch, dass Erziehung – dieses aus meiner Sicht widerliche Wort ist mir eine Überwindung – der psychischen Entwicklung von Kindern nicht gut tut, ja sogar schadet.

In mir sträubt sich alles schon beim Klang des Wortes, dann kommen mir die Erinnerungen an die Verfilmung der „Heidi“-Bücher von Johanna Spyri in den Kopf, wie Fräulein Rottenmeier, diese indiskutable Person, Heidi straft und quält, weil sie den lebhaften Charakter des Schweizer Mädchens, das nichts Böses tut, sondern nur unbedarft seinem Wesen entsprechend agiert, brechen möchte, bis Heidi sich nicht mehr anders zu helfen weiß, als wegzulaufen.

Gott sei Dank ist es heute sehr selten, dass Kinder so lieblos, kalt und hart angepackt werden. Trotzdem meine ich, dass man Erziehung, also jene Art davon, die mit diesem negativen Beigeschmack behaftet ist, fast jeden Tag in der Öffentlichkeit wahrnehmen kann, wenn man Eltern im Umgang mit ihren Kindern beobachtet.

Dabei spreche ich hier nicht diese Art von Dressur an, wie bei Hunden, durch Belohnung und Bestrafung oder Manipulation mit Fragen, deren Sinnhaftigkeit man sehr anzweifeln kann, wie etwa: „Wie sagst Du, wenn Du etwas bekommen hast?“ Oder womöglich dem in vielen Familien noch immer vorherrschenden übergriffigen Darauf-Bestehen, dass ein Kind Tante, Opa oder sonstige Verwandten mit Küsschen oder Umarmen begrüßt, auch wenn es das nicht will.

Ich meine jene Erziehung, die da anfängt, wo Eltern meinen, dass sie ein ganz bestimmtes strenges Verhalten nach außen an den Tag legen sollten, unabhängig davon, ob die scheinbare Erwartung von anwesenden Verwandten, Bekannten oder fremden Leuten, die sich in Hörweite befinden, ausgeht. Das sind Schein-Ermahnungen, die Kinder bloßstellen und ihre Würde verletzen oder Schimpfen und Keppeln aus fadenscheinigen Gründen in Situationen, die nichts mehr ändern.

Wie etwa die Situation des umgeschütteten Getränks – ein Klassiker! Ein noch eher kleines Kind verschüttet unabsichtlich im Kaffeehaus oder im Restaurant sein Getränk. Wie oft erlebt man als Zuseher, dass die Eltern ruhig bleiben, sich beim Kellner entschuldigen und ein neues Glas Saft bestellen? Und wie oft aber wird das Kind im besten Fall gemaßregelt, im schlimmsten Fall aber erfolgt eine Schreitirade. Was bringt das? Fließt davon der Saft wieder zurück ins Glas?

Was möchten Erziehende mit Schimpfen bewirken?
Vermutlich, dass das Kind nächstes Mal besser aufpasst und das Glas nicht mehr umwirft. Leider funktioniert das aber nicht, denn das Kind ist noch viel zu jung, um bewusst darauf zu achten, wo das Glas steht, wie weit es von seinen Händen entfernt ist oder ob es zu nahe am Rand des Tisches steht. Seine räumlichen und körperlichen Wahrnehmungsfähigkeiten haben sich noch nicht fertig ausgebildet, es kann Distanzen nicht gut genug abschätzen. Wenn die Eltern nicht darauf achten, dass Gläser und Tassen weit genug vom Kind entfernt stehen, so ist es sehr wahrscheinlich, dass sich beim nächsten Restaurantbesuch ein ähnliches Missgeschick ereignet.

Was bewirken Erziehende wirklich mit Schimpfen?
Zuerst psychischen Schmerz, denn die Bezugsperson, die sein buchstäblicher Fels in der Brandung sein sollte, reagiert völlig anders als das Kind es in dieser Situation braucht. Nachdem es sich ohnehin schon wegen seines Versehens erschrocken hat, wäre kurzer Trost und die Versicherung, dass nichts Schlimmes passiert ist, das, was die Kinderseele stärkt. Die Kombination aus dem Schrecken und der heftigen Reaktion des Erwachsenen bringt die Amygdala, das Zentrum für Angst, das sich im limbischen System des menschlichen Gehirns befindet, in heftige Aktivität. Zusammen mit den entsprechenden Botenstoffen, die bei negativem Stress ausgeschüttet werden, verankert sich im Gehirn ein Unwohlsein im Zusammenhang mit dieser Situation. Das führt mit großer Sicherheit dazu, dass beim nächsten Mal in derselben Situation die Amygdala Angst meldet, wenn noch gar nichts passiert ist. Der Stress hemmt die Zusammenarbeit der beiden Großhirnhälften, infolgedessen funktioniert die räumliche und körperliche Wahrnehmung noch schlechter, das Kind wird nervös, somit ungeschickt und das nächste Saft-Malheur ist vorprogrammiert.

Seit Generationen sind Situationen wie diese ein familiäres Thema. Seit Generationen reagieren Eltern immer wieder unangemessen, weil sie es nicht besser wissen. Weil sie es von ihren Eltern so gelernt haben und nicht hinterfragen, was sie damit bewirken. Weil sie befürchten, jemand könnte denken, dass sie sich von ihren Kindern auf der Nase herumtanzen lassen. Weil man sie für schlechte Eltern halten könnte, wenn das Kind nicht brav und angepasst ist.

Ich bin davon überzeugt, dass die wenigsten Eltern absichtlich wissentlich etwas tun würden, was ihrem Kind schadet. Trotzdem tun es so viele jeden Tag aus Unwissenheit, aus Überlastung, aus einem falschen Verständnis für die Erwartungen der Gesellschaft.

Aber was braucht es dann?

Liebe!

Liebe in erster Linie, nämlich um die nötige Geduld und das Verständnis aufbringen zu können. Aber dann im zweiten Schritt ein viel umfassenderes Elternwissen als es derzeit in unserer Gesellschaft der Fall ist, um die Fähigkeiten der Kinder bzw. um die Ursache ihrer Un-fähigkeiten,

Während Eltern in neun Monaten Schwangerschaft alle paar Wochen laut Mutter-Kind-Pass vorgeschriebene körperliche Untersuchungen einhalten müssen – die Gott sei Dank ohnehin fast immer ohne Befund bleiben – kümmert es die Behörden leider wenig, wie die seelische und emotionale Entwicklung der Babys verläuft, denn verpflichtende Beratungen dazu sind amtlich nicht vorgesehen. Notfallstellen gibt es, die treten leider erst dann in Aktion, wenn das Schlimmste schon angerichtet wurde und die häusliche Situation Ausmaße annimmt, die nicht mehr bewältigbar sind.

Aus meiner Sicht wären regelmäßige, vorbereitende Informationsgespräche zum Umgang mit Babys und ihrer Entwicklung viel wichtiger als immer wieder Größe und Gewicht laut Schwangerschaftswoche nachzumessen (und wie in meinem eigenen Fall nach den Geburten festzustellen, dass die Ultraschallgeräte sich offenbar ohnehin deutlich vermessen haben).

Ich bin der Meinung, dass eine verpflichtende pädagogische und psychologische Vorbereitung auf die kindlichen Bedürfnisse noch vor der Geburt beginnend und die Kenntnis über Fähigkeiten im Laufe der Entwicklungsstufen die Eltern in ihrer eigenen Aufgabe einerseits stärken und andererseits beruhigen würde. Viele wären sicher dankbar für das Wissen, anstatt irgendwann Jahre später im Nachhinein möglicherweise einzusehen und zu verstehen, dass sie manches nicht dem Alter ihres Kindes angemessen gemacht und dem Kind daher zu viel zugemutet oder abverlangt haben, sondern dass sie durch ihr Verhalten Glaubenssätze, unter denen sie unbewusst selbst gelitten, unerkannt weitergegeben haben.

Wieso gibt es sehr strenge, sehr intensive pädagogische und psychologische Vorbereitung für Elternpaare, die sich für eine Adoption anmelden, während Eltern, die das Glück haben, dass ihnen die Grundvoraussetzungen der Natur kein Schnippchen durch die Familienplanung schlagen, erzieherisch einfach darauf los machen sollen, wie sie selbst gerade meinen.

Natürlich müssen Kinder, die zur Adoption freigegeben werden, ganz besondere Herausforderungen meistern. Natürlich werden Adoptiveltern auf Herz und Nieren geprüft! Aber ich plädiere dafür, dass alle Eltern, auch leibliche, im Rahmen der Geburtsvorbereitung verpflichtende Beratungstermine einhalten sollen, um nicht nur körperlich gut auf die kommenden Jahre vorbereitet zu werden. Ist es nicht leichter, ein Kind von Beginn an stark zu machen, als einen kaputt gemachten Jugendlichen oder Erwachsenen wieder zu heilen zu versuchen?

Bei entsprechender pränataler Vorbereitung würden sich Eltern nicht die Frage stellen, wann Erziehung beginnt. Sie würden wissen, dass sie bei allem, was im Zusammenhang mit der Entwicklung ihres Kindes steht, die Vorsilbe ändern müssen. Es geht nämlich nicht um ER-ziehung, sondern um BE-ziehung. Und das ab dem Tag, an dem Eltern sich des wachsenden Lebens bewusst sind.

Wie könnte man ein neues Leben besser willkommen heißen als mit Liebe?
Bedingungsloser Liebe. Aber auch Liebe zu sich selbst als Mutter oder Vater. Sie ist genauso wichtig, weil sie aus meiner Sicht die Basis der Beziehung bildet. Sie gibt nicht nur die Kraft in den rund zwanzig, mal intensiveren, mal weniger intensiven Jahren durchzuhalten, egal was kommt. Sie lässt Eltern ganz genau spüren, wo die eigene persönliche Grenze ist. Es ist ungesund, sowohl für Mutter, Vater als auch das Kind, wenn es diese Grenze überschreiten darf. Es gibt keinen Grund, warum Eltern sich von ihrem Kind etwas gefallen lassen sollten, was sie sich von jemand anderem nicht gefallen lassen würden. Wer meint seinem Kind zuliebe alles erdulden zu müssen, hat Beziehung falsch verstanden.

Wenn ein Kind eine Grenze in heftiger Weise überschritten hat, kann das Gefühl der Abwehr so stark sein, dass Erwachsene aufbrausend werden, das Bedürfnis haben, körperliche Distanz zwischen sich und das Kind zu bringen oder vielleicht auch weinen. Solche Reaktionen sind normal, wir sind alle Menschen. Manche sind temperamentvoller, manche sanfter, manche ungeduldiger, manche wiederum sehr gutmütig. Deshalb möchte ich hier nicht postulieren, dass Eltern nicht schimpfen dürfen. Doch, natürlich dürfen sie, aber eben dann, wenn es darum geht, sich abzugrenzen und dem Kind klarzumachen, dass es mit seinem Verhalten eine rote Linie überschritten hat, die nicht zugelassen wird. Es ist schöner, wenn die eigene Grenze auf eine ruhige, angemessene Art verteidigt wird, doch manchmal fehlt dazu die nötige Beherrschung. Vielleicht klappt es dann beim nächsten Mal besser.

​_Wer aber aus falsch verstandenen gesellschaftlichen Erwartungen Schein-Erziehung betreibt, ist nicht authentisch, sondern spielt dem Umfeld einen erziehenden Elternteil vor, der in den eigenen vier Wänden ganz anders mit dem Kind umginge. Meinen Respekt an alle, die sich anstatt für die von der Gesellschaft aufoktroyierte ER-ziehung bewusst für liebevolle BE-ziehung entscheiden, denn sie handeln in den meisten Fällen instinktiv richtig und berücksichtigt die Bedürfnisse der ganzen Familie. Kinder profitieren davon, weil sie sich an ihren Bezugspersonen gut orientieren können, gestärkt werden, wo sie Halt und Grenzen erfahren, wo sie einen Rahmen brauchen und sich in der dadurch geschaffenen Sicherheit optimal entwickeln können.

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PNG – 002-YOUTUBE Wolfgang Müller CC BY-SA 4.0